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[385] Die drei Schwestern Fröhlich, worunter Kathi, die »ewige Braut« Grillparzers, haben ihr ziemlich bedeutendes Vermögen zu einer Stiftung verwendet, aus welcher Stipendien für talentvolle junge Künstler und Pensionen für verdiente ältere Schriftsteller und Künstler verteilt werden. Diese höchst wohltätige »Schwestern-Fröhlich-Stiftung« wird unter dem Vorsitz des jedesmaligen Wiener Bürgermeisters von einem Kuratorium verwaltet, das gegenwärtig aus dem Geheimrat Joseph Unger, dem Professor Robert[385] Zimmermann, dem Galeriedirektor Engerth und mir besteht. Nach einer unserer Sitzungen im Herbst 1890 teilte mir der Bürgermeister Dr. Prix die Absicht mit, zur hundertsten Wiederkehr von Mozarts Todestag (1891) eine Ausstellung von musikalischen Instrumenten, Autographen, Drucken und Porträts zu veranstalten. Je tiefer wir, und andere nach uns, in das Detail des Planes eindrangen, desto mächtiger wuchs der Rahmen desselben in die Höhe und Breite. Die geistvolle und energische Fürstin Metternich interessierte sich am lebhaftesten und werktätigsten dafür. Warum nur die Geschichte der Musik illustrieren und nicht auch die Entwicklung des Theaters? Und warum über eine österreichische Musik- und Theaterausstellung nicht hinausgreifen zu einer internationalen? So trieb in dem genialen Frauenkopf der Urgedanke immer neue Äste und Zweige, bis in unbegreiflich kurzer Zeit eine in ihrer Art ganz einzige Ausstellung fertig dastand; in ihrer Grundidee und Gestaltung ohne Vorgänger oder Rivalen. Die letzten Pariser Weltausstellungen hatten der »Histoire du travail« – oder wie wir's 1873 in Wien nannten, der »Additionellen Ausstellung« – einige Pavillons oder Galerien eingeräumt, aber darin bildeten Musik- und Theatergeschichte nur eine höchst dürftige Unterabteilung, eine amüsante Beigabe zur Hauptsache: der Industrie-Ausstellung. Zum erstenmal bekamen wir jetzt eine ausschließlich musikalisch-theatralische Exposition, welche gerade durch diese Beschränkung ihren Zweck in außerordentlicher Vollständigkeit und wissenschaftlicher Gruppierung zu erreichen vermochte. Sie wurde im Prater anfangs Mai 1892 eröffnet und gewährte einen imposanten Anblick. In der großen Rotunde erschien die Geschichte der Tonkunst und des Theaters aller Nationen und Zeiten durch einen fast unübersehbaren Reichtum von Musikinstrumenten, Handschriften, Drucken, Abbildungen und Porträts dargestellt – ebenso lehrreich für den Fachmann, wie interessant für jeden Gebildeten. Gegenwärtig interessiert sich ja doch für Geschichte der Musik, wer immer als Künstler oder Liebhaber Musik treibt – und Musik treibt heutzutage so ziemlich jedermann. Mit Recht hatte man außerdem das Beispiel der Franzosen benützt und gewährte auch der lebendigen Musik durch eine fortlaufende Reihe von Konzerten und Opernvorstellungen reiche Entfaltung. Ein nettes, geräumiges Theater erhob sich im Park. Nationale Opern und Komödien wurden da von Franzosen, Italienern, Polen, Ungarn, Tschechen[386] gespielt. Von hier aus gewannen sich Smetanas früher nur in Prag bekannte Opern »Die verkaufte Braut« und »Der Kuß« das europäische Publikum. Das lebhafteste Interesse erregten aber die italienischen Opernvorstellungen. Der Mailänder Verleger Sonzogno, Millionär an Geld und Unternehmungsgeist, brachte nicht bloß eine gute Sängergesellschaft (die geniale Gemma Bellincioni an der Spitze) nach Wien, sondern zugleich ein Halbdutzend neuer Opern mit den dazu gehörigen Komponisten in natura.

Endlich sollten die Wiener den jungen Mascagni von Angesicht zu sehen bekommen! Seine »Cavalleria rusticana« hatte es in kurzer Zeit zur hundertsten Aufführung im Hofoperntheater gebracht, und das leidige »Intermezzo« behauptete bereits den Rang einer Landplage. Nun ward uns obendrein der Kultus der Persönlichkeit. Noch niemals ist auf deutschem Boden ein durch eine einzige kleine Oper bekannt gewordener junger Komponist mit einem solchen Huldigungstaumel gefeiert worden wie Mascagni in diesen Wiener Septembertagen. Die Neugierde des Publikums verfolgte ihn auf der Straße und lauerte ihm nach dem Theater auf. Als der Unvorsichtige während eines Zwischenakts mich im Park sprechen wollte, bildete sich sofort ein ungeniert zuhörender dichter Kreis von Neugierigen um uns und machte der Konversation ein rasches Ende. Wien hat die berühmtesten Tondichter aller Nationen in seinen Mauern beherbergt – aber wenn ein englischer Admiral in roter Uniform und hohem Federhut eine neu entdeckte Südsee-Insel betritt, er kann von den Eingeborenen nicht mehr angestaunt werden, als es Mascagni von den Wienern geschah. Wer den aufrichtig bescheidenen, an dem ganzen Spektakel ganz schuldlosen jungen Mann nicht kennt, der mochte vielleicht einige Voreingenommenheit gegen ihn empfinden. Diese Ovationen waren jedoch weniger von der künstlerischen Seite, als von der rein menschlichen, gemütlichen zu beurteilen. Die Leute, die, Mascagni umdrängend, sich an seinem sanften, bartlosen Gesicht nicht satt sehen konnten, glichen sie etwa fanatischen Musikliebhabern? Sahen sie nicht vielmehr aus wie lauter zutunliche, herzlich mitfühlende Gratulanten? Es wird uns ja so selten das Glück, einen ganz Glücklichen zu sehen; gar einen jungen Komponisten, den gleich sein erster Bühnenversuch plötzlich aus Not und Kümmernis ins volle Sonnenlicht hinaufträgt! Es ist etwas Herrliches um den Ruhm; so recht süß schmeckt er aber doch nur in der Jugend. Die prächtigste Morgenröte[387] ist nicht so köstlich wie die ersten Strahlen des Ruhmes. Während der alte Voltaire versicherte, er gäbe seinen ganzen Ruhm gerne dahin für einen guten Magen, besitzt der glücklichere Mascagni die beiden kostbaren Dinge zugleich. Und ein drittes obendrein, das ihn erst wahrhaft zum Glücklichen stempelt: persönliche Anmut und Liebenswürdigkeit. Damit gewinnt er alle Herzen. Indessen ist es keine Kleinigkeit, immer liebenswürdig oder auch nur höflich zu bleiben, wenn man von früh bis abend beäugelt, bedrängt und angewundert wird. Eine Berühmtheit dieser Art erfordert viel Geduld. Börne sagte einmal gelegentlich eines Familien-Rührstückes, »er möchte lieber eine blinde Maus sein als so ein Jubelgreis«. Auch ein Jubeljüngling wie unser Mascagni ist nicht immer zu beneiden. Mißgönne ihm keiner das seltene Glück; es hängt viel Plage daran und auch manche Gefahr.

Gerne folgte ich Mascagnis Einladung zu einem kleinen Diner in seinem Hotel. Eigentlich war Sonzogno der Gastgeber; er wollte mich auch mit »seinen« andern Komponisten bekannt machen. Was mir beim Eintritt in Mascagnis Zimmer sofort auffiel, war der Haufen von Briefen, die den ganzen Tisch bedeckten; augenscheinlich alle uneröffnet. »Es ist mir nicht möglich in zwei bis drei Tagen zu erledigen, was an einem einzigen Vormittag einläuft. Lauter Bitten um Photographien und Autographe – mitunter auch um Geld. Das Meiste wird wohl uneröffnet liegen bleiben«. Mascagni war mit einer bequemen Bluse von rotem Wollstoffe bekleidet und sah einem artigen Teufelchen ähnlich. Erst als wir zu Tische gingen, zog er einen schwarzen Salonrock an. Signor Sonzogno, der Urheber der Preisausschreibung, welche das Glück Mascagnis begründete, ist ein finsterblickendes, erdfahles Männchen mit einen klugen Bank- und Börsengesicht. Daß er mit Musik zu tun habe, dürfte ihm niemand ansehen. Mir gegenüber saß ein stattlicher, starker Mann, wohlgenährt, mit einem nach aufwärts gedrehten, dicken Regimentstrompeter-Schnurrbart. Er war damals noch ein Unbekannter, jetzt ist er ein Rivale Mascagnis und gefeiert soweit die deutsche und italienische Zunge klingt: Leoncavallo, der Komponist der »Pagliacci«. Neben ihm ein kleiner, schüchtern bescheidener Herr: Maestro Mugnone, von dem auch eine kleine Oper »Il Birichino« auf dem Ausstellungstheater erschien. Wenn ich nicht irre, so waren auch die Komponisten von »La Tilda« (Maestro Cilea) und von »Mala vita« (Maestro Giordano) von der Gesellschaft. Mascagni stand ungefähr[388] in der Hälfte des Diners auf und bat verdrießlich und verlegen allerseits um Erlaubnis, seinen Rock wechseln zu dürfen, es sei ihm zu ungemütlich in dem knappen Kleide. Er geht ins Nebenzimmer und kehrt mit einem strahlend vergnügten Gesichtsausdruck zurück – wie früher als Teufelchen in rotem Wollhemd. Wir freuten uns, ihn wieder wohlauf zu sehen. Nach Tische äußerte ich meine Neugierde, etwas aus der noch unveröffentlichten Oper »Die Rantzau« zu hören. Mit größter Bereitwilligkeit ging Mascagni ans Klavier und sang und spielte uns – »nicht Etwas«, sondern die ganze Oper vom Anfang bis zum Ende vor; die beiden ersten Akte aus den Korrekturbogen, den letzten ganz auswendig, ohne auch nur bei einem Worte, einem Tone zu stocken. Er sang sich mit seiner jugendlich kreischenden Komponistenstimme in solches Feuer hinein, daß er die Ströme von Schweiß kaum bemerkte, die über sein Gesicht flossen. Hatte das Klavier ein oder zwei Takte Pausen, so agierte Mascagni zu seinem Gesang wie auf der Bühne. Wer mit solchem Enthusiasmus seine Oper in einem großen Zuge vorsingt, ohne die Hörer mit Erläuterungen oder Nebendingen aufzuhalten, der lebt voll und glücklich in seiner Kunst, der ist kein Grübler – diesen individuellen Eindruck nahm ich fort aus dieser merkwürdigen Produktion. Seither ist auch diese dritte Oper Mascagnis – »Cavalleria« und »Freund Fritz« waren schon früher bekannt – in Wien zur Aufführung gelangt.

Einer ganz andern poetischen Sphäre gehört eine vierte Oper Mascagnis an – nach ihrer Entstehungszeit eigentlich seine erste – »William Ratcliff«. Diese Jugenddichtung Heines, ein Nachtstück von verwegenster Romantik, hatte den jungen Mascagni schon vor Jahren zur Komposition gereizt. Jetzt war er eben mit einer Überarbeitung der Partitur beschäftigt. »Hier haben Sie das Textbuch!« ruft er und reicht mir ein in Mailand gedrucktes Buch: »Guglielmo Ratcliff. Tragedia di Enrico Heine; Traduzione di Andrea Maffei«. – »Das ist ja kein Textbuch«, bemerkte ich, »sondern eine vollständige, getreue, metrische Übersetzung des deutschen Originals!« – »Ich habe es so komponiert, wie es dasteht«, versicherte Mascagni. Ein merkwürdiger Fall, den Heine sich gewiß nicht hätte träumen lassen. Mascagni hat nichts hinzugetan, nichts weggelassen; nur die Einteilung der (bei Heine einaktigen) Tragödie in vier Akte entsprechend dem viermaligen Szenenwechsel ist von ihm. Mit Mascagnis Musik darf die wunderliche[389] Heinesche Tragödie wohl auf einen bessern Erfolg hoffen als bei jener Aufführung im Teatro Manzoni, deren Andrea Maffei in seinem Vorwort so betrübt gedenkt.

Nach der »Cavalleria« und »Amico Fritz« bekamen wir in dem kleinen Ausstellungstheater rasch nacheinander die vier allerneuesten italienischen Opern zu hören. Es war höchst anregend und belehrend, das junge Italien so hübsch beisammen zu haben. Bei allen zeigt sich der Einfluß Mascagnis nicht bloß in zahlreichen musikalischen Einzelzügen, sondern hauptsächlich in dem autonomen Vorherrschen des dramatischen Akzents. Die Annäherung beginnt natürlich gleich beim Textbuch. Die tragische Dorfgeschichte als Operngenre, so neu und erfolgreich in der »Cavalleria«, reizte unwiderstehlich zur Nachahmung; ihr heißer Atem durchdringt mehr oder minder jede der vier neuen Opern. Auch die »Pagliacci« von Leoncavallo sind eine Dorftragödie von gewaltiger elektrischer Spannung, die sich in zwei Mordtaten aus Liebe und Eifersucht entladet. »Il Birichino« (der Straßenjunge) von Mugnone endet nicht so schauerlich – die unglückliche Familiengeschichte lamentiert sich nämlich zu einem »glücklichen Ausgang« durch –, aber die Exposition, der Selbstmordversuch der Mutter ist schlimm genug und alles weitere eitel Familienjammer, wie aus Kotzebues weinerlichster Periode. Auf den Bajazzo und den Gassenbuben folgt die Straßensängerin »La Tilda« von Cilea, eine mordlustige und schließlich selbst gemordete Furie. Den Zug beschließt in Giordanos »Mala vita« die Dirne Cristina, die in einem Knäuel von Gemeinheit unter dem Druck eigenen und fremden Lasters zusammenbricht. Also, soweit wir nur blicken, Unglück aller Art, Verbrechen, Selbstmord und Totschlag. Das göttliche Lachen, das einst aus der italienischen Opera buffa über ganz Europa schallte, es ist verstummt, vielleicht für immer verstummt. Nachdem die Oper in Deutschland und Frankreich gesunde Heiterkeit nicht mehr kennt – auch die herzoglich Koburgsche Preisausschreibung hat fast lauter komprimierte Meuchelmordmusik hervorgerufen –, stand unsere letzte Hoffnung auf Italien, insbesondere auf Neapel, einst die unerschöpfliche Goldgrube musikalischen Witzes und Frohsinns. Merkwürdigerweise sind die genannten vier jungen Komponisten sämtlich Neapolitaner und im Konservatorium von Neapel gebildet. Einer von ihnen, so dachte ich, wird uns vielleicht mit einer komischen Oper überraschen, schon seiner Vaterstadt[390] zu Ehren, welche zu Ende des vorigen Jahrhunderts gleichzeitig die drei größten Meister der Opera buffa besaß: Piccini, Cimarosa und Paisiello. Von ihnen ging die Herrschaft auf Rossini und Donizetti über, welche ganz Europa versorgt haben mit den köstlichsten musikalischen Lustspielen und Possen. Für Bellinis sentimentale und für Verdis eminent pathetische Natur existierte keine Buffo-Oper. So ist denn seit Donizettis Tod diese hellste Saite der italienischen Lyra wie abgeschnitten. Wo gibt es noch in dieser allgemeinen Traurigkeit herzhaft lustige Opernmusik?

Bald nachdem mir die Wiener Ausstellungs-Opern die Klage abgepreßt, daß Italien keine komische Oper mehr hervorbringe, überraschte uns die Nachricht, Verdi habe eine solche komponiert: »Falstaff«. Es fügte sich schön, daß ich der ersten Aufführung dieser Oper in Rom beiwohnen konnte. Nicht um Musik zu hören, sondern um sie abzuschütteln, war ich aus dem konzertbelagerten Wien geflohen. Der Wunsch, meiner Frau Rom und Neapel zu zeigen, wo ich zuletzt im Jahre 1874 mit Billroth geweilt, führte mich jetzt dahin. Gern verschob ich meine Abreise von Rom um zwei Tage; ich wollte es nicht versäumen, den alten Verdi noch einmal zu sehen und seinen »Falstaff« zu hören. Diese neueste Oper des Achtzigjährigen ist ein Stück Musikgeschichte und ihre Premiere in Rom ein denkwürdiges Ereignis. Verdi hatte Rom seit Jahren vermieden. Ruhebedürftig und ruhmgesättigt, scheute er neue Ovationen und den Empfang bei Hofe. Selbst nach seiner Ernennung zum Senator unterließ er es, sich persönlich beim Könige zu bedanken. Nun endlich hat ihn die erste Aufführung seines »Falstaff« doch nach Rom gezogen. Welch ein Theaterabend! Ein Fest der Nation, eine Herzensangelegenheit des ganzen Volkes! Von diesem Enthusiasmus beim Erscheinen Verdis auf der Bühne macht man sich in Deutschland kaum eine Vorstellung. Und noch stürmischer erbrauste der Jubel, als Verdi in der Loge des Königs erschien und zur Rechten desselben Platz nahm. Einen hochbejahrten, hochberühmten Künstler also gefeiert zu sehen, hat etwas unendlich Erhebendes und Rührendes, auch für den Fremden. Mit der fortreißenden Gewalt dieser Stimmung verband sich die Begeisterung sämtlicher Künstler. Eine berauschendere Wirkung wird man wohl niemals vom »Falstaff« erleben als an jenem 15. April 1893 in dem großen prächtigen Teatro Costanzi.[391]

Ich nannte früher Verdi und Bellini als die einzigen italienischen Opernkomponisten, welche unzugänglich und unbegabt erscheinen für Komisches. Alle übrigen sind im ernsten und im heiteren Fach mit gleicher Lust und meistens gleichem Erfolge tätig gewesen; von Pergolesi, dessen »Serva Padrona« die erste Knospe der Opera buffa bedeutet, und Piccini, in dessen »Cecchina« diese Knospe zur Blüte erwächst, bis auf Rossini und Donizetti, die unaufhörlich zwischen Lustspiel und Tragödie abwechseln. Bellini ist jung gestorben; Verdi bringt als Achtzigjähriger dem überraschten Publikum seine erste komische Oper. Welch unerwartet schöne, bedeutsame Wendung, daß der Greis an der Neige seines Lebens sich der Tragik entwindet und mit der Weisheit eines glücklichen Alters noch den Blick auf der sonnigen, heiteren Seite des Daseins ausruhen läßt!

Ich war im Frühjahr 1875 in Paris bei Verdi eingeführt worden und erlaubte mir mit Bezug darauf in Rom die Anfrage, ob ich ihn besuchen dürfe. Er erfreute mich mit der liebenswürdigsten Aufnahme in seinem Absteigequartier, dem neuen prachtvollen Hotel Quirinal. Die schlichte Herzlichkeit, mit welcher Verdi – hier so gut wie unnahbar für jeden Fremden – mich empfing und begrüßte, hat mich, der ich manche Jugendsünde gegen ihn auf dem Gewissen habe, tief bewegt. Es leuchtet etwas unendlich Mildes, Bescheidenes und in der Bescheidenheit Vornehmes aus dem Wesen dieses Mannes, den der Ruhm nicht eitel, die Würde nicht hochfahrend, das Alter nicht launisch gemacht hat. Tief gefurcht ist sein Gesicht, das schwarze Auge tiefliegend, der Bart weiß – dennoch läßt die aufrechte Haltung und die wohltönende Stimme ihn nicht so alt erscheinen. Als ich ihm die allgemeine Verwunderung über das Erscheinen seines »Falstaff« schilderte, antwortete Verdi, es sei zeitlebens sein Lieblingswunsch gewesen, eine komische Oper zu schreiben. »Und warum haben Sie es nicht getan?« – »Weil man nichts davon wissen wollte (parsque l'on n'en voulait pas).« Den »Falstaff« habe er eigentlich zu seiner eigenen Unterhaltung komponiert. Daß er bereits einen »König Lear« begonnen habe, stellte er in Abrede. »Ich bin nicht zwanzig Jahre alt,« meinte er mit einem mehr schalkhaften als schmerzlichen Lächeln, »sondern viermal zwanzig!«

Der Mittagstisch für vier Personen war bereits gedeckt. Es erschienen der Impresario und der Kapellmeister Mascheroni. Mit dem geistreichen Schmunzeln, wie es nur den Italienern eigen ist,[392] wenn sie sich an einem Bonmot ergötzen, stellte mich Verdi als »il Bismarck della critica musicale« vor. Als vollendeter Galantuomo beschenkte er noch meine Frau mit einer Photographie samt Dedikation und wir empfahlen uns mit dem angenehmsten Eindruck.

Abends lauschte ich dem »Falstaff« mit jenem Fieber der Neugierde, das mich neuen Kunstwerken gegenüber stets durchschauert. Gleich bei der ersten Szene mußte ich an die Äußerung Verdis denken aus unserem letzten Gespräch. Verdi hatte eine Anspielung auf Wagnerschen Einfluß etwas ausweichend mit den Worten beantwortet: »Der Gesang und die Melodie müßten doch immer die Hauptsache bleiben.« In jenem absoluten Sinne der früheren Verdischen Opern sind sie es im »Falstaff« nicht mehr. Im Vergleich zu der zweiten Periode Wagners sind sie es noch immer. Nirgends wird im »Falstaff« die Singstimme vom Orchester unterdrückt oder überflutet, nirgends das Gedächtnis durch Leitmotive gegängelt, die Empfindung von klügelnder Reflexion durchkältet. Hingegen hat die Musik zu »Falstaff« doch mehr den Charakter einer belebten Konversation und Deklamation als den einer ausgeprägten, durch selbständige Schönheit wirkenden Melodik. Daß Verdi Musik von letzterer Art auch mit fließendem Lustspielton vortrefflich zu verschmelzen wußte, beweist der zweite Akt seines »Ballo in maschera«. Damit verglichen, kann man – in weiterem Sinn und liberalster Auslegung – von Wagnerschem Einfluß auf »Falstaff« sprechen. Gewiß eine unschätzbare Methode für geistreiche Komponisten, welche langjährige Erfahrung und Technik, aber nicht mehr die reiche blütentreibende Phantasie der Jugend besitzen.

Die ganze Anlage des »Falstaff«-Librettos und ähnlicher moderner Textbücher mit ihrer dem rezitierenden Schauspiel fast gleichkommenden Ausführlichkeit der Diktion hat eine neue verschiedene Methode des Komponierens zur Folge. Ehedem definierte man das Gedicht als »die Zeichnung, welche der Komponist zu kolorieren hat.« Das paßt nun und nimmermehr auf die Musik der früheren Opern. Die Melodien Mozarts, Rossinis sind weit mehr und etwas ganz anderes, als das bloße Kolorieren einer fertigen Zeichnung; sie sind ein Neues, Selbständiges, das von dem Text zwar die Richtung, die Stimmung empfängt, aber sich seine Zeichnung selbst schafft. Man könnte eher sagen, die älteren Gesangstexte liefern dem Komponisten nur größere oder[393] kleinere Rahmen mit einer Aufschrift: Liebe, Zorn, Frohsinn – in diesen Rahmen schuf der Komponist als musikalischer Selbstherrscher Zeichnung und Farbe zugleich. Der Text zu den Arien Mozarts, Rossinis und des jungen Verdi enthält oft nur sechs bis acht Verszeilen allgemeinen Inhalts; damit konnte der Komponist frei schalten. Man vergleiche damit das Libretto zu »Falstaff«. Der Monolog »Was ist Ehre?« ist eine wörtliche Übersetzung aus Shakespeare, wenn ich nicht irre mit noch weiter detaillierenden Zusätzen. Da kann der Komponist musikalisch Neues, Selbständiges nicht schaffen; er kann nur Wort für Wort nachfolgen und diese bis ins kleinste vom Dichter ausgeführte Zeichnung »kolorieren«. Der große Erfolg dieses Monologs ist eigentlich das Verdienst Shakespeares und des Sängers Maurel; die Musik hat wenig hinzuzutun, und ich kann nicht sagen, daß die Wirkung im Burgtheater, ohne Musik, eine geringere sei. Ähnliches gilt von dem langen Monolog des eifersüchtigen Mr. Ford und den meisten Duetten, die lustspielmäßig ausgeführte Dialoge sind. So paßt merkwürdigerweise die alte Lehre von »Zeichnung und Kolorit« erst auf eine viel spätere, nämlich die heutige Kompositionsweise. Das rasch dahinfließende, geistreich dialogisierte Textbuch ist von vornherein so abgefaßt, daß es auch ohne Musik aufgeführt werden könnte. Nur wenige Stücke im »Falstaff« sind für abgerundet musikalische Form gedichtet; sie erfreuen durch Wohlklang und übersichtliche Form, entbehren auch nicht immer einer gewissen Wärme. Eine besondere Kraft und Originalität der melodischen Erfindung vermochte ich nicht daran wahrzunehmen, höchstens, daß die kleine Kantilene Fentons »Bocca baciata« an den sinnlichen Reiz des früheren Verdi erinnert. Der Gesamteindruck, den ich von dem Werke empfing, ist der einer sorgfältig ausgearbeiteten, feinen und lebhaften Konversations-Musik, welche nirgends roh oder weichlich wird, weder in possenhafte Trivialität noch in ungehöriges Pathos überschlägt. Die Charakteristik Falstaffs ist von komischer Kraft, die der übrigen Personen nicht hervorstechend. Das Ganze berührt uns wie die fließende Unterhaltung eines geistreichen Weltmannes, der nicht den Anspruch erhebt, neue Wahrheiten oder tiefe Gedanken auszuteilen. Also mehr Kauserie als starke musikalische Schöpfung, mehr Esprit als Genie. Verdis »Falstaff« hat mich keinen Augenblick gelangweilt oder abgestoßen, aber auch nur selten durch musikalische Schönheiten überrascht.[394]

Die Musikgeschichte kennt kein Beispiel von einer solchen Bühnenschöpfung eines Achtzigjährigen. Wir haben in Deutschland und Italien einzelne Meister gehabt, die in hohem Alter noch gute Kirchenmusik schufen; keine Nation darf sich aber eines Komponisten rühmen, der im Alter Verdis noch die dramatische Lebendigkeit, die anmutige Laune, die sichere Führung besessen hätte, welche die Partitur des »Falstaff« aufweist. Richard Wagner schrieb einmal gelegentlich der »Afrikanerin« von Meyerbeer: mit dem sechzigsten Jahr müsse man aufhören, Opern zu schreiben – ein Ausspruch, den er freilich selbst widerlegt hatte. Hatte man vor sechs Jahren den »Otello« Verdis schon als ein erstaunliches Ereignis begrüßt, so ist »Falstaff« als die noch spätere und gewiß nicht farblosere Blüte eines seit sechzig Jahren unablässig produzierenden Talents ein halbes Wunder.

Während der Aufführung wurde mir eines immer klarer: In Deutschland stehen der Einbürgerung von Verdis »Falstaff« »Die lustigen Weiber« von Otto Nicolai als ein Hindernis gegenüber, das schwer zu nehmen sein wird. Als Totalerscheinung spielt Nicolai gewiß eine sehr bescheidene Figur neben Verdi. Allezeit experimentierend, schwankend zwischen deutscher und italienischer Musik, zwischen pathetischem und leichtem Styl, hat Nicolai den zahlreichen Triumphen Verdis einen einzigen Erfolg entgegenzustellen: eben »Die lustigen Weiber von Windsor«. Aber in dieser einen Oper steigerte und konzentrierte sich die ganze Kraft seines Talents so bedeutend, sowohl nach der dramatischen wie nach der rein musikalischen Seite hin, daß nur die blanke Ungerechtigkeit sie geringschätzen könnte. Gegenüber der moderneren, einheitlicheren Form der Verdischen Oper hat die Nicolaische jedenfalls mehr musikalische Substanz. Nach meiner Empfindung sind die besten Nummern aus den »Lustigen Weibern« den analogen Szenen in Verdis »Falstaff« musikalisch entschieden überlegen. Die Erfahrung lehrt, daß zwei Opern desselben Inhalts zugleich auf derselben Bühne unmöglich sind. In der Regel siegt der Reiz der Neuheit, und das jüngere Werk pflegt, bei nicht allzu großem Abstand in der Qualität, das ältere definitiv zu verdrängen. Gounods »Faust« hat den Spohrschen, Gounods »Romeo« den Bellinischen aufgezehrt, Verdis »Ballo in maschera« den »Maskenball« Aubers. Es kann sein, daß mit dem Erscheinen von Verdis Novität das letzte Stündchen für Otto Nicolai geschlagen hat. Wahrscheinlicher will es mir trotzdem[395] vorkommen, daß man in Deutschland den Verdischen »Falstaff« überall geben, loben, bewundern wird und dann – zurückkehren zu Nicolais »Lustigen Weibern«. –

Nach dem stark bewegten römischen Aufenthalt genossen wir einige schöne Ruhetage in Sorrento. Brahms, auf der Reise nach Sizilien begriffen, kam von Neapel herüber und besuchte mich mit seinen drei trefflichen Schweizer Reisegefährten: dem Dichter J. Viktor Widmann, dem Musikdirektor Friedrich Hegar und dem Klavierprofessor R. Freund. Ein fröhliches Wiedersehen. Brahms war möglichst weit von Wien geflüchtet, um den Glückwünschen und Huldigungen zu seinem sechzigsten Geburtstage zu entgehen. Man sah ihm den Sechziger nicht an: stramme Haltung, heller Blick, fröhliche Laune. Wir setzten uns auf die Terrasse unseres Hotels Viktoria mit dem herrlichen Ausblick auf das Meer. Brahms ließ einen landesüblichen Fiasko Chiantiwein kommen und wir lachten über den billigen Witz von seinem »großen Fiasko« in Italien. »Nun, gehst Du nach Chicago?« fragte er. »Ich gehe nicht.« »Ich auch nicht.« Die Weltausstellungskommission von Chicago hatte nämlich die deutsche Tonkunst auch durch drei Persönlichkeiten leibhaftig illustrieren wollen und »als Gäste der Nation« Brahms, Joachim und mich unwürdigen Dritten eingeladen. Brahms und Joachim hatten zuerst dankend abgelehnt. Ich konnte mich nicht gleich entschließen, obgleich durch die Absage von Brahms und Joachim der halbe Reiz für mich verloren war. Das Anerbieten winkte doch gar zu lockend. Die Weltausstellungskommission bot mir, für mich und meine Frau, vollkommen freie Fahrt an und freie Station in New York und Chicago. Auf so bequeme, billige und ehrenvolle Art Amerika zu sehen – es brachte meine alte Reiselust in starke Versuchung. Selbst die Besorgnis vor der langen Reise würde ich beschwichtigt haben, wäre nicht der Hauptzweck und das Endziel dieser Reise gerade Chicago gewesen, obendrein eine Weltausstellung in Chicago. Um Ägypten oder Griechenland kennenzulernen, hätte ich eine lange Seefahrt nicht gescheut. Aber die linealgraden Straßen von Chicago, die Geschäftsatmosphäre, der Lärm und die Hitze einer Weltausstellung mit ihren Banketten und Toasten und obendrein der moralischen Verpflichtung, darüber zu schreiben, – nein, die Waagschale der Resignation senkte sich. Von Rom und Neapel heimgekehrt, konnte ich mich wahrlich mit einem stilleren Aufenthalt zufrieden geben, mit dem[396] Salzkammergut anstatt des Salzsees. So ward ich denn mit Brahms einig, daß wir uns lieber in Ischl als in Chicago wiedersehen wollten. Nach ein paar gemütlich verplauderten Stunden stieg Brahms mit seinen drei Begleitern wieder zur Marina hinab und fuhr nach Neapel zurück, von wo die Reise nach Sizilien angetreten werden sollte.

Gegen Abend kamen die schmucken Tarantella-Tänzer und Tänzerinnen mit ihren Tambourins und Gitarren und tanzten und sangen auf der Terrasse. Wie gerne denke ich an diese lebensvollen Szenen, diese üppigen, roten Blüten eines heiteren Volksgeistes zurück! Und an die Kahnfahrt nach Capri, den Aufstieg auf den Deserto, die Spaziergänge durch die Orangenwälder hinter dem kleinen Friedhof! Wir erleben doch jeden wichtigen Lebensabschnitt doppelt: einmal in der Wirklichkeit, dann in der Erinnerung. Und dieses zweite Erleben ist oft noch schöner. Die Erinnerung hat uns den Lärm in Rom und Neapel gedämpft, das Gedränge der Straßen gelichtet, den Staub von Sorrento und Castellamare verweht, die Hitze von Capri abgekühlt. Es bleibt nur das Schöne von allem und leuchtet rein wie auf Goldgrund in unsere späteren Tage.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 385-397.
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