Vorrede

Ich habe seit einem halben Jahrhundert mit unermüdeter Thätigkeit gesucht, die Mittel des Volksunterrichts, besonders in ihren Anfangs-Punkten so viel mir möglich zu vereinfachen, und mein Scherflein dazu beyzutragen, dieselben dem Gange, den die Natur in der Entfaltung und Ausbildung der Kräfte der Menschennatur selbst geht, näher zu bringen, und durch diese ganze Zeit mit glühendem Eifer für die Erzielung dieses Endzwecks gearbeitet; aber freylich auch vieles sehr ungeschickt angegriffen und behandelt, und mir dadurch unendliche Leiden zugezogen; aber sie auch mit standhafter Geduld bis jetzt getragen, ohne jemals von der ernsten Bestrebung nach meinem Ziele abzulassen. Bey diesem Gange meines Lebens konnte ich nicht anders, als auf der einen Seite über den Gegenstand meiner Bestrebungen wichtige Erfahrungen machen; anderseits auch zu einigen Resultaten gelangen, die den Freunden der Menschheit und der Erziehung durchaus nicht gleichgültig seyn können. Ich bin nun achtzig Jahre alt, und in diesem Alter hat jeder Mensch Unrecht, wenn er sich nicht jeden Tag so viel als auf dem Todbette liegend ansieht. Ich habe das seit einiger Zeit mehr als je gefühlt. Ich wollte also nicht länger säumen, dem Publikum sowohl über meine dießfälligen Erfahrungen als über ihre gelungenen und mißlungenen Resultate noch vor meinem Absterben eine, so viel mir möglich klare und bestimmte Rechenschaft zu geben. Ich gab meiner Schrift deshalb auch den Titel, den sie trägt.

Freunde der Menschheit! Nehmet es dafür an, und fordert in schriftstellerischer Hinsicht nicht mehr von mir, als ich zu leisten im Stande bin. Mein Leben hat nichts Ganzes, nichts Vollendetes hervorgebracht; meine Schrift kann auch nichts Ganzes und nichts Vollendetes leisten. Gönnet ihr, wie sie ist, Eure prüfende Aufmerksamkeit und würdigt sie in allem dem, was Ihr darin als der Menschheit segenbringend erkennen werdet, Eurer menschenfreundlichen Mitwirkung und einer Theilnahme, die der Gegenstand selber, unabhängend von dem Werth meiner persönlichen Bestrebungen, verdient. Ich wünsche nichts so sehr, als in allem[55] dem, was irgend jemand besser als ich versteht, widerlegt und die Menschheit dadurch besser beholfen zu sehen, als ich es zu thun vermochte. Ich weiß nicht, ob es nothwendig ist, noch beyzufügen, daß ein Mensch in meinem Alter sich oft und gerne wiederholt, und wenn er sich sogar dem Tode nahe fühlt oder gar auf dem Todbette befindet, sich in Gegenständen, die ihm noch vorzüglich am Herzen liegen, nicht genug wiederholen und nicht satt werden kann, davon zu reden, bis sein Athem ihm selber aus geht. Das nimmt ihm auch kein Mensch übel, sondern man wird allgemein davon gerührt. Ich hoffe also, in meinem Alter und in meiner Lage auch Verzeihung zu erhalten, wenn ich mich in diesen Bogen zum Theil sehr oft wiederholt, zum Theil sehr vieles vergessen habe, das eigentlich hieher gehörte und unter andern Umständen hieher gebracht worden wäre, und glaube jetzt nichts weiter sagen zu müssen, als, wer nähere und bestimmtere Kunde von dem Gange meiner pädagogischen Versuche, seit dem ich an der Spitze meiner Erziehungsanstalten gestanden, wünscht, den muß ich bitten, die gleichzeitig mit dieser Schrift herauskommende Geschichte meiner dießfälligen Bestrebungen zu lesen.


Pestalozzi.

Quelle:
Pestalozzi, Johann Heinrich: Schwanengesang. In: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, 28. Band. Zürich 1976, S. 55–286, S. 55-56.
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