16.

[129] Das Schwestkatheater.


Wer berühmt werden wollte, mußte seine Karriere im St. Niklastheater begonnen haben. Wieder ein Kloster, in dem das »Komödiespielen«[129] gepflegt wurde. Allerdings war das Kloster schon von Josef II. aufgehoben worden und nur in der alten Kirche wurde noch kurze Zeit zelebriert. Doch scheint es, daß die Familien alle, an welche das entmönchte Kloster durch Kauf oder Erbschaft gefallen war, diese Kunst stets weiter pflegten. Einem »on dit« zufolge soll Schikaneder dort aufgetreten sein, und möglicherweise hat auch Mozarts Fuß die kleine Stätte geweiht. Doch konnte Bestimmtes darüber nicht ermittelt werden.

Als ich mich an diesem Liebhabertheater zum Engagement meldete, war das zum Wohnhaus hergerichtete Kloster in Händen einer Familie »Schwestka«, nach der nun auch das Theaterchen »Schwestkatheater« hieß. Der alte »Herr Direktor« war in zweiter Ehe mit einer sehr dicken, recht hübschen Frau verheiratet, die es fertig brachte, die bekanntesten Worte, – ich erinnere mich hauptsächlich der viel von ihr gebrauchten Ausdrücke: »äth e risch« und »Phänom e n« in »ä therisch« und »Phä no men« umzuwandeln, so daß man oft eine fremde Sprache zu hören vermeinte. Da aber die Rollenbesetzung beim »Herrn Direktor« durch das Herz der »Frau Direktorin« ging, mußte man sich dieses und auch dasjenige der kleinen, hübschen, dicken Tochter Pepi zu gewinnen trachten; ja selbst die alte, dicke Köchin Baby, die einen anmeldete, mußte man zu kirren wissen, wenn alles nach Wunsch klappen sollte.

»Herr und Frau Direktor« spielten nicht mit, obwohl sie kontraktlich nichts daran hinderte. Dafür aber spielte der nicht mehr junge Sohn Karl – aus erster Ehe – ohne Talent, aber mit einem schrecklichen Zungenfehler, die Intrigants. Er war nebenbei noch Inspizient, Kulissenschieber, Dekorationsmaler, Maschinenmeister und auch Lampenputzer, – Berufe, die wir uns dort später auch alle aneigneten. Er hatte also alle Hände voll zu tun, wenn er am Abend seinen Mephisto oder sonst eine große Rolle »hinlegte«. Kein Wunder, daß er seine Rollen nicht immer genau konnte und Sätze dazwischen sprach, die seinem Partner gehörten, was manchmal zu den komischesten Szenen in den größten Tragödien führte. – Dramaturg, Souffleur und Regisseur war ein kleiner, verwachsener Beamter, Namens Wasserreich, der nur spät abends am Samstag und Sonntag ganz frei war. Es wurde nur Sonntags gespielt. Um dieses Direktorium gruppierten sich nun[130] scharenweise die Talente, und in dem kleinen Miniaturtheaterchen spielten sich größere Intrigen ab als am Landestheater. Uns aber tat es großartige Dienste. Als ich mich mit vierzehn Jahren zur Aufnahme meldete, mußte ich natürlich eine Probe meines Talentes ablegen. Frau Binder, bei der ich alle dort zu spielenden Rollen nun einstudieren sollte, riet mir zu einer Szene der Franziska, aus »Minna von Barnhelm«, die ich mit Enthusiasmus »anging«. Frau Binder nahm sie mehrere Male mit mir durch, hatte sie mir reizend einstudiert, doch als ich eines Tages zur Probe kam, zum ersten Male auf der kleinen Bühne stand und loslegen sollte, da wußte ich kein Wort, keine Silbe von meiner Rolle! Und ich hatte doch so fleißig gelernt! Das war die erste Enttäuschung, – die erste Bittere Erfahrung; daß man nämlich zu Hause alles zu können meint, im fremden Raume aber, vor fremden Menschen, in fremder Akustik so benommen wird, daß einem kein Wort einfällt von dem, was man so gut zu können glaubte, und heulend davon laufen möchte, um den Versuch nie wieder zu wagen. Auch ich mußte mich heulend bei der Direktion entschuldigen, und erst nach mehreren Anläufen sagte ich meine Szene voller Fehler und ohne den geringsten Ausdruck her. Wäre es nicht um Mamas willen gewesen, – ich bin fest überzeugt, man hätte mich selbst in dem Liebhabertheater als »unbrauchbar« abgewiesen. Zu meiner größten Überraschung wurde ich aber dennoch tauglich befunden. Vorderhand gab's nur ganz kleine Anmelderollen, die zu lernen man von einem Sonntag auf den anderen Zeit hatte. Alte Ritterstücke oder klassische Tragödien, in denen Karl Schwestka brillieren wollte, wurden bevorzugt, Kotzebue viel gegeben, »Vom Juristentag«, in dem ich das österreichische Dienstmädel spielte, »Die beiden Helden« und viele andere. Um jede Rolle war ein Geriß, denn der Talente waren gar viele und der Ungerechtigkeiten noch mehr.

Als ich ein bißchen eingespielt war und bei Frau Binder manche Rolle schon ordentlich studiert hatte, auch einige Schüler meiner Mutter so weit waren, daß sie sich auf den »weltbedeutenden Brettern« des Schwestkatheaters versuchen konnten, ging's an Possen und kleine Opernszenen. Unter diesen Schülern befand sich eine »Jugendliche«, Marie Walther, der Geschirr abtrocknende Baß, Karl[131] Cech, Bruder des böhmischen Kapellmeisters Adolf Cech, dessen Eltern (Lehrer) ich vom Lande kannte; der Bariton Horwitz, – später an der Wiener Hofoper, – der junge Tenor Cassowitz, – den wir gleich italienisch in Cassio umtauften; Berta Römer, Koloratursängerin; ich für alles und später meine Schwester. Schüler anderer Lehrer drängten sich wohl auch noch dazu; so war alles doppelt vertreten, um Vorstellungen zu ermöglichen. Die jungen Leute waren alle sehr musikalisch, die meisten bettelarm. Cassio, ein ganz junger Jude, dessen Vater im Ghetto mit Hasenbälgen handelte, wöchentlich zirka vier Gulden verdiente, wurde Mama, seiner schönen Stimme halber, gebracht und hatte wirklich ein starkes Talent. Mama mußte ihm zum unentgeltlichen Unterricht aber noch das Essen geben und Kleider für ihn zusammenbetteln. Merkwürdig fein war, trotz aller Ghettoarmut, seine alte Mutter. Er war in Prag und später viele Jahre in Frankfurt am Main engagiert; doch kam ihm die Liebe zu oft entgegen, er ging daran zugrunde. Als er zum ersten Male im Prager Landestheater auftrat, gingen seine Eltern auf die Galerie, um ihn zu hören, – die Mutter in ihrem besten, schwarzseidenen Schabbesstaat. Als sie aus dem Theater kam, hatte sie aber nur noch die Taille an, der Rock war ihr buchstäblich rund herum abgerissen. Mit glücklichstem Humor schilderte die alte Frau den Augenblick der Überraschung, in dem sie sich im Theater, ihres schönsten Schabbesrockes entblößt, vor dem Publikum im Unterrocke stehen sah!

Auch der Sohn des böhmischen Kapellmeisters Meyer sang manchmal bei uns. Karl Meyer hatte eine recht schöne Stimme, war sehr musikalisch, wußte aber gar nichts mit seinen Mitteln anzufangen, übte und lernte nichts dazu. Sein Vater wollte auch nichts von einer Bühnenlaufbahn für ihn wissen und ließ ihn Chemie studieren. Am stärksten war seine komische Ader; er schnitt furchtbar auf, log mit der größten Unverschämtheit und dem heiligsten Ernst das Blaue vom Himmel herunter und erheiterte uns manche Stunde mit diesem »Talent«, so daß selbst meine stille Mutter oft laut auflachen mußte. Mit gar zu musikalischen Menschen hat es aber immer die traurige Bewandtnis, daß sie Notenlesen mit Kunst verwechseln. Wie oft habe ich Mama darüber klagen[132] hören, wie gerade stark talentierte Musiker viel schwerer zu etwas zu bringen seien, und so war es auch hier. Oft bat er mich, ihm den Lohengrin zu begleiten. Dann ging er, Mamas Schere in der hocherhobenen Hand, im Zimmer umher und klappte sie erst zu, wenn ihm das hohe a, in der Stelle: »Hoch über alle Frau'n«, unüberschnappt gelungen war. Alles andere interessierte ihn nicht mehr. Alle unsere Bitten, die Töne weich und vorsichtig anzusetzen, blieben ungehört. Eben wollten wir Gounods »Faust« aufführen, – denn was man im Landestheater konnte, das konnten wir bei Schwestkas auch, – da bat er Mama, ihm den Faust anzuvertrauen, mit dem er seinem Vater den Beweis seiner Stimmmittel und seines Talentes zu geben hoffte. Er versprach alles, schwor fleißig und folgsam zu sein, wenn Mama sich seiner annähme – und manchmal ging es auch ganz gut. Es wurde bei uns und im Schwestkatheater probiert; der Soldatenchor vom Theater gestellt, der Frauenchor von unbeschäftigten Mitgliedern gesungen. Kapellmeister Slansky vom deutschen Landestheater begleitete die Oper am Klavier, und da wir nur einen Klavierauszug geborgt bekamen, soufflierte ich die ganze Oper auswendig. Tänze und Walpurgisnacht schenkten wir uns und dem Publikum. Am Abend ging alles ganz reizend. Karl Meyer hatte versprochen, das hohe c am Schluß der Arie mit Falset zu nehmen, das, stark von Natur, gegen die Bruststimme kaum abstach. Vater Meyer, der zu kommen ebenfalls versprochen hatte, war bis zur Mitte der Arie nicht erschienen. Wenige Takte noch trennten Meyer-Faust vom hohen c und dem Schlusse der Arie. Da tritt der alte Meyer ins Parkett. »Bums« schlägt dem jungen Meyer das natürlich doch mit Bruststimme genommene hohe c um und »bums« klappt im selben Moment Kapellmeister Meyer die Parkettüre zu und ist verschwunden. Heil dem einsichtsvollen Vater, der die Kunst selbst von seinem Sohne nicht profanieren ließ und diesen lieber in eine Zuckerfabrik steckte. –

Derselbe Abend brachte noch eine besondere Überraschung, – meiner dreizehnjährigen Schwester Riezl Debüt. Sie sang vor und nach dem Tode Valentins den Sopran im Chor. Die schöne Stimme und sie selbst zitterten wie Espenlaub, und das kleine Quartett: »Herr, gönne seiner Seele Frieden« klang wie das ArmSündergebet[133] eines uralten, zittrigen Weibleins. Diesem ersten Auftreten folgten langsam viele andere. Wirklich reizend und ausgezeichnet sang sie die schöne Galathee, eine prächtige Vorstellung, zu der Mama die ganze Partitur, alle Rollen und Orchesterstimmen abschrieb, die wir für so lange Zeit nicht geborgt bekamen. Possen und kleinere, ältere Opern gaben wir mit Orchester, das ungefähr zwölf Mann faßte; große Opern wurden mit Klavier gemacht. Den »Freischütz« gaben wir öfters, und Frau Binder hatte mir das Ännchen so reizend einstudiert, daß ich heute noch daran zehre.

Für die letzten beiden Abende, deren ich mich entsinne, waren folgende Opernszenen gewählt worden:


Entree und Duett ausAdalgisa – Berta Römer.

»Norma«Sever – Herr Cassio.

Arie und Duett: »DerRosine–Lilli Lehmann.

Barbier von Seviglia«Figaro – Herr Horwitz.

Duett aus: »DieValentine – Marie Lehmann.

Hugenotten«Marcell – Karl Cech.

Duett aus: »Der Prophet«Berta – Marie Lehmann.

Fides – Lilli Lehmann.

Duett aus: »Maurer undHenriette – Marie Walther.

Schlosser«Mad. Bertrand –

Lilli Lehmann.


Als Fides und Madame Bertrand war ich mittags für die erkrankte Altistin eingesprungen. Meine Schwester noch nicht fünfzehn Jahre, ich siebzehn Jahre alt, sangen die großen Szenen! Und ich hatte mich auch noch um Szenerie, Regie und Kostüme zu kümmern, da Mama wenig freie Zeit für Abendproben übrig blieb. Wir waren aber sicher in allen Rollen und bekamen auf dem kleinen Theater eine große Routine in allen notwendigen Berufskenntnissen, die sich andere entweder nie, oder nur durch jahrelange Engagements anzueignen vermögen. Mama lehrte uns sowohl wie alle ihre Schüler: an alles zu denken, auf alles acht zu haben, alle anderen Rollen mitzulernen, Stichworte und Zwischenspiele in Gedanken mitzusingen, auf alles vorbereitet zu sein und niemals fassungslos dem Zufall gegenüberzustehen. Riezl legte in dem Hugenottenduett gleich ein Zeugnis davon ab, indem sie die Stelle der Bläser, die am Abend nicht einsetzten, ganz selbstverständlich[134] von der Bühne herabsang, als gehörte es zu ihrem Part. In der letzten Vorstellung, einer Wiederholung des voraufgegangenen Programmes, war auch Gräfin Kaunitz, – die sich für mich interessierte, – samt ihrer Familie, die Hühnersteigentreppe ins Theater hinaufgeklettert, was wir viele Jahre später, als ich in Wien gastierte, noch herzlich mit ihr belachten.

Zu den Theatervorstellungen sowie zu den Turnertanzstunden, die ich mit Berta Römer besuchte, brauchten wir natürlich vielerlei Kostüme und Kleider. Wie oft fiel mir beim Lesen der reizenden Erzählung »Little women« von Alcott unsere eigene Jugend ein, wo es genau so zuging wie in dem Buche. Der Verlegenheiten gab es Hunderte, und eine gebar die andere. Wir hatten so wenig überflüssige Garderobe, – fast gar nichts. Zwei Kostüme meiner Mutter, die damals zum Glück nicht mit gestohlen worden waren, also verwendet werden konnten, spielten fast immer und noch lange Jahre in Prag, Danzig und Leipzig mit. Ausgegeben sollte nichts, Schulden nicht gemacht werden; da wir aber spielen mußten, so liehen uns Bekannte, denen Mama selbst tausendfach Gefälligkeiten erwiesen hatte, dies oder jenes. Mama stoppelte alles so geschickt zusammen, daß Frau Burggraf, die erste Salondame, sie oft förmlich bat, ihr etwas für uns leihen zu dürfen, weil sie alles so schön arrangiert zurückbekäme. Wie sehr aber Mamas Kräfte dabei in Anspruch genommen wurden, davon machte nur derjenige sich einen Begriff, der einen Einblick in die Arbeit gewann, die mit diesen, teils notwendigen, teils etwas Vergnügen verbindenden Unternehmungen verknüpft waren. Sie lieh nicht gerne und ich auch nicht. Riezl, – um hübsch auszusehen, scheute sich dessen aber nicht, und Mama schreibt darüber an Frau R... in Kassel:

Prag, 14. November 1866.


»... Garderobe fürs Liebhabertheater kann ich Riezl nicht schaffen, sie borgt sich alles zusammen, worüber ich oft sehr böse bin, da es mich besorgt macht, daß sie alles ordentlich wieder zurückgibt. Lilli hat wenig und was sie hat, hält sie sehr in Ordnung; sie borgt von niemand, aber sie borgt auch niemand, und Riezl gibt sie gar nichts, weil sie fürchtet, es könne ihr auf dem kleinen Theater verdorben werden. Oft schon[135] habe ich, – wenn Lilli im Theater beschäftigt war, heimlich von ihren Sachen genommen, habe sie Riezl in ihr Theater geschickt und sie heimlich wieder hingehängt, damit Lilli es nicht merken sollte ...« Aber Lilli hat es doch gemerkt! –

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 129-136.
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