1.

[215] Am 4. August 1870 war Berlin in furchtbarer Aufregung. Nicht eben weil wir just angekommen waren. Man erwartete Nachricht vom Kriegsschauplatz. Die Heere waren bei Weißenburg gegeneinander gerückt, die Schlacht war im Gange. Auch uns hatte das Fieber der Erwartung schon im Zuge gepackt. Wir fuhren vom Bahnhof direkt in die Markgrafenstraße 77, wo unsere mir noch unbekannte Wohnung lag, und wurden vom Hausmädchen freundlich in Empfang genommen. Wir fanden zwei Vorder- und zwei Hinterzimmer nebst Küche vor, ohne weiteren Zubehör (Berlin war damals noch nicht einmal kanalisiert), nicht unelegant aber bescheiden meubliert. Nur vor einem Riesenbett, das im sogenannten »Berliner Zimmer« stand, erschrak ich, in dem Mama und ich vorläufig zusammen schlafen mußten, das erst nach acht Tagen abgeholt wurde, um meinen eigenen Betten Platz zu machen.

Es war wohl 7 Uhr abends, als wir ein wenig umgekleidet, auf die Straße, den Linden zustürzten, wohin, wie wir sahen, alles drängte. Man rief Extrablätter aus; alles lief und schrie durcheinander. Gruppen hatten sich gebildet, in deren Mitte die Depeschen, d.h. der Sieg unsrer deutschen Truppen, laut vorgelesen wurden. Hier wurde »hurrah« geschrien, dort weinte man laut vor Freude; und wir beiden eben »Hereingeschneiten« weinten mit den uns gänzlich fremden Menschen. – Man zog mit Hurrahgeschrei vor des Königs Palais. Enthusiasmus und Menschengewühl nahmen immer größere Dimensionen an. Ungewohnt solcher Szenen suchten wir voller Angst einen Ausweg nach irgendeiner Nebenstraße zu gewinnen, wo wir einem Leipziger Bekannten in die Arme rannten, der sich sofort zu unserm Führer und Beschützer aufwarf. Ich weiß heute nicht einmal mehr, wer es gewesen, weiß nur, daß wir zusammen aßen und um 10 Uhr vor verschlossenen Türen standen. Unser Haustor hatte keine Klingel; alles Rufen,[215] Fragen, Suchen war umsonst, wir waren einfach ausgesperrt. Wohl oder übel mußten wir uns zu einem Nachtquartier im Hotel entschließen und fuhren nach Schmelzer, wo wir ein gutes Zimmer und erhoffte Ruhe fanden nach dem so ereignisreichen Tage.

Am frühen Morgen wurden wir sehr unliebsam aus unsern Träumen durch Gesang geweckt, der ganz in unserer Nähe erscholl und uns geradezu empörte. Als wir beim Fortgehen den Korridor überschritten, mußten wir am Zimmer des betreffenden Sängers, dessen Tür halb offen stand, vorüber. Über drei Stühlen ausgestreckt, lag ein Riesenmensch im Nachtgewand, der Atem- und Tonstudien machte. Ein einziger Blick genügte, mich den verrückten Zottmeyer erkennen zu lassen. Vorsichtig, lautlos, schlichen wir ungesehen vorbei. Zu Hause angekommen, belehrte uns das Mädchen, daß man in Berlin nicht ohne Hausschlüssel ausgehen dürfe, da ein Portier nicht vorhanden und man höchstens auf die Gnade des Nachtwächters angewiesen sei, der, wenn man sich legitimieren könne, einem das Haustor öffne.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 215-216.
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