22.

[262] Wollte ich mein Programm ausgeführt sehen, so mußten wir außerordentlich fleißig sein. Der Winter brachte mir viel Anstrengung durch unendliche Proben zu Neuaufführungen, und das alte Repertoire stand auch nicht still. Nachdem ich schon in Tauberts Macbeth die erste Hexe gesungen, an die ich mich mit wahrer Schaffenslust machte, kreierte ich auch noch die Maria in seinem Cesario (nach Shakespeares »Was Ihr wollt«). Diese entzückende Rolle, die ich nach besten Kräften gestaltete, voll Leben und Übermut ausstattete, brachte mir die erste und einzige Strafe am »schwarzen Brett« im Konversationszimmer ein, die mich 3 Mark kosten sollte! Zur Serenadenszene im zweiten Akt, wo Maria, um Malvolio zu necken, in ihrer Herrin Kleider am Fenster erscheint,[262] ihm eine Rose zuzuwerfen, die sie in Händen trägt, hatte ich mir eine Riesenrose, es war wohl ein Lampenschirm, anfertigen lassen und rückte erst im letzten Moment damit heraus. Natürlich lachte das Publikum, meine Kollegen, und nur der scherzfeindliche Direktor Ernst war wütend. Nach Rücksprache mit Hülsen, der selber furchtbar gelacht hatte, schenkte man mir die Strafe und entfernte den Aushang.

»Cesario« kam im November, im Januar »A-ing- fo-hi« von Würst, heraus. Am 17. April erlebten die »Maccabäer« von Anton Rubinstein ihre Première und einen großen nachhaltigen Erfolg. Die Oper, die außer in Berlin nur über wenige Bühnen ging und schnell wieder verschwand, dankte ihren dauernden Erfolg der so günstig individuellen Besetzung aller Hauptrollen. Marianne Brandt war als Leah unerreichbar. Zwar wehrte sie sich mit Händ' und Füßen gegen die »Altpartie«, eine Marotte, die sie fortwährend mit sich selbst in Kämpfe verstrickte, führte während der Proben die schrecklichsten Szenen auf, behauptete laut klagend und weinend: »die Rolle ist der Nagel zu meinem Sarg!« sang die Rolle aber mehr als 50mal, ohne daran zu sterben. Ihr hauptsächlich hatte A. Rubinstein den Erfolg zu danken, die ihre Partie mit aller künstlerischen Hingabe und dem Aufgebot all ihrer Kräfte ausstattete. Betz war ein ganzer Mann als »Juda«, wenn auch kein leidenschaftlicher Held. Sicher hatte die Intendanz die Rolle der Noëmi nicht für sehr wichtig gehalten, sonst hätte man sie mir nicht zugeteilt. Ich aber sah gleich wie lieblich die Figur, »das Röslein von Saron«, gehalten war; wie sie den Schmerz um ihren, vom eigenen Gatten erschlagenen Vater fast stumm im Ausdruck wiedergeben und sich am Schluß zu einer Heldin würde aufschwingen können. Von nun an hatte ich eine dramatische Aufgabe, etwas, nach dem ich mich seit meiner Kindheit sehnte, seit ich mit Frau Binder in Prag studierte, die ich damals schon bat, so schwach ich war, mich etwas Dramatisches lernen zu lassen. Alten Briefen entnehme ich, daß Mama schon ziemlich früh, Spuren dramatischer Ausdrucksfähigkeit an mir bemerkte, was sie mir aber verschwieg. Heute erfüllt es mich mit großer Befriedigung, wenn Mamachen meine dramatische Laufbahn auch leider nicht erlebte.[263]

Von nun an schloß ich mich ein, ließ mich von niemand mehr und von nichts in meinem Studium stören, wies alle Bekannten ab und studierte, wie man studieren muß, d.h. ich lebte nur noch meinem Studium und meiner Kunst. Somit war die Noëmi der eigentliche Anstoß zu einer neuen Epoche in meinem künstlerischen Schaffen. Nicht, daß ich mir nicht mit allem und jeder kleinsten Aufgabe dieselbe eingehendste Mühe gegeben oder weniger gut ausgearbeitet hätte. In dieser kleinen Noëmi lag aber ein Zug ins Große. Die Figur wuchs – oder konnte doch im Lauf des Werkes wachsen. Nach solch einer Aufgabe hatte sich mein Ehrgeiz längst gesehnt, sie allein konnte mich reizen und befriedigen. Der Erfolg gab mir und meinen Wünschen recht und neue Nahrung.

Charlotte Grossi war eine bildschöne Kleopatra, Heinrich Ernst ein feuriger Eleazar. Karl Eckert leitete die Proben, Rubinstein sollte die Premiere dirigieren. Der »liebe Löwe« hatte aber keine Theater- oder Opernroutine. Nach manchen Drangsalen unerquicklichen Hin- und Herparlamentierens übergab der Löwe sein Zepter an Karl Eckert, dessen Umsicht stärker, und in dessen Händen das Werk viel besser aufgehoben war als in den seinen.

Der liebe Löwe Anton Rubinstein! Seine Herzensgüte und Bescheidenheit sind wohl nur mit Franz Liszts herrlichen Eigenschaften zu vergleichen. Größe und Weichheit seines Spiels sind unvergleichlich. Ich hatte ihn lieb und verehrte ihn von ganzem Herzen; ihn und seine liebe Frau Wera. Aber auch er bewahrte seiner ersten Noëmi die treue Freundschaft bis ans Ende seines Lebens. Wie gütig war er stets zu mir, wie glücklich, wenn wir da oder dort zusammen musizierten. In einer der so üppigen Soiréen bei Professor Gustav Richter und seiner schönen Frau Cornelia, geborene Meyerbeer, begleitete er mir einmal einige seiner Lieder. Gleich vom Sturm wilder Leidenschaft gepeitschter Flammen klang die Begleitung des Liedes: »Wenn ich kommen Dich seh«, kaum daß ich nachkommen konnte. Als wir das Lied geendet, war uns beiden der Atem ausgegangen. Das Lied aber hatte gezündet. Er lachte mich aus ob seines wilden Tempos, und wir beide waren glücklich über den Erfolg, d.h. ich nur darum, weil der liebe Löwe mit mir zufrieden war.[264]

Einmal nahm er mich mit zu Adolf Menzel, der heute seine Eisenschmiede im eigenen Atelier (Potsdamerstraße) den Augen seiner intimsten Freunde enthüllte. Als wir nach der Probe im Wagen saßen, berührten wir das künftige Bayreuth. Neidlos, doch sicherlich mit dem leisen Wunsche, daß auch er ein solches für sich finden möchte, glaubte der Löwe nicht an das Gelingen, oder höchstens an eine einzige vorübergehende Aufführung. Gleichzeitig erzählte er mir von seinem »Christus«, auf den er große Hoffnungen setzte, ein Werk, das, wie ich glaube, in Deutschland nie aufgeführt wurde.

Bei Menzel trafen wir Künstler und Schriftsteller, die vor dem Bilde in stummer oder lauter Bewunderung saßen und herumstanden. Ich verstand damals noch blutwenig von Malerei und mußte mich an das Urteil anderer halten. Adolf Menzel nahm mich sehr freundlich auf und blieb so mir gegenüber bei jeder weiteren Begegnung. Als ich ihn einmal in der Ausstellung – Kommandantenstraße seligen Andenkens – just neben dem Erstlingswerk eines uns bekannten Musikers stehend traf, bat ich ihn um sein Urteil. Menzel belorgnettierte die kleine Landschaft gründlich und faßte sein Urteil dahin zusammen: »Der Mann kann nicht zeichnen, der Mann wird nichts.« Der große Meister behielt recht. Nur einmal war er ungehalten, als ich ihn bat, sich uns bei der Petition gegen die Vivisektion anzuschließen, die sämtliche Maler und Künstler – Lenbach an der Spitze – bereits unterschrieben hatten.

Nach Bayreuth traf ich den lieben Löwen oft noch bei Gräfin Schleinitz. Immer hatte er am selben Abend bereits ein Riesenkonzert gespielt, von dem er total erschöpft mit durchnäßter Wäsche und Kleidern, Zigaretten rauchend, im Palais des Hausministers eintraf. Wie ich ihn bat, sich doch etwas Ruhe zu gönnen, antwortete er mir in seiner offenen, ungezwungenen Art: »Ja, Sie haben's gut, Lilli, Sie stehen in fester Gage. Wenn ich mir aber nur ein Nachtgeschirr kaufen will, so muß ich ein Konzert geben.« Armer Mann, dessen Talent und Güte so viele mißbrauchten. Wenige Monate vor seinem Tode begegneten wir uns auf dem Nordwestbahnhof in Wien; wir waren, ohne es zu wissen, im selben Zuge gewesen. Aus Furcht, ihn zu molestieren, wollte ich[265] unerkannt an ihm vorbei, brachte es aber nicht übers Herz. Mutig an ihn herantretend, begrüßte ich ihn herzlich. Es dauerte eine ganze Weile, bis er mich erkannte, seine Augen waren getrübt, er sah nur mehr sehr schlecht. Dann aber erhellte sich sein Gesicht; er strich mir liebreich übers Haar und sagte mit seiner lieben verschleierten Stimme fast wehmütig, langsam und weich, als wollte er mir nicht wehe tun: »Lilli, aber Sie sind ja ganz weiß geworden?« »Das bin ich doch seit lange! Wir haben uns so lange nicht gesehen! Aber auch Sie, Lieber!« »Ja, ich! aber Sie, meine Noëmi!« Wir wechselten nur noch wenige Worte. Er wollte am Abend weiter, nach Rußland. Ich sah Anton Rubinstein nicht wieder!

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 262-266.
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