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[76] Das Künstlerpersonal des Burgtheaters und der Hofoper stand zur Zeit, da ich nach Wien kam, im höchsten Ansehen und genoß beim Publikum und bei der Kritik unbedingte, mitunter grenzenlose Verehrung. Ich schämte mich, es mir selbst zu gestehen, geschweige denn anderen, daß mir manche dieser Größen durchaus nicht die gehoffte Bewunderung einflößen wollten. Hier machte sich die wunderbare Stärke der Jugendeindrücke geltend. Die Schauspieler unserer ersten Jugendzeit, die ersten Theatererlebnisse halten unsere Phantasie lange Zeit in magischen Banden. Es ist dies ein Vorrecht derjenigen Künstler, von denen wir zum erstenmal die Hauptrollen der klassischen Stücke und Opern gesehen haben. Zugestanden, die besten Sänger und Schauspieler der Prager Bühne seien den Wiener Künstlern nicht ebenbürtig gewesen; – jene waren mit meinen ersten und darum mächtigsten Theatereindrücken so fest verwachsen, sie hatten mein jugendliches Gemüt so vollständig erfüllt, daß mir anfangs das Burgtheater und die Hofoper dahinter zurückblieben. Entzückt war ich[76] von der Haizinger, von La Roche und Fichtner; hingegen wollte der schon bejahrte Anschütz mit seiner kurzen, gedrungenen Figur und seinen kleinen, müden Augen meiner Idee von Wallenstein oder Wilhelm Tell keineswegs entsprechen. Gegen Bayer in Prag schien mir Anschütz zu sehr Deklamator, wenn auch Deklamator von hoher Vollendung. Ähnlich erging es mir mit anderen Berühmtheiten des Burgtheaters und der Oper. Der gefeierte Schauspieler Korn war damals alt und nur schwer zu verstehen; Loewe konnte zwar in Rollen wie Holofernes noch durch sein stürmisches Feuer hinreißen, für seine jugendlichen Heldenrollen war er bereits zu alt. In Wien deckte die schöne Pietät des Publikums alle diese Mängel. Aber der täuschende Glanz der Jugenderinnerungen war es doch nicht allein und nicht überall, was mich gegen die angebliche Unübertrefflichkeit der Wiener Vorstellungen skeptisch machte. Als das Burgtheater einen Beckmann und Meixner erhielt, sahen die Wiener selbst erst ein, mit was für talentlosen Komikern sich das Lustspiel früher beholfen hatte. Durch Sonnenthal und Josef Wagner wurde es dem Publikum klar, daß sein ehemaliger Liebling Lucas doch ein steifer, frostiger, eitler Liebhaber und Held gewesen.

Das Hofoperntheater besaß einen großen Künstler in dem Bassisten Staudigl, der jedoch bald ans Wiedner Theater übertrat. Die erste dramatische Sängerin, Frau Hasselt-Barth, vermochte mich niemals recht zu erwärmen, trotz ihrer klassischen Gesangsbildung und Kehlenfertigkeit. Ihre kleine Figur und ihr sehr unhübsches Gesicht erschwerten obendrein jede dramatische Illusion. Der Heldentenor Josef Erl, ein tüchtiger, zuverlässiger Sänger mit ausgiebiger Stimme, war poesielos im Vortrag und hölzern im Spiel. Ich hörte die beiden ohne innere Erregung in ihren bewunderten Rollen Raoul und Valentine. Poesie und edle Wärme ist in diese beiden Gestalten erst durch Ander und die Dustmann eingedrungen. Und als Becks eherne Stimme erschallte, da mußten die ehemaligen Verehrer des Baritonisten Leithner doch zugestehen, daß sie früher recht genügsam gewesen. Der Bassist Hölzl, anfangs nur in seriösen Rollen wie St. Bris u. dgl. beschäftigt, gelangte erst später als vortrefflicher Buffo in sein Fahrwasser und zu künstlerischer Bedeutung. So bin ich keineswegs ein laudator temporis acti, wenn ich von dem vormärzlichen Personal des Burgtheaters und der Hofoper spreche, sondern eher ein Lobredner der darauf folgenden, nachmärzlichen Epoche.[77]

Eine starke Konkurrenz hatte die Hofoper geraume Zeit an dem Theater an der Wien. Hier wirkte zu der genannten Epoche neben Meister Staudigl manche sehr schätzbare Kraft; hier gastierten fremde Sänger allerersten Ranges, wie Jenny Lind und Josef Pischek. Überdies ging das Wiedner Theater der Hofoper voraus in Aufführung vieler interessanter Novitäten. Lortzing, Kapellmeister am Wiedner Theater, führte da zum erstenmale (1846) seinen »Waffenschmied« auf, mit Staudigl in der Titelrolle, und im folgenden Jahre seine »Undine«. Auch das winzig kleine Josefstädter Theater war eine zeitlang rühriger und glücklicher in der Aufführung neuer Opern als das Kärntnertor-Theater. »Robert der Teufel« und »Die Hugenotten« (von der Zensur in »Ghibelinen« verwandelt) haben in Wien ihre erste Aufführung auf dieser Miniaturbühne erlebt. Der Stolz und Schwerpunkt des Hofoperntheaters war die italienische Stagione, welche alljährlich durch volle drei Monate ausschließlich die Bühne beherrschte und den musikalischen Leckerbissen der vornehmen Kreise bildete. Das deutsche Repertoire war fast nur ein Nachklang des italienischen; nachdem man die Opern von Bellini, Donizetti und Verdi italienisch gehört hatte, gab man sie dann in deutscher Sprache.

Es ist mir eine wertvolle Erinnerung, die letzten Jahre des vormärzlichen Wien mit durchlebt zu haben. Wie kleinlich war das öffentliche Musikleben am Ausgang der dreißiger und anfangs der vierziger Jahre! Üppig und kleinlich zugleich trug es den Charakter eines zwischen fader Sentimentalität und flimmerndem Witz sich schaukelnden Sinnenlebens. Von allen großen geistigen Interessen abgesperrt, warf sich das Wiener Publikum auf den Kultus des schlechtweg Zerstreuenden, Unterhaltenden in der Kunst. Die Theater florierten nicht nur, sie bildeten den Hauptgegenstand der Konversation, die wichtigste Rubrik der Tagesblätter. In Ermangelung politischer Organe las man mit wunderlicher Wichtigkeit die »Theaterzeitung«, den »Humorist« u.s.w. Auf musikalischem Gebiet herrschte die italienische Oper, das Virtuosentum, der Walzer. Strauß und Lanner waren vergöttert. Ich wäre der letzte, das glänzende Talent dieser beiden Männer zu unterschätzen, welche in ihrer Anspruchslosigkeit doch die originellsten in sich vollendetesten und hinreißendsten Erscheinungen jener Musik-Epoche bilden. Um Strauß und Lanner darf jede Nation Österreich beneiden. Allein von dem begeisterten Taumel,[78] in den sie Wien versetzten, kann man sich heute kaum mehr eine Vorstellung machen. Im Jahre 1839 hatten Strauß und Lanner jeder bereits über hundert »Werke« veröffentlicht, und über jede neue Walzerpartie brachten die Journale entzückte Artikel. Daß dieser süß betäubende Dreivierteltakt, der alle Köpfe und Füße beherrschte, im Verein mit der wälschen Oper und dem Virtuosenkultus die Zuhörer zu geistiger Anstrengung immer unfähiger machte, begreift sich. Daneben herrschten, wie geheim verbündete Mächte, M.G. Saphir und Heinrich Proch. Saphir hatte durch seinen, mit vollendeter Charakterlosigkeit gepaarten, blendenden Witz sich zum obersten Beherrscher der Wiener Journalistik und zum Lieblingsgötzen des Publikums hinaufgeschwungen. Von Musik verstand er nicht das geringste, trotzdem schrieb er oft und gern über Opern und Virtuosen, – um eben die Allmacht seines Lobes oder Tadels nach Willkür auszuüben. Der »Humorist« hat seinen verderblichen Einfluß auf die Wiener Gesellschaft durch volle einundzwanzig Jahre ausgeübt. In direkten Rapport mit dem Publikum stellte sich Saphir durch die großen »Akademien«, deren er jährlich zwei bis drei veranstaltete. Die berühmtesten Virtuosen, Sänger und Schauspieler wirkten darin mit; es waren die besuchtesten Akademien im vormärzlichen Wien, man drängte sich stundenlang vor dem Einlaß. Der verderbliche Einfluß von Saphirs flacher Witzmacherei fand eine merkwürdige Ergänzung in Prochs musikalischer Sentimentalität. Proch ward als Liederkomponist von den Wienern bis zum Schwindel gehegt und gehätschelt; seine Lieder herrschten in jedem Hause, standen auf jedem Konzertprogramm; Franz Schubert war neben ihnen so gut wie vergessen. Manchmal wirkten auch Saphir und Proch als Geschmacksverderber zusammen. So hörte ich Saphirs affektiertes »Lied vom Frauenherzen« von Julie Rettich deklamieren, mit melodramatischer Begleitung von Proch für Harmonium, Violoncell, Horn und Harfe!

Das Jahr 1848 bildet die Grenzscheide zwischen dem alten und neuen Österreich, – nicht bloß im politischen und sozialen, auch im literarischen und künstlerischen Leben. Vom Jahre 1848 dürfen wir den Umschwung der musikalischen Verhältnisse in Österreich datieren. Die Reform trat nicht plötzlich ein, mehrere Jahre währte das Versuchen, Kämpfen und Ringen, – der innere Umschwung der Geister, aus welchem diese Neugestaltung auch[79] des musikalischen Lebens sich emporarbeitete, stammt aber aus dem Jahre, stammt vom Jahre Achtundvierzig.

Diese Wendung hatte sich naturgemäß vorbereitet, teils als allmähliche Unzufriedenheit mit dem bestehenden Musikleben, teils als Ahnung und Verlangen von etwas Ernsterem und Höherem. Fassen wir rasch die auffälligsten Elemente zusammen. Daß auf die Herrschaft des Virtuosentums Übersättigung folgen mußte, »wie die Trän' auf die Zwiebel«, liegt in der Natur der Sache. Das Publikum war nicht nur an den erstaunlichen Leistungen äußerlicher Bravour, es war auch an seinem eigenen Enthusiasmus satt und müde geworden. Der Taumel, in dem man sich fast ein Jahrzehnt lang gewiegt hatte, die Liszt-Thalberg-Milanollo-Willmers-Ernst-Servais-Schwärmerei war nicht länger fortzusetzen; man hatte sich ausgegeben.

Der vom Virtuosentum übersättigte ernstere Musikfreund konnte andererseits an dem übrigen Musikleben jener Epoche wenig Genuß und Ersatz finden. Das Unzureichende, Dilettantische der »Gesellschafts-Konzerte« und der »Spirituels« war längst allen Blicken klar geworden; die glänzende, aber vorübergehende Erscheinung von Otto Nicolais »Philharmonischen Konzerten« hatte dies Dunkel durch den Gegensatz noch fühlbarer gemacht. Die »Tonkünstler-Gesellschaft« war in ihren »Jahreszeiten« und »Schöpfung« völlig eingefroren. Von den neueren geistvollen Komponisten Deutschlands nahm man keine Notiz: Schumann, Gade, Hiller, Sterndale-Bennett, Carl Loewe, Robert Franz und R. Wagner waren so gut wie unbekannte Namen. Die Abgeschlossenheit von Deutschland, ja die mißtrauische Abneigung gegen dasselbe zeigte sich offen in unseren musikalischen Verhältnissen. Mendelssohn hatte in Wien erst spät Eingang gefunden; sein »Paulus« ist früher in den kleinsten Städten Deutschlands, er ist früher in Amerika aufgeführt worden als in Wien, und als dies endlich geschah, war man nicht allzu sehr begeistert.

Der gewaltige Sturm der Märzerhebung fand fast augenblicklich sein nachzitterndes Echo in dem Kunstleben Wiens. Das erste Lebenszeichen des neuen politischen Umschwungs, das auf künstlerischem Gebiete sich kundgab, war destruktiver Natur: die Verjagung der italienischen Oper. Am 1. April 1848 sollte die italienische Saison unter der Direktion des Signor Ballochino mit Verdis »Ernani« eröffnet werden. Kaum aufgeklebt, waren aber auch schon alle »Ernani«-Zettel zerkratzt, besudelt, herabgerissen.[80] Diese Demonstrationen bestimmten die Hofbehörde, den Anfang der italienischen Saison »auf acht Tage« zu verschieben. Eine Unzahl anonymer Drohbriefe und das flehentliche Drängen der Freunde veranlaßten jedoch Ballochino, weder mit »Ernani« noch mit sonst etwas den Anfang zu machen, sondern seine Resignation einzureichen, die auch mit Dekret vom 16. April bereitwillig angenommen wurde. Die italienischen Sänger zerstoben nach allen Richtungen. Der Demonstration gegen die italienischen Sänger lagen die zwei mächtigsten Strömungen jener Tage zugrunde: die nationale und die demokratische. Der ersteren war man sich vollkommen bewußt und betonte sie ungescheut: man wollte deutsches Wesen, deutsche Politik, deutsche Kunst. Fort mit den Erbfeinden des Deutschtums, fort mit den Welschen! Das zweite Motiv, das weniger laut, aber doch unleugbar mitspielte, war demokratischer Natur: die italienische Oper galt nun einmal als exklusiver Kunstluxus, als die Musik des Hofes, der Aristokratie und der Reichen. Sie war somit der künstlerische Ausdruck deutschfeindlichen und spezifisch aristokratischen Vergnügens.

In dem köstlichen Frühlingsrausch der Märztage dachte man bekanntlich sehr sanguinisch über die »segensreichen Folgen«, welche sofort auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit sich zeigen sollten. In der Journalistik vom Jahre 1848 finden wir zahlreiche Aufsätze, welche ein ungeahntes Aufblühen der Künste, speziell auch der Musik, als unmittelbare Folge des neuen politischen Aufschwungs prophezeien. Die schauerliche Leere der Theater und Konzerte, das Eingehen der Musik- und Theaterzeitungen, die Not der Maler, Bildhauer und Musiker hätte die Sanguiniker etwas bedenklich machen können. Es hätte ihnen bedeuten sollen, daß eine Zeit, die alle Köpfe politisch beschäftigt, die alle staatlichen und bürgerlichen Verhältnisse durcheinander schüttelt, daß eine Zeit angespannten energischen Ringens und Kämpfens dem heiteren Spiel der Künste nicht günstig sei. In solchen Zeiten geht die stille, andächtige Sammlung des Gemütes verloren, in welcher allein echte Kunst geschaffen und genossen werden kann. Nicht einen raschen Aufschwung der Kunst, sondern ein Jahrzehnt schweren Darniederliegens hätte man prophezeien sollen.

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 76-81.
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