Dreiundzwanzigstes Kapitel

Freundschaft.

[91] Freundschaften soll man nicht unbedacht schließen.

Es ist weit schwieriger, sich wieder zurückzuziehen als Freundschaften anzuknüpfen.

Es ist unpassend, sich an einen Höhergestellten mit seiner Freundschaft heranzudrängen.

Einen Höhergestellten soll man stets an sich herankommen lassen.

Man vergibt sich weit weniger, wenn man gegen einen Geringeren zuvorkommend, als wenn man gegen einen Höherstehenden aufdringlich ist.

Die Brüderschaft biete man nur demjenigen an, von dem man fest überzeugt ist, daß dies nach seinem Sinn ist.

Es gehört durchaus nicht zum guten Ton, sich mit jedermann zu duzen.

Das kleine Wörtchen »Sie« zieht immer noch eine Schranke, die, wenn es zu lebhafteren Diskussionen kommt, vor Ausschreitungen hütet.[91]

Hat man einmal mit jemand Freundschaft geschlossen, dann ist es höchst taktlos und ungebildet, sich hinter seinem Rücken über ihn lustig zu machen. Hingegen kann man einem wirklichen Freund eine Wahrheit ins Gesicht sagen, ohne gegen den guten Ton zu verstoßen. Es muß dies nur in der richtigen Form geschehen.

Man hüte sich, von Fremden, ehe man sie näher kennt, größere Freundschaftsdienste anzunehmen, weil man damit gleichzeitig die Pflicht übernimmt, solche betreffendenfalls zu erwidern, wozu man oft bei näherer Bekanntschaft keine Neigung verspürt.

Es ist kleinlich, einem Freunde jede Kleinigkeit übel zu nehmen.

Man soll alte Freunde nicht über neue zurücksetzen.

Man zerstöre bei jungen Leuten nicht die Illusion der Freundschaft durch Spöttereien und philosophische Betrachtungen eigener Erfahrungen.

In jeder Illusion liegt etwas ideal Beglückendes, vor allen Dingen in der Freundschaftsillusion.

Lassen wir der Jugend, die heutzutage ohnehin schon genug angekränkelt ist von der alles zersetzenden Aufklärungsmanie, das glückliche Vorrecht eines Traumgebildes wahrer Freundschaft.[92] Wir haben es auch gehabt und haben uns berauscht daran und gestärkt zu edlem Streben.

Für jeden kommt doch ganz von selbst, früher oder später, die Zeit nüchternen Erwachens, in der er nebst andern Täuschungen der Jugendzeit auch die schöne Illusion wahrer, echter Freundschaft auf einen winzig kleinen Restteil zusammengeschmolzen sieht.[93]

Quelle:
Kallmann, Emma: Der gute Ton. Berlin 1926, S. 91-94.
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