Schluß.

[260] Mit Wehmut muß ich am Schlusse dieses Buches noch eines Mannes gedenken, der uns viel zu früh verstarb, dem ich nur einmal zu begegnen brauchte, um ihn einen teuern Freund zu nennen. Als ich eines Tages in Scharfling, mit Tierschutzgedanken beladen, im Garten stand und einen Geistlichen im Reiseanzug daherkommen sah, winkte ich ihm, in plötzlicher Eingebung, grüßend zu und sprach ihn folgendermaßen an: »Geistlicher Herr, Sie gefallen mir, Sie haben ein so sympathisches Gesicht, treten Sie, bitte, näher, ich möchte Ihnen was sagen.« – Der sehr stattliche geistliche Herr, dessen Antlitz mich an Goethe mahnte, lächelte, trat näher und stellte sich mir als Dr. Johannes Baier, Professor am I. königl. Seminar zu Würzburg vor. Na, da hatte doch mal wieder der elektrisch-sympathetische Draht mit Recht laut geklingelt, und lachend hatten wir auch schon unsere beiderseitigen Freunde, die Professoren Kiepert und Schwendemann in meiner Geburtsstadt Würzburg, am Wickel. Tierschutz wurde von Dr. Baier längst gelehrt in seinem Seminar, wie alles, was zur Natur gehörte, die ihm ein offenes Buch wie seine eigene Seele erschien. Nun saßen wir auch schon beim Essen zusammen, denn mein Mann hatte ebenso schnell Freundschaft mit ihm geschlossen, die wir, solange wir lebten, nicht wieder zu verlieren wünschten. Briefe gingen hin und her, Bücher wurden getauscht, und fröhlich waren wir beim seltenen Zusammentreffen in Scharfling, denn Dr. Baier war ein außergewöhnlicher Mensch und ein vielwissender dazu, der nie mit seinem Wissen prahlte, aber gerne dazu lernte.

Von einem Spaziergange im nächsten Sommer heimkehrend, finde ich unser ganzes Haus wie ausgestorben; alle Türen weit offen, niemand gegenwärtig. Da, wie ich die Türe zu meiner[261] Stube öffne, gewahre ich in künstlichem Dämmerlicht in einer Ecke eine männliche Gestalt, phantastisch halb aus-, halb angezogen. Ein weißes Fell über die rechte Schulter, die linke bloß; Schilf, Muscheln und Bänder um Kopf und Arme geschlungen, vor sich ein Tischchen mit blau- und weißer Decke, auf diesem ein ebensolches Kissen, und in der Hand schwingt die Gestalt eine blau-weiße bayrische Flagge. Sie fängt an, ein Gedicht herzusagen und überreicht mir am Schlusse auf dem Kissen die große Photographie meines Geburtshauses mit dem Zettel meines Taufaktes aus dem Kirchenbuch.

Der bayrische Meergott war mein Gatte, der Überraschungen zu inszenieren große Talente besitzt, und Dr. Baier der Spender und Finder des Bildes, das er heimlich gesandt, um mich zu erfreuen. Das Eckhaus in der Sandgasse existiert lange nicht mehr; Dr. Baier aber hatte es sich angelegen sein lassen, nach dem Besitzer zu forschen, der den glücklichen Einfall gehabt hatte, das Haus vor dem Abriß photographieren zu lassen. So kam ich in den Besitz des Bildes meiner Geburtsstätte.

Die Stätte, für die niemand Interesse aufzubringen hat, setze ich hierher, weil sie durch meine Mutter geweiht ist. Hat auch kein Stern geleuchtet, Königen aus dem Morgenlande den Weg zu meiner Wiege zu weisen, Ochs, Esel und sonstiges Getier müssen dabei gewesen sein; wenigstens ist die Liebe zu ihnen durch meiner Mutter Herzensgefühl auf mich übergegangen. Und wenn ich sonst nichts geleistet hätte, als den Versuch gemacht zu haben, vielen dieser Unverstandenen, Armen ihr oft so trauriges Los »als Anwalt der Tiere«, wie ich mich gerne nenne, zu erleichtern, so glaube ich im Sinne unserer Mutter nicht umsonst gelebt zu haben.


Grunewald, 27. März 1913.

Quelle:
Lehmann, Lilli: Mein Weg. Leipzig 1913, S. 260-262.
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