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[247] Die Pariser Ausstellung vom Jahre 1867, aus dem Gesichtspunkt einer fast idealen Vielseitigkeit konzipiert, unterschied sich von ihren Vorgängerinnen und Nachfolgerinnen dadurch, daß sie nicht bloß industrielle und landwirtschaftliche, sondern zugleich künstlerische Ziele verfolgte. In Bezug auf Musik glich sie weniger einer Industrieausstellung, als vielmehr einem großartigen Turnier, das die musikalische Kunst aller Nationen zu lebendigem Wettstreit in die Schranken rief. Der Erlaß des Staatsministers Rouher vom 18. August 1866 hatte festgesetzt, daß die Musik sich an der Ausstellung dreifach zu beteiligen habe: aus dem Gesichtspunkt der Komposition, der Exekution und des historischen Interesses. Demgemäß wurden drei große Komitees gebildet, deren erstes eine Preisausschreibung für die beste Komposition einer Ausstellungskantate und einer Friedenshymne veranlaßte, während das zweite drei Serien musikalischer Aufführungen organisierte (1. große Konzerte; 2. Preissingen der Gesangvereine; 3. Konkurrenzproduktionen von Zivil- und Militärorchestern); das dritte endlich beriet über eine Reihe von historischen Konzerten. Für alle diese Produktionen hatte die Regierung ein großes Budget bewilligt und eine bedeutende Anzahl von goldenen, silbernen und Bronzemedaillen nebst Geldpreisen zur Verteilung ausgesetzt. Die Resultate dieser großartigen Unternehmung waren in ihren drei Hauptteilen verschieden. Der künstlerische Gewinn der ersten Sektion, des Komponistenwettkampfes, war so gut wie Null. Die dritte Sektion kam gar nicht zur Aktion, da die beabsichtigten »zwölf historischen Konzerte« an der Kostenfrage scheiterten und gänzlich unterblieben. Einen erfreulichen Erfolg erzielte nur das zweite Komitee »de l'exécution musicale« mit seinen Wettkämpfen der Gesangvereine, Fanfaren, Harmoniemusiken und Militärkapellen.

Am interessantesten erschienen mir die Wettkämpfe der französischen Gesangvereine und Harmoniemusiken.

Obwohl die Männergesangvereine verhältnismäßig spät nach deutschem Muster dort nachgebildet worden, besaß doch Frankreich im Jahre 1867 schon die enorme Zahl von 3243 Gesangvereinen (»Orphéons«). Gegen dreihundert solcher Orphéons beteiligten sich an dem Preissingen und dem Monstregesangsfeste der Pariser Weltausstellung. Als musikalische Prüfungssäle[248] benützten wir die verschiedenen Palmen- und Orchideenhäuser im Jardin réservé des Ausstellungsparkes – gewiß ein duftiges poetisches Lokal. Da produzierten sich nacheinander die zahlreich herbeigeströmten Gesangvereine. Die zu diesem Zwecke sehr verstärkte Jury hatte sich in sechs Komitees geteilt, deren jedes ein Glashaus in Beschlag nahm, sich unter Palmen an einem Tischchen niederließ und dort sein bestimmtes Pensum von zwanzig bis fünfundzwanzig Vereinen abhörte. Zusammen, in einen massenhaften Chor vereinigt, hatten wir diese dreihundert französischen Vereine schon tags zuvor gehört, allerdings unter entsetzlichen akustischen Verhältnissen. Das »Festival« (ein aus dem Englischen ohne Not und Geschmack entlehntes Wort) fand nämlich in dem immensen Industriepalaste der elysäischen Felder statt, welcher der stärksten Musikbesetzung Hohn spricht. Der Saal mit seinen viertausend bis fünftausend Gästen sah geradezu leer aus und spottete der Anstrengung von sechstausend Sängern. Doch war der Anblick der letzteren interessant genug. Was dem Fremden zunächst auffiel, ist der durchaus demokratische Charakter dieses Monstrechors. Kein schwarzer Frack, keine weiße Halsbinde wie bei unserem eleganten »Männergesangverein«, das einfachste Handwerkergewand, Blusen, Mützen, ärmliche Sonntagsjacken; dazwischen einige Matrosen aus den Hafenstädten und einige hundert Soldaten. Da die Sänger nicht nach Vereinen, sondern nach den Stimmgattungen gereiht waren (alle ersten Tenore zusammen, alle ersten Bässe usw.), so schimmerten auch die roten Hosen und Epaulettes allerwärts zwischen den Arbeiterblusen und Bratenröcken durch, und es war ein hübsches soziales Bild, wie Krieg und Frieden einträchtig, mitunter aus einem Notenblatte, zusammen sangen. Vierzehn verschiedene Regimentsgesangschulen wirkten bei dem Musikfeste mit; die französische Armee zählte deren bereits siebzig, und die allgemeine Einführung des Chorgesanges bei dem ganzen Heere steht bevor.

Die französischen Gesangvereine rekrutieren sich (in Paris fast ausschließlich, in der Provinz größtenteils) aus den arbeitenden Klassen; bei uns bestehen sie überwiegend aus musikalisch geschulten Dilettanten des gebildeten Mittelstandes. Daraus erklärt sich der ungleich höhere künstlerische Wert der deutschen Gesangvereine, sowie die weit größere soziale Wichtigkeit der französischen. Diese Pariser Arbeiter singen oft herzlich schlecht,[249] aber die regelmäßige Übung des Gesanges, die liebevolle Beschäftigung mit der Musik haucht unfehlbar ein Element der Veredlung und Verfeinerung in ihr Leben und vermittelt ihnen zugleich ein wohltuendes Bewußtsein des Zusammengehörens und der Wechselseitigkeit. Denn die Mitglieder eines Sängerbundes betrachten einander als Brüder, und der letzte dieser Vereine will seine Fahne respektiert wissen. Die Regierung hat an der Gründung dieser Gesangvereine und Gesangschulen ein außerordentliches Verdienst. Wir können ganz absehen von der politischen Klugheit, die hier mitspielt: ist es doch immer besser, eine Regierung patronisiert die Gesangvereine, als sie verdächtigt oder verbietet dieselben, wie wir dies bei uns erlebt. Tausende von diesen singenden Handwerkern kennen nicht eine Note; sie werden nach der Methode von Wilhelm oder von Chevé unterrichtet, welche die Noten durch Zahlen oder Figuren ersetzt. Ja, es gibt einzelne Vereine, in welchen die Sänger nur nach dem Klange einer Violine ihren Part lernen und sich einprägen. Solche Genossenschaft muß man eben nicht auf ihre künstlerischen, sondern auf ihre sozialen Früchte ansehen. Und dafür wird den Orphéons aufrichtig zu danken sein, daß sie ihre bescheidene musikalische Kultur wenigstens in die tiefsten und entferntesten Schichten leiten. Das französische Volk besitzt von Haus aus wenig musikalische Anlage, es hat ein schlechtes Gehör und wenig Empfänglichkeit für die sinnliche Schönheit des Tones. Als Sänger leistet der Franzose nur dann Bedeutendes, wenn das dramatische Element hinzutritt, – auf der Bühne.

Wer, von Musik- und Musikvereinspassion beseelt, nicht Stimme genug zum Sänger besitzt, hat doch meistens hinreichenden Atem, um die Klarinette oder Trompete zu blasen. Aufgrund dieser trostreichen Wahrnehmung entstanden wohl all die kleineren und größeren Harmoniemusikvereine, welche ganz Frankreich überfluten. Vollkommene Seitenstücke zu den hier geschilderten Männergesang-Vereinen, könnten sie schlechtweg als blasende »Orphéons« bezeichnet werden. Jede Stadt und jedes Städtchen in Frankreich hat ihre vollständige »Musique d'harmonie« oder wenigstens ihre »Fanfare«, so heißt die kleinere, bloß aus Blechinstrumenten bestehende Zusammensetzung. Sie rekrutieren sich im allgemeinen aus denselben sozialen Schichten wie die Orphéons: aus Handwerkern, Kaufleuten, kleinen Gemeindebeamten usw.; nur greifen diese blasenden Genossenschaften etwas[250] tiefer und etwas höher in die Altersklassen; man sieht da zwölf- bis fünfzehnjährige Knaben (wahre Schusterjungen Apollos) neben alten Knasterbärten. Unter letzteren bilden ausgediente Soldaten ein neues charakteristisches Element – ein sehr wichtiges obendrein, denn solche Veteranen einer Regimentskapelle werden, sobald sie in ihrem Heimatstädtchen sich zur Ruhe setzen, meistens Gründer oder Grundfesten einer Zivilharmoniemusik. Dieser gegenüber fühlen sich die Orphéons als die individuellere, feinere, wohl auch vornehmere Kunstblüte. Der Regierung wie den Gemeinden sind aber die Blasenden wie die Singenden »gleich liebe Kinder«. Nicht jedes Städtchen kann einer Regimentsmusik teilhaftig, noch weniger ohne den »Propheten«-Marsch und die »Tell«-Ouvertüre selig werden. So werden denn die Fanfaren des Ortes durch Munizipalbeiträge und freiwillige Sammlungen nach Möglichkeit unterstützt. Die Regierung sorgt für regelmäßige Preiskonkurse in den Arrondissements und Departements; die dabei errungenen Medaillen reihen jeden Verein in eine höhere oder tiefere »Division«. Diese Bruderschaften bleiben entweder im bürgerlichen Zivilrock oder sie reihen sich der Nationalgarde, den Sappeurs und Pompiers ihres Ortes ein und dürfen in Uniform ausrücken. Zu dem Wettkampf nach Paris waren natürlich nur die besten und stärksten Vereine aus der Provinz erschienen: Fanfaren von vierzig bis sechzig, Harmoniemusiken von sechzig bis neunzig Mann und darüber. Was die künstlerische Bedeutung dieser Vereine betrifft, so steht sie, wie die der Orphéons, erst in zweiter Reihe neben ihrer geselligen. Nur die allerbesten der französischen Harmoniegesellschaften leisten musikalisch Tadelloses oder gar Vorzügliches; aber auch die geringste von ihnen darf sich rühmen, einige Seelen dem Trunke und Kartenspiel entzogen zu haben. Für die Männer der Arbeit hat selbst ein derber Verkehr mit der Kunst etwas Befreiendes, Veredelndes; der Ehrgeiz, einem musikalischen Vereine anzugehören, gibt noch einen weiteren Ruck nach oben.

Während die Teilnahme des Publikums an diesen Produktionen der französischen Sänger- und Bläservereine eine ziemlich mäßige war, fand der wahrhaft internationale Wettkampf der Militärmusiken im Industriepalast unter dem enormsten Andrang statt. Neun Staaten hatten sich daran beteiligt: Österreich, Preußen, Rußland, Frankreich, Spanien, Belgien, Holland, Bayern und Baden. Jede der Militärkapellen hatte zwei Stücke[251] vorzutragen: die »Oberon«-Ouvertüre (als »Morceau imposé«) und eine Komposition nach eigener Wahl. Es war ein ermüdendes Stück Arbeit, in dem von wenigstens dreiundzwanzigtausend Menschen erfüllten heißen Saal von ein Uhr bis gegen sieben Uhr mit Aufmerksamkeit zwanzig Militärmusik-Produktionen anzuhören. Meine Lieblingsouvertüre, »Oberon«, wurde mir bei dieser Gelegenheit so verleidet, daß ich ihr für mehrere Jahre aus dem Wege gehen mußte. Aber alle Mühsal wurde reichlich aufgewogen durch den glänzenden Erfolg unserer Österreicher. Nie habe ich mit solcher Stärke die Macht des Heimatsgefühls, welches zu Hause so häufig einschlummert oder kritisch ins Gegenteil überschlägt, an mir erfahren, als in dem Augenblicke, wo unmittelbar nach der bewunderungswürdigen Produktion der Preußen sich unsere weißen Waffenröcke im Halbkreis aufstellten. Die Preußen hatten einen Applaus geerntet, der nicht zu überbieten schien; aber nach der Musik der Österreicher dröhnte der Saal wie im Orkan, alles schrie und schwenkte die Hüte und wehte mit den Tüchern. Nur einen ernsthaften Rivalen hatten wir noch zu überstehen, die Pariser Garde, welche, im Besitz trefflicher Virtuosen und neuer Saxscher Instrumente, mit der Präzision eines Uhrwerks, wetteiferte. Es war in der Tat nicht leicht, zwischen diesen drei Leistungen zu entscheiden, und so einigten wir uns rasch in dem Entschluß, statt eines ersten Preises deren drei von gleichem Wert an Österreich, Preußen und Frankreich zu verteilen.

Gewiß bildeten diese musikalischen Wettkämpfe ein glänzendes, großartiges Schauspiel. Die Vorbereitung derselben, die gleichzeitige Unterbringung von soviel tausend Sängern und Musikern, die Organisation ihrer Proben, ihrer Einzelproduktionen, ihrer gemeinsamen Monstrekonzerte, dies alles verdiente die höchste Bewunderung. Schwerlich wird eine Nation übertreffen können, was die Franzosen 1867 geleistet haben. Aber die Sache war teuer erkauft. Von den großen materiellen Opfern gar nicht zu sprechen, war es ein unausweichlicher schwerer Nachteil dieser musikalischen Konkurse, daß sie alle namhaften und tüchtigen Komponisten, Dirigenten und Musikgelehrten von Paris für den Dienst der Jury und der Komitees pressen mußten, so daß diese Männer durch viele Monate ihrem Berufe, ihrer Kunst entzogen und in dem aufreibendsten Preisrichteramt abgenützt wurden. Ich nenne bloß: Auber, Berlioz, Gounod, Felicien David,[252] Délibes, Massenet, Gevaert, Kastner, Victor Massé, Saint-Saëns, Bizet, Semet, Maillart, Pasdeloup, Georges Hainl u.a. Und diese bis zur völligen Erschöpfung führende Arbeit der intelligentesten und talentvollsten Männer Frankreichs diente im Grunde doch zumeist der Eitelkeit. Von einer gründlichen Beurteilung und Abwägung der einzelnen Leistungen kann ja bei solcher Massenhaftigkeit der Konkurrenz kaum die Rede sein; wir häuften Medaillen auf Medaillen, um nur möglichst wenig Unzufriedene zu machen, und trotzdem ging es ohne diesen Mißklang nicht ab. Noch höre ich das zornige »Refusé!« einiger Gesangvereine, welchen in der feierlichen Preisverteilung eine silberne Medaille zugesprochen wurde, während sie auf die goldene gehofft hatten. Und die Moral des Ganzen? Es war die hier zum erstenmale gemachte und später reichlich bekräftigte Erfahrung, daß für selbständige, rein künstlerische Wirksamkeit der Tonkunst eine Weltausstellung nicht die Zeit noch der Ort sei.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 247-253.
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