VII.

[55] Zu meiner Zeit gastierte an kleinen Bühnen in der Umgegend Bremens der damals hochberühmte Wilhelm Kläger, der genialste und zugleich beklagenswerteste aller Schauspieler.

Kläger stand einst in Leipzig im Zenith seines Ruhmes, das Publikum vergötterte ihn und er konnte sich viel – sehr viel erlauben, ja man verzieh ihm sogar, daß er dann und wann in einem Zustande auf der Bühne erschien, den man auf deutsch »angesäuselt« nennt, entschädigte er doch im Laufe des Abends durch so wundervolle hinreißende Momente, daß das Publikum seinen Rausch vergaß und ihm zujubelte.

Ein toller Streich, den man ihm nacherzählt, hätte ihn aber bald um diese Gunst gebracht. Es wurde »Wilhelm Tell« gegeben. Kläger, der den Landvogt Geßler zu spielen hatte, zechte noch, nachdem der Vorhang längst aufgegangen, in seinem Stammlokale mit seinen Kneipbrüdern. Da stürzt der Theaterdiener atemlos herein: »Weeß Knebbchen, da sitzt er noch ganz gemietlich! Herr Kläger, kommen Se doch ins-Theater, in zehn Minuten sollen Se ja schon ufftreten.« »Ach was,« riefen die Zechkumpane in ihrer Weinlaune, »jetzt ist es gerade gemütlich, Sie dürfen nicht fort! Kläger hierbleiben, hierbleiben, Paragraph elf, es wird fortgetrunken« – so scholl es durcheinander. Kläger erhebt sich, schüttelt geschmeichelt sein Haupt und spricht mit lallender Stimme: »Kinder, in einer halben Stunde bin ich wieder bei Euch, ich sorge dafür, daß das Stück dann aus ist.« »Unmöglich«, ruft man, »Tell dauert ja noch mindestens zwei Stunden.« Doch[56] Kläger sagt: »Mein Wort zum Pfande, in einer halben Stunde ist es aus, ich sorge dafür, Ihr seht mich bald wieder.« – Unterdessen ist im Theater das Stück weiter gegangen, und als nun Tell »dem Hute nicht Reverenz bewiesen«, tritt Kläger als Geßler in großartig düsterer Maske, wie immer, auf. Tell wird vorgeführt und Geßler befiehlt ihm, den Schuß zu thun. »O Herr, erlasset mir den Schuß« bittet Tell verzweiflungsvoll – und nun ereignet sich etwas, was wohl in den Annalen der Theatergeschichte einzig dasteht. Kläger geht finster auf Tell zu, legt ihm die Hand auf die Schulter und sagt ganz vergnügt: »Na meinetwegen, weil ich heute grad in guter Laune bin, ich erlasse Dir den Schuß, geh nach Haus und grüß' mir Deine liebe Frau« – sprachs und ging stolz durch die Mitte ab. Zuerst war das Publikum starr, dann aber brach ein Entrüstungssturm los, der Vorhang mußte fallen, das Publikum verließ empört das Theater. Freund Kläger saß unterdessen schon wieder inmitten seiner Getreuen, er hatte sein Wort gehalten, Wilhelm Tell war nach einer halben Stunde aus. –

Lange durfte Kläger nicht wieder auftreten, doch als Gras über die Sache gewachsen und er dann als Richard III. wieder vor das Leipziger Publikum trat, da empfing ihn – ein Beifallssturm! – Man verzieh dem Genie eben alles. – Als Kläger dann später durch seine unglückselige Trunksucht immer tiefer und tiefer gesunken war, und an kleinen Bühnen sein Leben fristete, trat er auch eines Abends in Neubrandenburg schwer betrunken vor das dortige Publikum. Die guten Kleinstädter fühlten sich aufs tiefste beleidigt und äußerten ihr Mißfallen in unzweifelhafter, lautester Weise durch Zischen und Trampeln. Da richtet sich Kläger hoch auf, wankt bis vorn an die Lampen, blickt das zischende Publikum mit unsäglicher Verachtung an und sagt vor Trunkenheit lallend: »Wenn ein Künstler wie Kläger sich herabläßt, in einem solchen Neste wie hier zu gastieren, dann muß er entweder verrückt oder besoffen sein – ich habe das letztere vorgezogen.« –[57] Nach Bremen pflegte oft Bogumil Dawison in seiner guten Zeit zum Gastspiel zu kommen. Dawison war ungemein eitel, er hatte sich vom armen Polen, der anfangs nicht einmal der deutschen Sprache mächtig war, zum ersten deutschen Schauspieler emporgeschwungen, er hatte es erreicht und das wollte er absolut bleiben. In einer Theaterzeitung war über den Shylock des Charakterspielers Deutschinger in Bremen geschrieben,[58] daß er nicht nach Art der fahrenden Virtuosen, wie Dawison etc., sondern nach eigenen Intentionen die Rolle aufgefaßt habe. Dawison kommt nach Bremen und spielt den Richard III. Deutschinger spielte den Catesby in dem Stück. Auf der Probe legt Dawison Deutschinger die rechte Hand auf die Brust und streichelt ihm, Deutschinger scharf fixierend, den Rock mit der Hand. »Sie sind Herr Deutschinger, nicht wahr?« fragte Dawison. Deutschinger bejaht es und wirft den Blick, als Dawison ihn so scharf mit seinem stechenden Auge fixiert,[59] zu Boden. »Sie müssen meinen Blick aushalten,« wiederholt Dawison kräftiger betonend. Deutschinger stutzt und läßt, unmutig über die Schulmeisterei, den Blick wieder zu Boden fallen. Auf einmal schleudert ihn Dawison von sich und ruft wütend: »Herr, lassen Sie über Ihren Shylock schreiben, was Sie wollen, Sie sind doch nur ein Stümper gegen mich!« Deutschinger wollte etwas erwidern, Dawison hatte sich aber in eine Wut gesteigert, daß ihm der Schaum vor dem Munde stand. »Herr,« brüllte er weiter, »danken Sie Gott, wenn ein Löwe der Schauspielkunst Ihnen gute Lehren gibt!« – »Ich kann mit dem Menschen nicht spielen,« sagte er zum Regisseur, und ging von der Probe. Es brauchte lange Zeit, es war bereits Mittag geworden, bis es dem Direktor gelungen war, Dawison zu bewegen, weiter zu probieren. Nun thats Dawison leid, er wußte nicht, nachdem er sich Luft gemacht, was er thun sollte, um Deutschinger zu beruhigen. Er bat ihn fast um Verzeihung, und die beiden wurden die besten Freunde, als ihm Deutschinger erklärte, daß er ihn doch für den größten deutschen Schauspieler halte.

Einen andern Abend spielte Dawison den Alsdorff im »Bemoosten Haupt«. Dawison sang sehr schön, er hatte sich den Alsdorff in Dresden mit vielen studentischen Gesangs-Einlagen zurecht gemacht, damit großen Erfolg gehabt und spielte die Rolle als Gast in Bremen. Ich hatte die Rolle des Stiefelputzers Strobel inne, und hatte mir seit Jahren auch diese Rolle mit allerhand guten Zuthaten und Extempore's ausgestattet und, war beliebt in dem Stück. Als Dawison – fern von seiner Stammbühne – vielleicht nicht den Applaus einerntete, der ihm in Dresden zu teil geworden, und der Applaus sich auch großenteils auf den Strobel erstreckte, wurde er so matt in seiner Darstellung, daß die Vorstellung ein recht klägliches Ende nahm. Nach jeder Scene, die ich gespielt, kam er hinter der Kulisse zu mir und warf mir Sottisen an den Kopf. Schließlich nahm ich's übel und drehte ihm den Rücken zu. Nachdem die Vorstellung zu Ende und er mit Umkleiden begriffen[60] war, klopft er an meine Garderobenthür – ich zog mich neben seiner Garderobe an – und ruft mir zu: »Junkermann, wir gehen in den Ratskeller.« Ich antwortete ihm, er möge sich einen andern suchen, dem er seine Grobheiten an den Hals werfen könne, ich ginge nicht mit. Er ließ mich aber nicht los, war über alle Maßen liebenswürdig, kaufte für uns beide Makrelen, die er so gerne aß, und wir gingen in den Bremer Ratskeller. Kaum die Ratskellertreppe heruntergestiegen, sitzt da Kläger! Letzterer war im Theater gewesen, hatte sich Kollege Dawinson angesehen, und war nun natürlich schon wieder halb angetrunken. Kläger taumelt auf uns los und Dawinson schreit mir in die Ohren: »Donnerwetter, muß der Kerl diese Rolle von mir sehen.« Wir setzen uns alle drei in eine abgeschlossene Zelle, wie sie im Bremer Ratskeller vorhanden, und Dawinson fordert Kläger auf, ihm eine Szene aus: »Im Vorzimmer Sr. Exzellenz« vorzuspielen. Kläger spielt wunderbar, Dawinson war mit mir aufs tiefste ergriffen. »Trinken Sie, trinken Sie«, rief er Kläger zu. Kläger that's und fiel bald darauf in tiefen Schlaf. »Sehen Sie diesen gottbegabten Menschen an« – sagte Dawinson zu mir – »ein Glück, daß der Kerl säuft, sonst existierte ich nicht!«

Klägers gewaltiges Talent erkannte Dawinson immer. So oft wir uns im Leben wiedersahen, sprach er von seinem Schreckbild: Kläger.

Dawinson hatte sich in Amerika den Keim des Todes durch Ueberanstrengung geholt, ich nahm ihn in Bremen in Empfang, als er von dort zurückkam, eine Reisetasche mit 52000 Dollars Inhalt in der Hand haltend. Nach längerer Zeit hörte ich von seiner Erkrankung und suchte ihn in Teplitz auf. Seine Frau meldete mich ihm an. Ich trat ein – ein trauriges Wiedersehen! Er war stumpfsinnig, ein langer weißer Bart fiel aus dem bleichen Gesicht in seinen Schoß hernieder, ein trostloses Leiden hatte ihn dermaßen entstellt, daß ich ihn kaum erkannte. Als seine Frau ihm sagte: »Junkermann ist da und möchte dich sprechen«, lallt er: »ja, ja – ich sp–ie–le bald wieder Kömödie[61] – Kläger soll – nicht« – – – sein Kopf fiel zurück .... Wenige Tage darauf verschied das gewaltigste Genie, das ich in meiner Bühnenlaufbahn kennen gelernt. Das höchste in der Kunst hatte er erreicht durch die Energie des Willens, die ihn bis zur Todesstunde nicht verließ.

Quelle:
Junkermann, August: Memoiren eines Hofschauspielers. Stuttgart [1888]., S. 55-62.
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