5.

[98] Sehr wohltätig empfand Mama die Hilfe ihrer Kusine Amalie, Fürstin Karl Theodor Wrede, die uns des öfteren mit herrlicher Garderobe überraschte. Mama konnte dadurch sorglos, ihrer Gewohnheit gemäß, elegant erscheinen, ohne zu tief in ihren eigenen Säckel greifen zu müssen, und auch wir Kinder waren, besonders in jüngeren Jahren, immer gut und kleidsam angezogen, da Mama alles so sehr geschickt und geschmackvoll zu arrangieren wußte. Später haperte es an allen Ecken und Enden. Wir waren so schnell aufgeschossen, so groß, so wild!

Wie oft fiel mir unsere Backfischzeit ein, als man mir in Berlin die nette Geschichte einer königlichen Ballettänzerin erzählte, die ihrem Jungen, der so gar schnell wuchs, eines Tages zugerufen haben soll: »Junge, wenn de wieder so schnell wächst, wees Jott, ick setze dir Plissé an die Hosen!« – die damals gerade Mode waren. Auch wir wuchsen alles aus; überall kamen die langen Füße, Arme und Beine zum Vorschein. Waren sie morgens bedeckt gewesen, am Abend hatten wir sie wieder nackt gewachsen.

Nicht nur für unsern Unterhalt, für unsere Erziehung sorgte, schuf, kochte und schneiderte Mamachen, auch alle unsere Freunde und Bekannten nahmen ihre Güte und Gefälligkeit in Anspruch, und viele mißbrauchten ihre Kräfte auf das schändlichste. Niemals kam sie zur Ruhe, nicht einmal nachts, wo sie, von Sorgen gequält, sich nicht zu erholen vermochte. Andere teilten unsere Mahlzeiten und sie selbst hatte, – wenn sie abends aus der Vorstellung kam, sehr oft nichts weiter als ein trocken Stück Brot[98] und ein Glas Wasser. Dann arbeitete sie oft noch die halbe Nacht, um etwas dazu zu verdienen; denn es langte eben nicht für alle die notwendigen Dinge unserer Erziehung und unseres Unterhalts. Wie es in jener Zeit um Mamas physische, wie seelische Empfindungen stand, davon gibt uns nachstehender Brief ein Bild, die Antwort auf die Anfrage einer ihrer Freundinnen, die uns zu besuchen, bei uns zu wohnen wünschte.


»Die Hauptsache aus Deinem Brief zu beantworten, betrifft Dein Hierherkommen. Ich brauche Dir erst nicht zu sagen, welche Freude es uns machen würde, Dich wiederzusehen, allein in meiner kleinen Wohnung ist es in dieser furchtbaren Hitze eine Unmöglicheit, daß wir alle existieren. Sieh, ich rede ganz offen gegen Dich und Du wirst mir deshalb nicht zürnen. Zuerst würde mich die erhöhte Unruhe, die durch unser Zusammenwohnen unvermeidlich herbeigeführt werden müßte, ganz entsetzlich angreifen, denn ich bin nicht mehr die rüstige Frau, wie Du mich im vorigen Jahre verlassen hast. Durch so viele Erlebnisse bin ich so furchtbar nervös und elend, daß mich ein ungewöhnlich lautes Wort zum Tod erschrecken kann. Im Theater, wenn ich spiele, strenge ich meine Nerven so an, um mich oben zu erhalten, daß ich förmlich dann zu Hause phantasiere. Ich weiß, daß ich es tue, und kann es nicht ändern. Ruhe ist mein Flehen immer zu den Kindern, denn nur Ruhe ist es, was ich noch beanspruche. Ferner würden die Kinder in ihren täglichen Arbeiten, in ihren Klavierübungen, die keine Unterbrechungen erleiden dürfen, durch die Neuerungen zu sehr gestört. Ich halte streng auf die Arbeiten zu Hause, ich denke immer, ich werde ihnen nicht mehr lange behilflich sein können, und dann sollen sie mein Andenken doch ehren können.«


Die Ausbeutung ihrer Kräfte von vielen ihrer Bekannten machte mich sehr bald mißtrauisch gegen die Menschen im allgemeinen, und manchmal zeigte ich schon meine Zähne, wenn es gar zu toll wurde, was auch eine Weile nützte. Oft überfiel mich eine grenzenlose Sehnsucht nach Einsamkeit, daß ich mich zum Sprechen und unter Menschen zu gehen, förmlich zwingen mußte. Vielleicht hätte ich wieder stumm werden mögen wie als kleines[99] Kind. Es kostete mich nur eine einzige Antwort unausgesprochen hinunterzuschlucken, dann stellte sich das Schweigen ganz von selbst wieder ein.

Vater hatte versprochen, soviel in seiner Macht läge, für uns alle zu sorgen. Sicher war es seine Absicht. Hie und da kamen auch Geldsendungen, aber sie wurden immer geringer. Von Zeit zu Zeit kam er selbst, wohnte sogar bei uns, bis es eben nicht mehr ging. Er liebte uns, das wußten wir; er brachte prachtvolle Spielsachen und sonstige Geschenke mit; glücklich aber machte uns sein Kommen nicht, meine Mutter sogar direkt unglücklich. Abgesehen davon, daß unser so regelmäßig eingeteiltes Leben ganz in Unordnung geriet, lebte Mama dann immer in geheimer Angst, er könne ihr auch noch diese Zufluchtsstätte, auf welcher unsere Zukunft gegründet werden sollte, durch unleidliches Hineinmischen verderben. Er ging viel mit uns spazieren und war nicht wenig stolz auf seine Familie. Wäre es uns auch vonnöten gewesen, die Strenge eines liebenden Vaters manchmal zu fühlen, so war das – wie die Verhältnisse nun einmal lagen – ganz ausgeschlossen. Wenn ich heute an all die Sorgen meiner armen Mutter denke, die diese Besuche mit sich brachten, so fühle ich tief mit ihr und verstehe meinen allzu sorglosen Vater immer weniger, der sie so unglücklich machte. Und doch erinnere ich mich eines Spazierganges mit ihm, aufs Prager Belvedere, wo ich zum ersten Male »Steinröschen« auf den Festungswällen brach, deren Gräben die Spaziergänge des Belvederes begrenzten oder noch begrenzen. (Die Festung wurde zum Teil geschleift.) Das Belvedere war mittelst Fähre unterhalb der prachtvollen alten, steinernen Brücke zu erreichen. Auf dem jenseitigen Ufer der Moldau lehnt es sich an die Anhöhen der Kleinseite, führt bis zum Hirschgraben am Hradschin und erstreckt sich bis nach dem »Baumgarten«, in dem des »faulen Wenzels« Schloß liegt. Wir kamen nicht oft dorthin, weil es umständlicher zu erreichen war als die Gärten und Felder hinter dem Roßtore, die uns Kindern auch besseren Spielraum boten. Seit diesem Spaziergang mahnt mich jedes »Steinröschen«, meines unglücklichen Vaters in liebem, wenn auch traurigem Erinnern zu gedenken.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 98-100.
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