Auf der Straße.

[62] Indem man ein Haus verläßt oder dasselbe betritt, geht die Dame dem Herrn, die ältere der jüngeren, stets voran und hat letztere dann die Thür zu öffnen respective zu schließen. In gleicher Weise läßt man auch Aeltere, Höherstehende, Herren wie Damen, an der rechten Seite gehen. Begegnenden wird rechts ausgewichen und sei man damit schnell bereit, damit man nicht in unliebsame Berührung mit Andern kommt, wohl gar gestoßen oder getreten wird. Ist uns aber dergleichen durch unser Verschulden, Andern gegenüber, passirt, so bitten wir höflich um Entschuldigung. Das Wort »pardon« – oder »Verzeihen Sie«, muß uns ebenso leicht zu Gebote stehen, wie den höflichen Franzosen, wo der geringste Arbeiter, nicht wie es bei uns so häufig geschieht, sich aus dem Staube macht, wenn er etwas angerichtet hat, sondern uns sein Bedauern ausdrückt.

Ist Jemand durch unser Verschulden gefallen oder verletzt, so haben wir uns sofort zu bemühen, ihm zu helfen und dürfen ihn nicht eher verlassen, bis er unserer nicht mehr bedarf.

Das Stehenbleiben auf dem Trottoir und an den Straßenecken hat für die Passanten sehr viel Unbequemes;[62] man sei daher achtsam und trete zur Seite, wenn Jemand naht.

Ist die Passage sehr eng, oder etwa ein schmaler Steg zu überschreiten, läßt man stets der Dame den Vortritt und wartet ruhig, zur Seite stehend, bis sie vorüber. Beim Hinaufsteigen einer Treppe geht der Herr voran, beim Hinuntersteigen hinterher.

Geht man auf dem Trottoir zu drei oder vier Personen, so hat die an der Ecke befindliche stets zurückzutreten und so die Begegnenden vorüber zu lassen.

In einem Gedränge wird der Herr den Damen vorangehend ihnen Platz zu schaffen suchen, doch darf dieses nur auf ruhige, höfliche Art geschehen.

Laut zu lachen, zu schreien, ja selbst laut auf der Straße sich zu unterhalten, ist unfein.

Stöcke und Regenschirme sind nie unter dem Arme zu tragen, sondern stets so zu halten, daß man Andere nicht damit verletzen kann. Wie häufig ist durch eine Nachlässigkeit in dieser Regel großes Unheil geschehen.

Auch bezeichne man nicht mit dem Schirm oder Stockknopf einen Gegenstand im Schaufenster oder ein Bild. Ein Stoß, den wir unvorsichtig erhalten, kann das Fenster zertrümmern, das Bild beschädigen. Die Verordnung, daß man in allen Museen vor dem Betreten der Säle sich dieser Sachen entledigen muß, verdankt ihr Entstehen nur dieser leidigen Gewohnheit.

Auf einen Menschen mit dem Finger zu zeigen ist unschicklich.

Die Rücksicht gegen unsere Nebenmenschen verlangt, daß wir uns dem Schritt des uns Begleitenden anschließen, nicht etwa vorangehen, wenn er langsamer von der Stelle kommt, und stehen bleibend ihn erwarten. Dagegen können wir auch verlangen, daß derjenige, der sich uns angeschlossen, nicht durch fortwährendes Zögern unsere Geduld mißbraucht, und solches thut, während seine Kräfte ihm erlauben gleichen Schritt mit uns zu halten.

Bei weiten Spaziergängen, Touren, Fußpartien prüfe sich vorher ein Jeder, ob er dem Wege, der Anstrengung auch gewachsen sei, wenn er nicht das Vergnügen[63] seiner Genossen gänzlich stören oder doch sehr beeinträchtigen will. Es ist für denjenigen, der selbst frischen Muthes, leichten Schrittes durch die weite Gotteswelt schreitet, der spielend die Berge erklettert und jedes Hinderniß, das sich ihm in Wald und Felsgestein bietet, überwindet, eine große Prüfung, sich stets durch das Unvermögen seines Gefährten gehemmt zu sehen. Also schwache und alte Leute sollen billig sein gegen kräftig und jugendliche Wanderer, sich ihnen nicht aufdrängen Sie sollen mit zufriedener Miene die Anderen ziehen sehen und in der Erinnerung an die Jugendzeit ihnen ihre Freude gönnen.

Aber wer von den Jungen und Starken würde hin wiederum so herzlos sein, auch nicht gern bei denen zurückzubleiben, die ihm nicht folgen können, würde nicht nach ihren Wünschen, ihren Fähigkeiten die Weite und die Anstrengung des Spazierganges bemessen.

Auch wird er, sollte man sich getäuscht haben, sollten die Kräfte nicht ausreichen, der Weg weiter sein als er gedacht, gewiß den Schritt hemmen und ein gutes Plätzchen zum ruhen suchen, einen stützenden Arm bereit halten.

Kleine Rücksichten von beiden Seiten verlangt die gute Sitte, und zwar müssen wir, ohne daß man uns aufmerksam zu machen braucht, sehen und wissen, wo und wann sie zu nehmen sind.

Quelle:
Kistner, A.: Schicklichkeitsregeln für das bürgerliche Leben. Guben 1886, S. 62-64.
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