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[237] Im Sommer 1866 besuchte ich die Wasserheilanstalt Wartenberg im nördlichen Böhmen, nicht eigentlich als Patient, sondern zur Stärkung und Erholung nach einem recht anstrengenden Winter. Bald nach meinem Eintreffen waren wir umringt von der preußischen[237] Armee, die mit Blitzesschnelle in Böhmen eingebrochen war. Wartenberg, unweit von Gitschin und Sadowa gelegen, befand sich in nächster Nähe des Kriegsschauplatzes. Bei meiner Abreise von Wien schwirrten bereits kriegerische Gerüchte durch die Luft, doch ahnte niemand, daß die Kugeln ihnen so bald nachschwirren würden. Eines Morgens hörten wir Kanonendonner; ein Teil der Badegesellschaft erstieg einen mäßigen Hügel und erblickte von da den Pulverdampf und das kurze Aufblitzen der Kanonenschüsse. Es währte nicht lange, und wir sahen einen Verwundeten nach Wartenberg tragen, dann einen zweiten, einen dritten. Unser Badearzt, Dr. Schlechta, ein tüchtiger ruhiger Mann, hatte beim Anrücken der Preußen sogleich die weiße Fahne auf dem Kurhaus aufpflanzen lassen; österreichische und preußische Verwundete wurden da mit gleicher Sorgfalt gepflegt. Einige genasen, die Mehrzahl erlag ihren Wunden. Da konnte man erfahren, wie gemeinsames Unglück alles vereint und ausgleicht, jeder Unterschied der Nationalität und Religion verschwindet. Heute ging die ganze Badegesellschaft hinter dem Sarge eines preußischen Offiziers, am nächsten Tage begleiteten wir die Leiche eines österreichischen nach dem kleinen hochgelegenen Friedhof. Der katholische Geistliche ging jedesmal mit und sprach sein Gebet an dem Grabe; man fragte gar nicht, welcher Religion der Tote angehört habe. Warum ist man nur im Unglück so gut und vernünftig, warum nicht jederzeit?

Die Schlacht bei Sadowa war geschlagen, die Österreicher besiegt. Welch tieftrauriger Anblick, schmerzlicher als alle Begräbnisse, zu sehen, wie die gefangene österreichische Infanterie die Landstraße entlang nach Norddeutschland marschierte! Wir Badegäste standen am Rain, die Gräfin Caroline Althann und ihre beiden Kinder hatten Körbe mit Brot und Würsten mitgenommen, welche sie an die hungerigen, gierig darnach greifenden Soldaten austeilten. Die Offiziere, ohne Degen, gingen gesenkten Blicks nebenher. Wie fühlt man in solchen Augenblicken neben der immer wachen menschlichen Teilnahme auch den Patriotismus mächtig erwachen, der ja mitunter eine längere Siesta pflegt! Bismarck und der Kronprinz Friedrich Wilhelm fuhren in offenem Wagen vorüber. Es war nur ein Augenblick, er lebt aber deutlich wie eine photographische Momentaufnahme in meiner Erinnerung. Über die preußischen Offiziere, die ab und zu nach Wartenberg kamen, hatten wir nicht zu klagen. Ein Prager Bekannter,[238] Graf Lanius, und ich führten mehrmals preußische Offiziere durch die Anlagen des schönen, waldumkränzten Kurortes auf einen Aussichtspunkt. Sie sprachen durchaus bescheiden, und einen andern Ausdruck als: »wir waren vom Glück begünstigt,« habe ich über ihre Siege nicht von ihnen gehört.

Unsere Situation ward trotzdem mit jedem Tag unleidlicher. Mit genialer Schnelligkeit hatten die Preußen den ganzen Verkehr in ihre starke Hand genommen. »Königlich preußische Eisenbahnstation«, »Königlich preußisches Postamt« lauteten die Aufschriften in unserer Station Turnau; Eisenbahnkondukteure, Kassiere, Postbeamte, alles Preußen. Niemand wurde aus dem Rayon heraus, niemand hereingelassen. Wir saßen in Wartenberg völlig abgeschlossen von der Welt; kein Brief, keine Zeitung gelangte zu uns. Nur gerüchtweise vernahmen wir die unglaubliche und doch längst wirkliche Tatsache: Prag sei in Händen der Preußen. Eines Morgens hielt ein Wägelchen vor unserem Kurhaus und darin der bekannte Prager Augenarzt Professor Josef von Hasner. Er hatte, eine dringende ärztliche Pflicht vorgebend, vom preußischen Kommandanten in Prag einen Passierschein nach Wartenberg erlangt, wo eben sein älterer Bruder, der nachmalige Ministerpräsiedent Leopold von Hasner weilte. Wir umringten seinen Wagen: »Haben Sie Prager Zeitungen mitgebracht? Geben Sie schnell die Zeitungen!« – »Ja,« erwidert Hasner, »daran habe ich in der Eile nicht gedacht. Ich habe in die letzten Zeitungen meine Stiefel eingepackt.« »Die Stiefel! Wo sind die Stiefel?« riefen wir und stürmten mit Hasner in sein Zimmer hinauf, packten die Stiefel aus, wickelten sie sorgfältig ab wie eine Mumie und verteilten gierig die in doppelter Schwärze glänzenden Hüllen. Hatten wir doch seit vierzehn Tagen – und welche vierzehn Tage! – nichts gehört von allem, was außerhalb Wartenberg sich zugetragen.

Immer brennender ward mein Verlangen, fortzukommen, nach Wien zurückzukehren, wo ich alle Freunde in Angst und Bedrängnis wußte. Das war aber nicht so leicht. Die Empfehlung, die ein preußischer Major, einer unserer Rekonvaleszenten, mir an den Stationskommandanten in Turnau mitgab, wurde nicht respektiert. – »Was haben Sie denn in Wien zu tun?« herrschte er mich an. – »In Wien? Ich habe gar nirgendwo anders was zu tun!« Er blieb bei seiner Weigerung. Ich fühlte, das sei ein Augenblick, wo man nicht viel fragen darf. In einem der Waggons – sie waren[239] alle nur für das Militär bestimmt – erblickte ich österreichische Uniformen; fünf bis sechs Regimentsärzte, welche gegen preußische Gefangene aus gewechselt und in die Heimat entlassen wurden. Weiße Waffenröcke, welche Augenweide! Rasch in das Coupé hinein, wo man mich gern willkommen hieß. Niemand kümmerte sich um den blinden Passagier, der ja auch aus einer Gefangenschaft nach Hause eilte. Der Zug führte uns langsam, langsam nur bis Pardubitz, wo wir spät abends anlangten. Wir schliefen alle in dem großen Tanzsaal eines Wirtshauses, ohne Licht, auf Stroh, in unsern Kleidern. Am andern Morgen ging das Geduldspiel unseres Zuges nur bis Brünn. Unmöglich, ein Zimmer dort zu erlangen; ich mußte mit einem Kämmerchen vorlieb nehmen, welches kein Fenster hatte, sondern durch eine Glastüre das Licht aus dem anstoßenden Speisesaal empfing. Dort tafelten preußische Offiziere bis nach Mitternacht. Zuvor verlockte mich noch der Theaterdämon. Ich sah die »Hugenotten« angezeigt und hörte zwei Akte; der einzige Zivilist unter lauter preußischen Uniformen. Früh eilte ich auf den Bahnhof. Wann ein Zug nach Wien abgehe? Das wisse man noch nicht; ich möge in zwei Stunden wieder nachfragen. Diese Wartezeit verbrachte ich in dem freundlichen »Augarten«, mit der Lektüre der »Confessions« von Rousseau. Am Bahnhof abermals dieselbe Antwort: Ganz ungewiß, der nächste Zug nach Wien! Wieder eine Stunde im Augarten, wieder einige Kapitel der »Confessions« und wieder zur Eisenbahn. Endlich konnte ich ein Plätzchen in einem Militärzug erobern. Wie atmete ich auf beim Anblick des Stephansturms! Gleichzeitig durfte Wien aufatmen: der Nikolsburger Waffenstillstand war abgeschlossen.

Wir alle hatten den Feldzug von 1866, den traurigen Bruderkrieg, redlich mitgemacht. Nicht durchgekämpft, aber durchgelitten. Es gibt Mißgeschicke, die tiefer treffen als eine Flintenkugel und Wunden, welche nicht schmerzloser sind, weil sie nach innen bluten. Auch das Herz hat seine Blessierten. Seit den letzten Atemzügen des Krieges hatte ich, hatte keiner von den Freunden an Musik gedacht. »Rast dieses Volk, daß es dem Mord Musik macht?« riefen wir unwillkürlich, wenn wieder eine Polka oder Opernarie aus offenem Fenster lärmte. Die Ruhe des Waffenstillstandes, endlich das Trostgefühl des Friedens legte sich besänftigend wie eine linde Hand auf den brennenden Kopf, auf das tobende Herz.[240]

Die Wiener hatten sich schrecklich geängstigt vor der Plünderung. Furcht, die sich nachträglich als grundlos herausstellt, bleibt selten ohne einen komischen Beigeschmack, und so mußte ich denn über die verschiedenen scharfsinnigen Verstecke lachen, worin meine Bekannten aus Angst vor feindlicher Plünderung ihre Kostbarkeiten geborgen hatten. Bei Eduard Schön (Engelsberg) war die Furcht gar musikalisch geworden: er hatte seine Wertpapiere im Klavier versteckt. Das, meinte er, wird kein preußischer Soldat aufmachen!

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 237-241.
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