Woher kamen die Tabus?

[24] Zunächst müssen wir wissen, daß das Verbot gewisser Sprachäußerungen keineswegs eine Erfindung der neuen oder gar bürgerlichen Welt ist. Es ist sehr alt und wahrscheinlich in allen Gesellschaften der Welt zu finden. Das Wort »Tabu« (englisch: taboo) stammt bekanntlich aus dem Polynesischen; es bezeichnet ein religiöses Verbot, z.B. das Verbot, eine Sache zu berühren, einen gewissen Bereich zu betreten oder eben gewisse Wörter auszusprechen. Der Grund für die sprachlichen Verbote liegt wohl darin, daß man in archaischen Gesellschaften fest an die magische Wirksamkeit der Sprache glaubte und zum Teil noch glaubt. Durch Aussprechen der »richtigen« Wörter meinte man direkt auf Menschen und Dinge einwirken zu können – dies ist ja noch heute die Absicht beim Zauberspruch. Die Sprache war also ein mächtiges Instrument – aber auch ein gefährliches, denn nur der Eingeweihte, etwa der Priester, kannte alle Einzelheiten der richtigen Handhabung; dem Laien konnte die Sprache Unheil bringen, wenn er, ohne zu wollen und ohne die zugehörigen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, mächtige Wörter aussprach. Aus Märchen kennen wir die schlimmen Folgen des falschen oder unvollständigen Aussprechens von Zaubersprüchen. Darum hat man vorsichtshalber den Gebrauch von potentiell gefährlichen Worten überhaupt verboten. Noch sagen wir ja, man dürfe etwas Ungutes nicht »beschreien«, nicht durch unbedachte Nennung herausfordern.


Die heute »verbotenen« Wörter gehören ganz bestimmten Lebensbereichen an. Zuerst ist zu nennen:

alles Göttliche, also der religiöse Bereich. Eines der Verbote hat Eingang gefunden in die Zehn Gebote (2. Moses 20, 7): »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen.« Die Vulgata, die lateinische Bibel, hat hier: »Non assumes nomen Domini Dei tui in vanum«; auch die englische Bibel übersetzt »in vain«. Was dieses »eitle« oder »nutzlose« Gebrauchen des Gottesnamens genau ist, scheint niemand zu wissen; [25] heute wird es im allgemeinen so verstanden, daß man von Gott nicht leichthin oder gar lästerlich sprechen solle. Ähnliches gilt für Wörter wie »Himmel«, »Hölle«, »verdammt«,

Weiter ist vielfach tabuiert: das menschliche Leben, besonders sein Anfang, sein Schluß und seine Erhaltung. Unter dem Anfang ist hier zu verstehen: Zeugung und Geburt und damit der gesamte Bereich der Sexualität. Der Schluß des Lebens umfaßt Alter, Krankheit und Tod. Die sprachliche Tabuierung mancher Körperfunktionen, etwa der Ausscheidungen, dürfte auf die lebenserhaltende Funktion der Hygiene und damit ebenfalls auf das menschliche Leben und seine Erhaltung zurückzuführen sein.

Ein Tabu, von dem man nicht glauben möchte, daß es sich bis heute erhalten hat, ist das Namens-Tabu. Nicht nur die göttlichen Namen, sondern auch die menschlichen durften nicht immer und nicht unter allen Umständen ausgesprochen werden. In seinem Ursprung geht dieses Verbot auf die Idee zurück, der Name eines Menschen sei ein Teil seiner Person. Leib, Seele und Name, nach anderer Auffassung Name und Gestalt (so im altindischen Begriff »namarupa« ›Name + Gestalt/), machen zusammen die menschliche Person aus. Daher kann, wer immer den »wahren« oder »eigentlichen« Namen einer Person kennt, diese Person gewissermassen »daran herumführen«, gewinnt Gewalt über sie. Darum wollen so bekannte Sagen- und Märchengestalten wie Lohengrin und Rumpelstilzchen nicht, daß andere ihren Namen kennen.

Wir kommen auf die Magie des Namens zurück (Seite 32 und Seite 153 f.)1.

Quelle:
Leisi, Ilse und Ernst: Sprach-Knigge oder Wie und was soll ich reden? Tübingen 21993, S. 24-26.
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