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[88] Ein Original ganz anderer Art war Graf Ferdinand Laurencin. Im Gegensatz zu dem verstandesscharfen, kritischen Nottebohm war er der musikalische Enthusiast vom reinsten Wasser. Mir ist nie wieder ein Mensch begegnet, den Musik so vollkommen entzücken und beglücken konnte, der so ausschließlich in Musik webte, lebte und – starb. Er war der Sohn eines Kammerherrn des Kardinal-Erzbischofs Rudolf und hat seine erste Jugendzeit am Hofe dieses musikliebenden Fürsten in Olmütz verlebt. Er erinnerte sich noch des vortrefflichen Klavierspiels des Erzherzogs, dem bekanntlich Beethoven Unterricht erteilt und die Missa solemnis gewidmet hat. Seine musikalischen Studien hatte Laurencin bei Tomaschek und bei dem Organisten Pietsch in Prag betrieben. Dann übersiedelte er nach Wien, wo er, mit einer bescheidenen Apanage von seiner Mutter ausgerüstet, hauptsächlich der Musik lebte. Wer kannte ihn nicht, den auffallend kleinen Mann mit dem sehr großen Kopf und den über die Brille hinausschielenden, kurzsichtigen Augen? Wer hat ihn nicht an Sonntag Vormittagen mit einer dicken Partitur unter dem Arm durch die Straßen eilen sehen? Laurencin pflegte nämlich der Musik wegen zwei Messen nacheinander zu hören, er rannte von der Minoritenkirche in die Hofburgkapelle und von da sofort in das Mittagskonzert der Philharmoniker oder der »Gesellschaft der Musikfreunde«.[88] Um halb fünf Uhr Nachmittag war er in der Quartettproduktion Jansas oder Hellmesbergers (welche erst in späteren Jahren auf die Sieben-Uhrstunde verlegt wurde) und um sieben Uhr, wenn es eine klassische Oper gab, auf der vierten Galerie des Hofoperntheaters. Er konnte unglaubliche Massen von Musik ertragen, mit der gleichen Empfänglichkeit. Selbst die allerbekanntesten Werke wie Beethovens Quartette op. 18 oder Mozarts G-moll-Symphonie verfolgte er in jeder Aufführung eifrig mitlesend in der Partitur. Dabei kritzelte er unaufhörlich mit seinem Bleistift Notizen, deren Inhalt ich niemals enträtseln oder erfahren konnte. Bei jeder schönen Stelle, und deren gab es für Laurencin sehr viele, nickte er vergnügt mit dem Kopf, tat einen Ausruf des Entzückens, schmunzelte, lachte und setzte seinen Bleistift in wütende Bewegung. Seine musikalische Empfänglichkeit und Begeisterung kannte keine Grenzlinie. Eine kanonische Stimmführung in irgendeiner unbedeutenden Schulmeister-Messe, eine sentimentale Modulation von Spohr, der gewaltigste Bachsche Choral und Beethovens Neunte Symphonie – alles tauchte den beneidenswerten Mann in die gleiche Flut von Entzücken. Er hatte in diesem Gebaren ohne Frage etwas Komisches, aber auch etwas Liebenswürdiges, durch kindliche Naivität Rührendes. Es versteht sich fast von selbst, daß einer solchen Gewalt fast elementarischen Musikempfindens nicht eine gleiche Stärke ästhetischen Urteils zur Seite stand. Laurencin war auch sehr leicht aus seiner ursprünglichen Ansicht zu verdrängen. Wir gingen einmal zusammen zu einer Aufführung von Haydns mir damals noch nicht bekannten »Sieben Worten«. Auf dem Wege hin überströmte Laurencin von Bewunderung dieses Werkes und versprach mir Wunderdinge davon. »Nun, was habe ich Dir gesagt?« fragte er freudestrahlend beim Herausgehen. »Aufrichtig gesagt,« erwiderte ich, – »habe ich mich schrecklich gelangweilt.« Ich suchte dieses pietätlose Wort nach Möglichkeit zu rechtfertigen und empfing nach einer Weile Laurencins zustimmendes Votum: »Ja, Du hast recht, es ist doch eigentlich ein Zopf!«

Laurencin schrieb unter dem Namen Philokales in der »Wiener Musikzeitung« von August Schmidt und versah sie insbesondere mit Berichten über die Kirchenmusik-Aufführungen. Er hatte einen Artikel über Mendelssohns »Elias« angekündigt, von dessen Schönheit er ganz erfüllt war. Der Gewalt seiner Empfindung entsprach aber leider auch ein in Superlativen überströmender,[89] sich in den längsten Perioden fortwindender Stil. Laurencin hatte viel Hegel gelesen, was schwerlich zur Klärung seiner etwas konfusen Darstellungsweise beitragen konnte. Da begann er nun mit einer langen philosophischen Untersuchung des Begriffes »Oratorium«, welche mehrere Nummern der Zeitung füllte, dann folgte ein historischer Rückblick, abermals von ansehnlicher Länge, endlich war er bei der Ouvertüre angelangt und kam unter der bedrohlich anwachsenden Ungeduld der Leser und der Redaktion nicht vom Fleck mit seiner gründlichen Analyse. Der Aufsatz gelangte ungefähr bis zur Kritik der zweiten oder dritten Nummer des Oratoriums – da riß dem guten August Schmidt die Geduld: er strich das fürchterliche »Fortsetzung folgt« unbarmherzig von dem Manuskript und versetzte dem bestürzten Grafen den vernichtenden Bescheid: »Jetzt ist's aus.« Es ist niemals eine Fortsetzung des großartigen »Elias«-Artikels erschienen.

Mit einem schüchternen Versuch, Laurencin als Musikreferenten vorzuschlagen, bin ich einmal schlecht angekommen. Es war bei Dr. Ignaz Kuranda, dem Herausgeber der »Ostdeutschen Post« und hochverdienten Begründer der »Grenzboten«, die als verbotener, gierig verschmauster Leckerbissen eine so wichtige Rolle gespielt haben im vormärzlichen Österreich. Wir Wiener wissen, daß der geistvolle Kuranda mitunter recht komisch aussehen konnte. Die illustrierten Witzblätter lebten geraume Zeit von seiner mit drei Linien umrissenen sofort kenntlichen Karikatur. Wenn das kleine hagere Männchen in Eifer geriet – und das geschah sehr leicht –, dann schien seine berühmte Nase noch weiter vorzuspringen, seine Bewegungen überhasteten sich, und seine Stimme überschlug in einen wunderlichen, orientalisch modulierenden Diskant. Kuranda ersuchte mich eines Tages, das Musikreferat in der »Ostdeutschen Post« zu übernehmen. Das konnte ich nicht, denn ich sollte eben nach Klagenfurt verbannt werden, – nicht wie Görgey aus politischen, sondern aus bürokratischen Gründen. »So schlagen Sie mir jemand anderen vor!« Das war damals wirklich nicht leicht; doch äußerte ich nach einigem Nachdenken, Laurencin würde vermutlich gern für die »Ostdeutsche Post« schreiben. »Ja, er wird schreiben, freilich, er wird schreiben,« sprudelte Kuranda, »aber« – und hier flog seine Stimme in die höchste Oktave, »aber wer wird's lesen?« Das klang so schlagend und zugleich so komisch, daß ich vor Lachen nichts entgegnen konnte.[90]

Eine durchaus innerliche musikalische Natur, hatte Laurencin unüberwindlichen Abscheu vor der »verfluchten Politik« und jeder dahin einschlägigen Diskussion. In Momenten der größten politischen Aufregung und Bestürzung, während des Barrikadenkampfes und dem Anmarsch Jellacics gegen Wien fand ich Laurencin in seiner hochgelegenen Stube emsig vertieft in Hegels »Phänomenologie« oder in die H-moll-Messe von Bach. Er wußte gar nicht, was draußen vorging, wollte es auch nicht wissen. Eine zeitlang praktizierte er beim Landesgericht und sollte die erste Richteramtsprüfung machen. Da hatte er denn anstatt Hegel und Bach das Strafgesetzbuch vor sich liegen. Aber bei seiner philosophischen Gründlichkeit und Umständlichkeit blieb er immer an dem § 7 haften, so daß man in jedem Sinne sagen darf, er ist in seiner richterlichen Laufbahn nicht über den »Versuch« hinausgekommen. Eine kleine Erbschaft von seiner Mutter machte es ihm später möglich, diesem Beruf, für den er schlechterdings nicht paßte, rasch Adieu zu sagen. Laurencin hatte sich mit einer nicht mehr jungen, hochgebildeten Dame verlobt, welche als Gouvernante bei einer gräflichen Familie in Böhmen lebte. Ich ergötzte mich oft daran, ihn abends im »Juridisch-politischen Leseverein«, diesem wohltätigen Asyl für uns studierende Junggesellen, emsig schreiben zu sehen, einen dicken Folianten vor sich. »Was schreibst Du denn da? –« »Oh,« erwiderte er mit einem glückstrahlenden Lächeln, »an meine göttlichste, liebenswürdigste Antoinette.« – »Und so viele Blätter?« – »Ja, ich schreibe ihr täglich sechzehn bis vierundzwanzig Seiten und ja kein Wort von der gottverdammten Politik – nur was mein Herz mir diktiert.« Seine Mutter, »die alte aristokratische Frau«, wie er oft schmähte, wollte die Heirat nicht zugeben. Später erreichte er doch sein Ziel und ward einer der glücklichsten Ehemänner, die es gegeben hat. Der kleine Laurencin neben seiner ungewöhnlich großen Frau bot freilich einen komischen Anblick, aber seine Ehehälfte – von Ambros sein »Ehe-Siebenachtel« genannt – wußte ihm das Leben zu glätten und zu verschönern. Es war der härteste Schlag für ihn, als der Tod ihm seine Antoinette raubte, und nie hat er sich völlig von diesem Schlag erholt. Die Musik mußte ihm nun sein Alles sein und ward auch tatsächlich sein Alles. Im Jahre 1891 hatte ich noch die Freude, im engsten Freundeskreise, mit Brahms und Ehrbar den siebzigsten Geburtstag Laurencins zu feiern. Wie erquickte uns seine kindliche Freude, sein dankerfülltes Gemüt! In[91] einem scherzhaften Toast sagte ich, auf seine Hinneigung zur neu-deutschen Schule anspielend, Laurencin habe zwar den übermäßigen und den verminderten Dreiklang verherrlicht, aber seine Seele werde dereinst sicherlich in Gestalt eines reinen Dreiklangs zum Himmel aufsteigen. Wir ahnten nicht, daß dies so bald geschehen werde. Laurencin hat seinen siebzigsten Geburtstag nur um wenige Wochen überlebt. –

Quelle:
Hanslick, Eduard: Aus meinem Leben. Kassel, Basel 1987, S. 88-92.
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