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[53] Im Herbst 1846 übersiedelte ich nach Wien, um an der dortigen Universität das vierte und letzte Jahr Jus zu absolvieren und das juridische Doktorat zu erlangen. Diese Übersiedlung machte den bedeutungsvollsten Einschnitt in mein Leben, da ich in Wien meine zweite Heimat gefunden und es, kurze Unterbrechungen abgerechnet, nicht wieder verlassen habe. Es ist für mich eine wertvolle Erinnerung, noch die Abendröte des vormärzlichen Wien miterlebt und mitgenossen zu haben; diese letzten Jahre des engen, vergnügten, gemütlichen Wien, das nach dem Revolutionsjahr eine so ganz andere Physiognomie annehmen sollte. Eine flüchtige Bekanntschaft mit Wien, eine Art Rekognoszierung des Terrains hatte ich einige Monate früher gemacht, indem ich die – mit einiger Liberalität ausgedehnten-Osterferien zu einem ersten Besuch in Wien benützte.

Mir lebte dort eine Tante, die jüngere Schwester meiner Mutter, als Frau des Hofsekretärs im Hofkriegsrat Jaburek. Diese »Tante Rosi«, mir von Kindheit auf besonders zugetan – sie hat mich mit dem ersten Paar Stiefel beglückt! – war eine lebhafte, gescheite Frau von feinem Takt und liebenswürdigsten Umgangsformen. Mit welcher Freude folgte ich ihrer Einladung, mit welchen überschwänglichen Erwartungen! Letztere fand ich von dem damaligen Wien mit seinen engen Gassen, düsteren Toren und festungsartigen Basteien keineswegs erfüllt. Schon meine Einfahrt vom Nordbahnhof, nach der damals sehr langen Fahrt über Olmütz, durch das finstere kasemattenfeuchte »Rotenturmtor«, enttäuschte mich. In Gänserndorf mußte der Eisenbahnzug lange halt machen, weil die Polizei die Pässe der Reisenden genau visitierte und in Beschlag nahm; wir hatten dieselben zwei Tage später bei der Polizeidirektion in Wien selbst abzuholen. Für die Fahrt von Prag nach Wien, also im Bereich der Monarchie, bedurfte es eines Passes oder Passierscheins. Welche Zustände! Das berühmte Zentrum der Stadt, »Graben und Kohlmarkt«, imponierte mir gar nicht. Der Roßmarkt und der Graben[53] in Prag sind doch ganz andere Plätze! Die hölzerne Ferdinandsbrücke über den Donaukanal war wirklich miserabel, auch wenn man gar nicht an die Prager Brücke dachte. Aber das Leben in Wien, seine künstlerischen und persönlichen Anregungen versetzten mich in einen Freudenrausch. Täglich, gleich nach dem Frühstück, eilte ich die Treppen hinab an die Straßenecke, um die Theaterzettel zu lesen. Fünf Theaterzettel! Ihr bloßer Anblick erfüllte mich mit Entzücken. Die Vormittage benützte ich teils zur Besichtigung der Stadt und ihrer Merkwürdigkeiten, teils zu Besuchen bei Musikern, an die ich Empfehlungen besaß.

Mein erster Besuch galt Liszt, an den mir Berlioz ein freundliches Empfehlungsschreiben mitgegeben. Ich traf den Gefeierten, welcher damals in vollster Frische und männlich jugendlicher Anmut prangte, in seinem Hotel zur »Stadt London«. Er saß, mit einer schwarzsamtenen Bluse und weiten türkischen Hosen bekleidet, am Klavier; nicht spielend, sondern schreibend. Er hatte ein Notenblatt auf dem Knie und schrieb da schief, à la Humboldt, seine langgestreckten, dünnen Noten. Während des Schreibens sprach er mit mir und zeitweilig auch mit einem Kreis von vier oder fünf jungen Leuten, die rauchend und plaudernd, wie in einem Kaffeehaus, sich rings auf den Diwans rekelten. Unter diesen jungen Liszt-Enthusiasten waren Heinrich Ehrlich und Rudolf Schachner, die Namen der übrigen habe ich vergessen. Liszt fragte mich über die Orchesterkonzerte und einige Opernaufführungen in Prag aus; mein lobender Bericht fand aber wenig Gnade vor diesem Kreise. Man wisse ja, hieß es, daß die Prager, eitel und prahlerisch, ihre Musik für die beste halten. Die jungen Herren hatten aber damals wirklich keine Ursache, auf Prag vornehm herabzublicken. In ernstem künstlerischen Streben und Vollbringen war damals Prag, trotz seiner bescheideneren Mittel, der Residenzstadt entschieden voraus; erst viel später hat sich das Verhältnis umgekehrt. Liszt war so liebenswürdig, mir beim Fortgehen ein Billett zu seinem Abendkonzert anzubieten. Es war ein Sperrsitz auf der Galerie, damals der teuerste, jetzt der geringste Platz. Das Konzert fand im alten Saal der Gesellschaft der Musikfreunde »Unter den Tuchlauben« statt und begann um halb zehn Uhr abends. Es war das erste Nachtkonzert, das ich erlebte, und zugleich eines der letzten, die überhaupt noch stattfanden. In Wien bestand nämlich die recht kleinstädtische Verordnung, daß Konzerte nie zur Theaterzeit gegeben werden durften,[54] damit die Theater durch keine Konkurrenz geschädigt würden. Die Konzerte fanden denn auch in der Regel um die Mittagsstunde statt; nur Künstler von der ganz einzigen Berühmtheit und Anziehungskraft Liszts konnten es wagen, das Publikum nach dem Theater zu einem Konzert zu laden und bis Mitternacht mit Klavierspiel festzuhalten. Über Liszts Spiel brauche ich mich hier nicht auszusprechen. Es machte mir, wie allen, den Eindruck des Außerordentlichen. Nie wieder habe ich genialer, kühner, glänzender, unbegreiflicher spielen gehört. Nur Liszt selbst hat mich in späteren Jahren noch mehr entzückt, da er ruhiger, abgeklärter und in seinem Programm wählerischer geworden war. Damals (1846) schien wirklich die Virtuosität sein höchster Zweck; auf die künstlerische Bedeutung der Kompositionen legte er wenig Wert. Liszt spielte Rossinis »Teil«-Ouvertüre, einige Transskriptionen Schubertscher Lieder und zum Schluß seine Phantasie über spanische Nationaltänze. Wiederholt stürmisch gerufen, setzte er sich nochmals ans Piano und verarbeitete dieselben spanischen Themen in vollkommen freier Improvisation zu ganz neuen, glänzenden Gebilden. Liszt war sichtlich in guter, fast übermütiger Laune, und so wirkte seine Improvisation ohne Vergleich hinreißender als das bekannte, uns im Druck vorliegende Stück. In Liszts Konzert konnte ich auch sehen, wie die bis dahin unbekannte, jetzt vornehmste Platzkategorie, der »Cercle«, entstand. Der Saal und die Galerie erwiesen sich zu klein für den Andrang zu Liszts Konzerten. Man setzte Stühle auf das Podium, rings um das Klavier, und da insbesondere die Damen den Unvergleichlichen nicht nahe genug haben konnten, wurde dieser anfangs als Notbehelf erfundene Platz der gesuchteste und teuerste, ganz wie zu Voltaires Zeiten die Sitze auf der Bühne des Théâtre français.

Ein zweites Empfehlungsschreiben hatte mir Berlioz für den Violinvirtuosen H.W. Ernst mitgegeben, den er als Künstler und Menschen besonders schätzte. Ich besuchte Ernst und empfing von seiner liebenswürdigen, milden Persönlichkeit wie von seinem Spiel den gewinnendsten Eindruck. Ich ahnte damals noch nicht, daß ich den trefflichen Mann einige Jahre später als gänzlich gebrochenen, unheilbar Kranken wiedersehen sollte.

An den alten, pensionierten Hofkapellmeister Adalbert Gyrowetz war ich von einer mit ihm verwandten, ausgezeichneten Familie in Prag empfohlen. Es freute mich, den würdigen Mannkennenzulernen, der noch mit Mozart und Haydn befreundet gewesen und dessen Opern und Ballette durch Jahrzehnte in Deutschland wie in Italien floriert hatten. Seine populärsten Opern waren »Agnes Sorel« und »Der Augenarzt«; zu letzterem hatte der berühmteste katholische Prediger Wiens, Dr. Emanuel Veith, das Textbuch geschrieben. Gyrowetz wohnte im dritten Stock eines alten Hauses auf dem Franziskanerplatz, der Kirche gegenüber. Trotz seiner dreiundachtzig Jahre war der alte Herr rüstig, gesprächig und lebenslustig, kam selten vor Mitternacht nach Hause und fehlte nie bei den geselligen Samstagsabenden der »Konkordia«. Er komponierte jeden Morgen ein Lied. Das eben frisch gelegte Ei schenkte er mir zum Andenken und lud mich für den nächsten Tag zu Tisch, Punkt zwölf Uhr. Ich traf dort einen Studenten, dem Gyrowetz einen Freitisch gab. Er hatte eine kleine Pension als Hofkapellmeister und außerdem die Zinsen eines bescheidenen Kapitals, das er in besseren Tagen zusammengespart. Zu jener Zeit konnte man, wie Gyrowetz, die Theater mit hundert Opera und Balletten versehen haben, ohne zu ansehnlichem Wohlstand zu gelangen. Als er das siebzigste Jahr überschritten hatte, kalkulierte er so: älter als achtzig Jahre werde ich doch nicht, warum soll ich, kinderloser Greis, mein eigenes Kapital nicht angreifen? Er teilte es in zehn gleiche Teile und verbrauchte jährlich einen davon. Aber er hatte sich verrechnet; nicht achtzig, sondern siebenundachtzig Jahre schenkte ihm der Himmel! Da wären die letzten wahrlich die biblischen »mageren sieben Jahre« geworden, hätten nicht einige Freunde, insbesondere der immer wohltätige Meyerbeer, dafür gesorgt, daß der alte Herr nicht Mangel leide. – Es ist mir eine rührende Erinnerung, diese aus dem vorigen Jahrhundert herüberragende, liebenswürdige Persönlichkeit noch kennengelernt zu haben. Mit welcher Andacht ergriff ich die runzelige Hand des Mannes, der mit Haydn und Mozart freundschaftlich verkehrt, mit Goethe die Umgebung Roms durchstreift hatte und während der französischen Revolution ein Liebling seines Tischnachbars, des »Kapitän« Bonaparte, gewesen ist! Ja, ich freue mich, noch mit dem uralten Gyrowetz an einem Tisch gesessen zu haben, und vor einigen Tagen mit dem jüngsten Glückskinde Mascagni! Wieviel Musik und welche Musik liegt zwischen diesen beiden Mahlzeiten! Noch ein zweites ehrwürdiges Haupt aus dem klassischen Jahrhunderte hatte ich[57] als fünfzehnjähriger Knabe das Glück begrüßen zu dürfen: den Dichter der »Urania«, Tiedge. Es war in Karlsbad, wo ich meine dort zur Kur weilende Mutter besuchte. Im selben Hause mit ihr wohnte der alte Tiedge. Ich hatte seine »Urania« und die Gedichte gelesen – welchen »Klassiker« hätte ich damals nicht verschlungen!, – war also sehr glücklich, mit dem gefeierten Poeten unter einem Dach zu wohnen. Meine Mutter und ich nahmen teil an einer Gesellschaft, welche den in einem Rollstuhl fahrenden alten Herrn zu einer Jause im »Posthof« begleitete. Tiedge wurde dort in einen Lehnstuhl gesetzt, die übrigen nahmen Sessel, ließen aber, wahrscheinlich aus Bescheidenheit, den Platz zur Rechten Tiedges frei. Da ich als der Allerjüngste bis zuletzt stehengeblieben war, so fiel mir, zur allgemeinen Erheiterung, der Ehrenplatz von selbst zu. Ich freute mich weidlich dieses Glückfalls und der gütigen Mitteilsamkeit Tiedges, der mir mancherlei über meinen Liebling Matthisson erzählte. Vor seiner Abreise schrieb er mir in mein Stammbuch die schönen Worte: »Das reine Wohlwollen für andere streuet unverwelkliche Blumen in unser eigenes Leben.« –

Nach dieser verspäteten Erwähnung Tiedges, zu welcher mich die Bekanntschaft des greisen Gyrowetz veranlaßte, habe ich noch zweier musikalischer Besuche aus jener anregenden Wiener Osterwoche zu erwähnen: Josef Dessauer und Emil Titl, beide durch ihren Zusammenhang mit Prag mir näher stehend. Titl war noch kurz zuvor Regimentskapellmeister in Prag gewesen; ich wußte, es werde ihn freuen, wenn ein Prager ihn besucht und ihm erzählt, daß seine »Nächtliche Heerschau« (für Männerchor und Orchester) oft mit großem Beifall gesungen werde und seine Operette »Der Zauberschleier« volle Häuser mache. Letzteres Werk, das Titl als Kapellmeister des Josefstädter Theaters komponierte, hat dieser und zahllosen anderen Bühnen Tausende eingetragen, ihm selbst aber (es war noch nicht die Zeit der Tantiemen) ein armseliges Honorar. Als ich ihn besuchte, war er noch in voller Kraft, rüstig und fleißig. Später aber, als pensionierter Kapellmeister, hatte er mit seiner Familie Not zu leiden. Ich war so glücklich, ihm vom Unterrichtsminister eine bescheidene jährliche Pension zu erwirken und kann den erschütternden Anblick nicht vergessen, wie der alte Mann, von dankbarer Rührung überwältigt, seine Frau und Kinder um mich versammelte und alle weinend und schluchzend meine Hände faßten. Heute würde[58] ein so anhaltender populärer Erfolg, wie der von Titls »Zauberschleier«, den Komponisten zu einem reichen Manne machen – man denke an Lecoqs »Angot«, an Neßlers »Trompeter«, vollends an die »Cavalleria rusticana«! Emil Titl teilte aber das Los seines ungleich bedeutenderen Kollegen Lortzing, im Alter darben zu müssen. Ich ziehe einen Schleier darüber – aber keinen Zauberschleier.

Von feinerem Geschmack und gründlicherer Bildung, hat Josef Dessauer mit allen seinen Opern doch niemals einen Bühnenerfolg errungen wie Titl mit dem einen, anspruchslosen »Zauberschleier«. In der Musikwelt erfreute sich Dessauer großer Achtung und in den Wiener Gesellschaftskreisen besonderer Beliebtheit. In meine Knabenzeit reicht die Erinnerung an eine eigentümlich geschäftige Aufregung, welche sich eines Tages der Prager Gesellschaft bemächtigt hatte. Es galt der Ankunft eines berühmt gewordenen, weit gereisten Landsmannes, welcher nun eine selbstkomponierte Oper in seiner Vaterstadt zur Aufführung bringen sollte. Der vielumschwärmte Komponist war Dessauer, seine Erstlingsoper hieß »Lidwinna« und war von Karl Egon Ebert für ihn gedichtet. Es sind mitunter klangvolle Namen des österreichischen Parnasses, welche die Dichtungen der Dessauerschen Opern zieren: Ebert, Bauernfeld, Alexander Baumann. Meistens waren die Namen besser als die Leistung, z.B. gerade bei der »Lidwinna«, deren von abgeschmacktem Zauberspuk strotzende Handlung man einem Dichter wie K.E. Ebert kaum zumuten sollte. »Lidwinna«, mit der jugendlichen Jenny Lutzer in der Titelrolle, fand in Prag (1836) eine günstige Aufnahme, erhielt sich aber nur kurze Zeit auf dem Repertoire. Anhaltenderen Erfolg hatte Dessauers zweite Oper: »Ein Besuch in St. Cyr«. Das feine, im französischen Konversationsstil gehaltene Libretto Bauernfelds eignete sich vortrefflich für das Talent Dessauers, das im Ausdruck des Graziösen und Eleganten, des leicht Sentimentalen und Schalkhaften vorzugsweise glücklich war. Schon vor seinen ersten Opernversuchen hatte Dessauer große Erfolge als Liederkomponist errungen; auch in Paris. Zur Zeit meines Wiener Aufenthalts genoß Dessauer unbestrittene Geltung in der österreichischen Musikwelt. Die Situation, in welcher ich ihn kennenlernte, war drollig genug. Dessauer, in Hemdärmeln, eine Küchenschürze vorgebunden, stand auf einem Stuhle und lackierte mit einem in Firniß getauchten Pinsel einen hohen,[59] geschnitzten Wandschrank. »Alte Möbel«, entschuldigte er sich lachend, »das ist meine neueste Liebe! Überall schaue ich nach altertümlichen Schränken und Truhen aus und habe schon hübsche Stücke zusammengebracht.« Auf meine Bemerkung, daß seine Musik mich denn doch mehr interessiere, warf er Pinsel und Schürze fort und legte seinen eben erschienenen Liederzyklus »Slavische Melodien« (Texte von Siegfried Kapper) auf das Klavierpult. Er sang sie mir mit einer abschreckenden »Komponistenstimme«, und dennoch hätte ich seine musikalische Bekanntschaft kaum auf günstigere Art machen können. Wer Dessauer nicht bloß als gefälligen Melodiker, sondern als intensiv poetisches Talent kennenlernen will, der singe sich diese »Slavischen Melodien«. Ich werde später noch Gelegenheit haben, von Dessauer zu erzählen.

Außer dem Lisztschen Nachtkonzert waren mir bei meinem ersten Besuch in Wien noch zwei denkwürdige Musikproduktionen beschieden: ein großes Philharmonisches Konzert und die Eröffnungsvorstellung der italienischen Oper. Das Philharmonische Konzert fand um die Mittagsstunde im großen Redoutensaal statt, unter der Leitung Otto Nicolais. Es war das erste und letzte Mal, daß ich den zierlichen kleinen Mann am Dirigentenpulte sah. Er dirigierte die Neunte Symphonie mit sorgfältiger, mehr feiner als großartiger Auffassung und so leidenschaftlich nervöser Hingabe, daß er nach dem Schlußakkord fast ohnmächtig zusammenbrach. Der Tenorist Josef Erl sang Beethovens »An die entfernte Geliebte«, ein Liederkranz, der entzückend und rührend durch die einfache Innigkeit, insbesondere der langsamen Sätze, mich doch jedesmal durch den opernhaften Schluß etwas verstimmte. Der herkulische Erl, ein ausgiebiger Heldentenor von großem Wert für die Bühne, besaß keine Spur von Poesie und tappte ganz äußerlich an der Beethovenschen Lyrik herum. Die Klavierbegleitung spielte kein Geringerer als Liszt, auf den sich auch die ganze Aufmerksamkeit des Publikums zu konzentrieren schien. Es war dies ein ganz exzeptionelles Konzert, neben welchem der allgemeine klägliche Zustand des Wiener Konzertwesens jener Zeit nur um so dunkler erschien. –

Der Ostermontag bedeutete stets ein besonderes Fest für Wien; eigentlich zwei Feste. Nachmittags die Praterfahrt, welche damals noch an ihren glänzenden Traditionen festhielt: eine Art großartigen Debüts funkelneuer Equipagen, prächtiger Pferde[60] und elegantester Frühlingstoiletten. Abends fand regelmäßig die erste Vorstellung der dreimonatlichen italienischen Opernsaison statt und lockte die feine Welt ins Kärntnertor-Theater. Ich hatte niemals italienische Sänger gehört, und auch die Eröffnungsoper »Ernani« von Verdi war mir gänzlich unbekannt. Mit welcher Erwartung betrat ich das Parterre; wie glücklich fühlte ich mich, noch vor meiner Rückkehr in den Prager Schulstaub das erleben zu können! Aber was ich wirklich erlebte, war eine völlige Enttäuschung. Nur mit dem Aufgebot aller Geduld und Willenskraft hielt ich die Oper bis zum Ende aus, so sehr langweilte sie mich. Italienische Opernmusik war meinem, nur an deutscher Musik herangebildetem Geschmack etwas Fremdartiges, Unsympathisches. Für Gesangsvirtuosität hatte ich keinen Sinn, und die Verdische Oper klang mir über die Maßen langweilig, undramatisch und roh. Beim Herausgehen stieß ich auf einen Prager Bekannten, den als trefflichen Sänger und Gesangsprofessor hochgeschätzten Giovanni Gordigiani. Er, dem natürlich italienische Musik das Höchste war, äußerte sich ganz entzückt über die Oper. Ich konnte seine Begeisterung, er meine Langweile nicht begreifen. »Aber das Duett im zweiten Akt müssen Sie doch schön finden?« fragte er in freundlich bekehrendem Ton. – »Das Duett im zweiten Akt? Ich erinnere mich wirklich nicht daran«. – »Und das Andante des Königs im dritten Akt, ist es nicht herrlich?« – »Ja, von dem weiß ich auch nichts mehr.« – »Jedoch diese Stelle und jene im vierten Akt?« Gordigiani bezeichnete sie alle nach Tempo und Tonart. Ich war beschämt, mußte aber gestehen, daß mir eine Nummer wie die andre vorgekommen war, daß aus dem ermüdenden Einerlei dieser Musik mir gar keine Einzelheiten im Gedächtnis hafteten. Ich hatte diese »Herrlichkeiten« ebensowenig begriffen wie die frenetischen Beifallsausbrüche des Publikums.

Mir ist die erste italienische Oper und mein Gespräch mit Gordigiani stets denkwürdig geblieben. Ich habe später sehr gut einsehen gelernt, daß man auch die italienische Musik näher kennen muß, um ihre Vorzüge, ihre Schönheiten zu verstehen. Mit dem hochmütigen »das ist nur oberflächliche Musik, die braucht man nicht zweimal zu hören, höchstens ein halbmal«, – ist es nicht getan, sooft man das auch von Deutschen hört. Unnötig zu sagen, daß ich in späteren Jahren das Schöne der italienischen Musik, auch in Verdi, verstehen und würdigen gelernt habe, ja, daß ich[61] gerade dieses Schöne heute höher schätze und lebhafter empfinde, seit in unserer dramatischen Musik das »Dramatische« die »Musik« zu vernichten beginnt und das Orchester den Gesang. Nur solange man noch sehr wenige italienische Opern kennt, sie von ungenügenden Sängern und überdies mit übler Voreingenommenheit gehört hat, kommt uns die eine wie die andere vor. Italienern geht es ebenso mit deutscher Musik. Mein italienischer Freund Victor Pozzi, der nur in der welschen Musik Empfindung und dramatischen Ausdruck fand, ließ sich in Wien von mir in einige deutsche Opern führen. »Fidelio«, »Zauberflöte«, »Hans Heiling«, – »nun, wie gefällt Dir das?« »Für mich ist das Kirchenmusik,« antwortete er stets. – »Aber dieses Duett, jenes Terzett und gar das Finale?« drängte ich weiter. – »Es hat mir alles ziemlich gleich geklungen; ich wüßte Einzelnes kaum hervorzuholen aus meinem Gedächtnis.« Also genau dieselben Antworten, wie ich sie Gordigiani gegeben nach der Verdischen Oper. Solche Erfahrungen machen vorsichtig und sollen uns in der Jugend mißtrauisch stimmen gegen uns selbst. Ich muß dabei immer an die Geschichte von dem Neger denken, welcher von einem englischen Matrosen, dessen Namen er nicht wußte, bestohlen worden war. Der Kapitän des englischen Schiffes ließ sämtliche Matrosen in Reih' und Glied vor ihm aufmarschieren; der Kläger sollte jeden Einzelnen genau ansehen und bezeichnen, welcher der Täter gewesen. Der Neger war aber nicht imstande, die Matrosen voneinander zu unterscheiden, er behauptete, die Europäer hätten alle dasselbe Gesicht. Ebenso geht es uns Europäern mit den Negern. Ein längerer Verkehr, eine genauere Beobachtung – und man wird sich beiderseitig überzeugen, daß weder alle Weißen noch alle Schwarzen dasselbe Gesicht haben.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 53-62.
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