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[222] Als Brahms nach Wien kam, waren seine Kompositionen nur einer kleineren Gemeinde bekannt; das große Publikum kannte ihn bloß aus Schumanns prophetischer Empfehlung. Seine ersten Klavierstücke hatten mich durch ihre geniale Kühnheit und harmonische Kunst in hohem Grade interessiert – aber doch mehr interessiert als befriedigt. Ein junger Herkules am Scheideweg. Wird er sich links zur äußersten Romantik schlagen, zur grenzen- und fessellosen Musik, – oder rechts auf die Bahn unserer Klassiker? Er hat das Letztere gewählt, und nachdem er (1862) seine Händel-Variationen, sein G-moll-Klavierquartett, sein B-dur-Sextett uns vorgeführt, da gab es keinen Zweifel mehr, daß in Brahms nicht erst eine vielversprechende Genialität, sondern ein Meister im edelsten Sinn des Wortes uns geschenkt war. Ein Meister, welcher eigenartigen, modernen Inhalt in klassischer Form zu gestalten wußte. Nebenbei ein Klaviervirtuose in großem Stil, dessen männlicher, geistvoller Vortrag sich frei über einer riesigen Technik erhebt. Als wir abends sein B-dur-Sextett hörten, nachdem mittags Wagner verschiedene »Nibelungen«- und »Tristan«-Fragmente[222] aufgeführt hatte, da glaubten wir uns plötzlich in eine reine Welt der Schönheit versetzt, – es klang wie eine Erlösung. So verschieden wie ihre Musik, so ganz anders war auch das persönliche Auftreten der beiden Männer. Mit fast linkischer Bescheidenheit näherte sich Brahms dem Klavier oder dem Dirigentenpult: nur ungern und zaghaft folgte er dem stürmischen Hervorrufen und konnte gar nicht schnell genug wieder verschwinden, während Wagner jeden Anlaß benutzte zu seinen berühmten Anreden an das Publikum. Brahms sprach wenig und nie über sich selbst; es kostete ihn keine Überwindung, jedem Talent und redlichen Streben Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Unablässig unterstützte er mit Wort und Tat begabte junge Komponisten in ihren dornigen Anfängen. Oft hörte ich ihn eifrig für Wagner eintreten, wenn Borniertheit oder dummdreiste Überhebung sich in verächtlichen Schmähungen gegen jenen gefiel. Er kannte und anerkannte vollständig die glänzenden Seiten Wagners, während dieser nur geringschätzig von Brahms sprach, dessen Bedeutung darin bestehe, »keinen Effekt machen zu wollen«. Trotzdem ist es unrichtig, wenn jüngst ein Jubiläumsaufsatz Brahms als »Verehrer Wagners« bezeichnete. Wie wäre das auch möglich! Wann könnte gerade er ein Bedürfnis nach Wagnerscher Musik empfinden! Brahms, welcher seinem Studium nichts Bedeutendes entgehen läßt, kennt ganz genau die Wagnerschen Partituren; die Opern selbst dürfte er aber kaum mehr als einmal im Theater angehört haben. Zu einem Besuch der Bayreuther Festspiele war er niemals zu bewegen. Persönlich gab es zwischen Brahms und Wagner nur einen sehr kurzen, oberflächlichen Verkehr, der hauptsächlich damit zusammenhing, daß Wagner, durch Frau Cosima, einige Brahms gehörige Wagner-Autographe zurückverlangt hatte.

Als Brahms sich bleibend in Wien niederließ, kam ich bald in näheren freundschaftlichen Verkehr mit ihm. Derselbe besteht zu meiner Freude bis heute in gleicher Unbefangenheit. Wie Mendelssohn und Schumann, so hat auch Brahms nie ein Wort für sich selbst gesprochen, nie eine Feder für sich in Bewegung gesetzt. Er darf mit Recht sagen: »Ich besitze Ehrgefühl, aber weder Eitelkeit noch Ehrgeiz.« Das langsame Vordringen seiner Werke hat ihn nicht mutlos, seine jetzige unbestrittene Oberherrschaft nicht eitel oder hochmütig gemacht. Mit äußerster Strenge überwacht er jedes Wort, das nur entfernt als eine Beeinflussung zu[223] Gunsten der Verbreitung oder Aufnahme seiner Werke gedeutet werden könnte. Nie hat er mir über meine zahlreichen Brahms-Artikel ein Wort gesagt, obwohl es mich manchmal gefreut hätte, ihm Vergnügen gemacht zu haben. Um so freudiger überraschte mich eines Tages die Dedikation seiner reizenden Walzer zu vier Händen, op. 39. Ist doch Brahms bekanntlich äußerst sparsam mit Widmungen.

Ich halte Brahms für einen aufrichtigen Freund. Aber als eine anschmiegsame, hingebende, mitteilungsbedürftige Natur darf man sich ihn beileibe nicht denken. Während aus seiner Musik die glühende Phantasie, das tiefe innige Gefühl des Komponisten zu uns spricht, erkennen wir im persönlichen Umgang die Herrschaft des klaren, scharfen Verstandes, den bis zum Eigensinn unbeugsamen Willen als das bestimmende Element seines Wesens. Brahms ist ein fest auf sich selbst fußender Charakter, der, von Unzähligen verehrt und geliebt, mit vielen freundlich verkehrend, doch keinen nötig zu haben scheint für sein Herzensbedürfnis. Das Herbe, Zurückhaltende, manchmal abweisend Schroffe seiner nordischen Natur hat sich unter dem Blütenhauch der österreichischen Landschaft und Umgebung, in der Sonnenwärme von Glück und Ruhm sehr gemildert, aber doch nicht ganz verzogen. Kleine Rücksichtslosigkeiten, die ihm in guter oder schlimmer Laune passieren, nimmt keiner übel, der Brahms näher kennt. Erscheinen sie doch immer in humoristischem Gewande. Nicht schlecht erfunden ist die Anekdote, Brahms habe sich einmal nach einer Soirée mit den Worten empfohlen: »Ich bitte um Entschuldigung, falls ich heute niemand beleidigt haben sollte!« Die Unabhängigkeit und das Selbstgenügen seines Charakters zeigt sich auch darin, daß Brahms, keineswegs gefeit gegen den Zauber der Weiblichkeit, sich doch nirgends gefangen gab. Angelweit standen die schönsten goldenen Käfige geöffnet. Er aber mochte sich nicht fesseln lassen. »Mit dem Heiraten,« sagte er mir einmal, »geht's wie mit den Opern. Hätte ich schon einmal eine Oper komponiert und meinethalben durchfallen sehen, ich würde gewiß eine zweite schreiben. Zu einer ersten Oper und einer ersten Heirat kann ich mich aber nicht mehr entschließen.« Brahms, der nur schwer die kleinste Beschränkung seiner persönlichen Freiheit verträgt, wäre vielleicht nicht der glücklichste Ehemann geworden. Doch zuverlässig der zärtlichste Vater. Man muß ihn mit Kindern verkehren[224] sehen, um den sonst verborgenen Schatz von Gemüt und Kindlichkeit in ihm zu erkennen. Ich habe Brahms in seinen Sommerfrischen oft besucht: in Mürzzuschlag, in Thun und in Ischl. Da gab es kein kleines Kind, das dem stämmigen Weißbart mit den freundlichen blauen Augen nicht zulief, ihn nicht von weitem mit dem Händchen grüßte. Es war oft recht schwer, mit Brahms Schritt zu halten, da er jeden Augenblick stehenblieb, um ein Kind anzureden, zu necken, zu beschenken.

Erstaunlich ist seine Kenntnis der musikalischen Literatur. Heute ist's eine Kantate von Heinrich Schütz oder Bach, die vor ihm aufgeschlagen liegt, morgen eine Oper von Boieldieu oder Spontini, wieder einmal eine Haydnsche oder Mozartsche Symphonie, hierauf eine Suite von Dvořák oder Goldmark. Brahms kennt geradezu alles. Am wenigsten liegt ihm Opernmusik am Herzen. »Du weißt, ich verstehe nichts vom Theater«, pflegt er zu sagen, wenn er schon nach dem ersten Akt einer neuen Oper, die ich mit Interesse anhöre, Reißaus nimmt. Von den modernen Opern schätzt er vor allen »Carmen« und achtet Bizet als ein großes Talent. In der Bücherwelt ist er fast ebenso zu Hause. Seine Büchersammlung, so groß sie ist, enthält durchaus Werke, die er genau kennt. Was, außer den Schöpfungen der Poesie, die Lieblingslektüre Brahms' bildet, sind historische Werke. In Ischl fand ich ihn angelegentlich beschäftigt mit der Geschichte des neuen Deutschen Reichs von Sybel, mit der von Menzel illustrierten Geschichte Friedrichs des Großen, mit den historischen und kunstgeschichtlichen Abhandlungen Schacks. Er liest viel und schnell, mit demselben Adlerblick, der sein Partiturlesen auszeichnet. Nur von einer, jetzt so überreich vertretenen Sorte der Belletristik mag er nichts wissen: von der frivolen. Alles Unreine, Zweideutige, Laszive stößt ihn heftig ab, und in dieser Abneigung mag er wohl auch die Genrebildchen reizender Talente, wie Maupassants, mit dem übrigen »Mätressenkram«, wie er es nennt, zusammenwerfen.

Was mich an Brahms immer von neuem freut, ist nebst seinem gutem Humor seine wetterfeste Gesundheit. Er hat sechzig Jahre hinter sich, und er erinnert sich nicht der allerkleinsten Krankheit in seinem Leben. Er macht heute noch Fußreisen wie ein Student und schläft fest wie ein Kind. Österreich, seine zweite Heimat, hat auch auf seine Produktion den belebendsten Einfluß geübt. In Mürzzuschlag am Fuße des Semmering und in Ischl sind viele[225] seiner schönsten Kompositionen entstanden, deren erste Aufführung wir dann in Wien feierten. Freilich, nicht gleich nach deren Vollendung, oft zwei, drei Jahre später; denn Brahms übt die strengste Selbstkritik, und bewahrt seine Manuskripte lange im Pulte. Ich fürchte sogar nicht ohne Grund, daß dieses Pult manches Schöne verschließt, was Brahms überhaupt nicht herausgeben wird, weil er es unter seinen Ansprüchen findet.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 222-226.
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