Messerhelden. Gemüse essen. Takt des Herzens.

[11] Jemand, der Wert auf gute äußere Formen legt, wird auch für die verschiedenen Etikette-Vorschriften eine Begründung oder wenigstens Erklärung haben wollen. Bei Beantwortung der einzelnen Anfragen aus dem Leserkreise will ich deshalb hierauf besonders Rücksicht nehmen.

Anfrage: »Wie ißt man Gemüse? Mit dem Messer soll man überhaupt nichts zum Munde führen! Aber es ist doch ein Unsinn, wenn Jemand sagt, es sei unanständig, Gemüse mit dem Messer überhaupt zu berühren?« – Zunächst halte ich es für äußerst schroff, zu sagen: »Dies oder Jenes ist unanständig«, nur weil es nicht gerade diejenige Art des Benehmens ist, welche für die vornehmste gilt.[11] Das Messer zum Munde zu führen ist allerdings bei Etikette-Menschen verpönt; es verbietet sich auch aus Vernunftsgründen. Das Messer soll, um seinem erhabenen Berufe, dem Schneiden, zu entsprechen, scharf sein, mit einem scharfen Messer aber kann man sich leicht in den Mund schneiden. Ein Witzbold hat deshalb für Leute, die mit dem Messer essen, die Bezeichnung »Messerhelden« oder auch »Fakire«, d.h. die »Unverwundbaren«, erfunden. Auch hörte ich ein mal von Jemandem, der Formenkenntnis und Witz dokumentiren wollte, in bezug auf einen biederen Messer-Esser die Schillerschen Verse aus dem Kampfe mit dem Drachen zitiren: »Nachbohrend bis ans Heft den Stahl.« Annähernd so gefährliche Folgen wie bei jenem Drachenkampfe von dunnemals wird es ja – Gott sei Dank – nie haben, wenn Jemand den Stahl, nämlich den des Messers selbst, in den Mund führt. Das Messer – wenigstens sein Hauptbestandteil – ist im Allgemeinen doch aus Stahl. Man behauptet nun, das Gemüse nehme durch das bloße Berühren mit Stahl einen etwas unangenehmen Geschmack an, namentlich die Kartoffel. Wer also eine derartig zart besaitete Zunge hat, der wird das Messer (jedenfalls[12] das Stahlmesser) von der Berührung mit der Kartoffel und anderem Gemüse fernhalten. Wer hingegen eine weniger hochvornehme Zunge besitzt, für den fällt der Hauptgrund fort, weshalb man das Gemüse, z.B. beim Hinaufschieben auf die Gabel, nicht mit dem Messer berühren soll; und ich kenne viele Menschen, welche sich an diese Etikettenregel nicht kehren, und die gleichwohl Anspruch, und zwar auch von ihrer Umgebung anerkannten Anspruch, darauf erheben, als Kenner der Formen zu gelten. Die Kartoffel nicht mit dem Messer, sondern mit der Gabel zu zerteilen, dafür dürfte ein natürlicher Grund der sein, daß dies ein Zeichen für die Güte der Kartoffel ist; denn nur wenn sie schlecht und hart ist, wird man sich der Messerschneide zum Zerteilen bedienen müssen. Beim Obst zum Beispiel ist die nachteilige Einwirkung des Messer-Stahles sowohl äußerlich als auch im Geschmack mehr zu erkennen; es ist deshalb mehr Grund vorhanden, Stahl vom Obst als vom Gemüse fernzuhalten. Anfrage: »Darf man Gemüse mit dem Löffel essen?« – Zuchthaus, Gefängnis oder überhaupt irgend eine Strafe steht nicht darauf, wenn man es thut; trotzdem wird man Gemüse[13] nur mit der Gabel essen, wenn man in dem Urteil der Etikette-Menschen möglichst günstig dastehen will. Ein praktischer Grund hierfür ist, daß die Gabel handlicher ist als der Löffel, da ich mit der Gabel den Bissen auch durch Anstechen vom Teller heben kann. Allerdings, wenn ich die Soße, oder gut deutsch gesagt »Tunke« auflöffeln will, dann muß ich mich eben des Löffels bedienen auf die Gefahr hin, von meiner Umgebung im Fache »guter Ton« nicht die allerbeste Zensur zu erhalten.

Anfrage: »In einer amerikanischen Zeitung las ich eine Frage aus dem Leserkreise, die auf deutsch wörtlich also lautet: ›Sagen Sie mir doch, bitte, ob eine Dame einem Herrn, mit dem sie einen kurzen, aber kostspieligen Ausflug macht, erlauben sollte, daß er alle Kosten bezahlt, auch wenn sie nicht mit ihm verlobt ist?‹ – Die amerikanische Zeitung giebt hierauf folgenden Bescheid: ›Wenn die Dame mit dem Herrn befreundet ist und seine Einladung zu dem Ausflug angenommen hat, kann sie die Kosten nicht bezahlen, einerlei, ob sie groß oder klein sind. Sie braucht nur die Einladung abzulehnen, wenn sie sich keine Verbindlichkeiten aufladen will.‹«[14]

In Amerika, im Lande der Freiheit, ist man auch in Etikettefragen in vieler Hinsicht freier, z.B. im Verkehr zwischen Herren und Damen auch in den vornehmsten Kreisen, ohne daß dadurch das Ansehen der Dame auch nur im Entferntesten litte. In Amerika darf ein Herr mit einer Dame allein einen Ausflug unternehmen. Es ist dies entschieden verständig und praktisch; es ist doch z.B. einem Heiratskandidaten dadurch Gelegenheit gewährt, eine Dame besser kennen zu lernen, als dies im Ballsaal oder in der Gesellschaft möglich ist. Nur dem Sport verdanken wir es, daß auch bei uns in Deutschland diese engherzige zimperliche Verkehrsschen zwischen Herren und Damen im Abnehmen begriffen ist. Zum Beispiel auf dem Lawn-Tennis-Platz und auf der Eisbahn kommen auch bei uns unverheiratete Herren und Damen ungenirt zusammen trotz der vielen Bedenken der verschiedenen »Eulalia« und »Aurelia« und wie sie sonst noch heißen mögen, und bei den guten Tanten schwinden alle Bedenken, wenn sie sehen, welch' günstigen Einfluß sportliche Uebungen auf die Jugend ausüben – sei es nun trotz oder sei es gerade wegen des Verkehrs der Nichten mit den »bösen, bösen Männern«.[15] – Die in der amerikanischen Zeitung ausgesprochene Ansicht, die Dame soll die Einladung eines Herrn zu einem Ausfluge ganz ablehnen oder aber dulden, daß der Herr für sie bezahlt, diese Ansicht teile ich durchaus nicht. Man darf mit Höflichkeiten und Liebenswürdigkeiten – vor Allem der Herr der Dame gegenüber – doch auch nicht lästig fallen. Das einfachste und natürlichste Benehmen ist auch das Vornehmste und vom Standpunkt der Etikette aus das Richtigste. Wenn der betreffende Herr annehmen kann, der Dame ist aus irgend welchen Gründen überhaupt schon sein Anerbieten, für sie zu bezahlen, unangenehm, so ist es doch zartfühlender, wenn er es nicht erst versucht, die Rolle des zahlenden Wohlthäters spielen zu wollen. Andernfalls – namentlich im Falle langjähriger Bekanntschaft – ist es eben das Einfachste, zu fragen, wenn man etwas wissen will. »Gestatten Sie, gnädiges Fräulein, daß ich Sie auf unserem Ausflug als meinen Gast betrachte?« – Und das gnädige Fräulein wird dann wohl, wenn sie nicht etwa stumm ist, die Gnade haben, in höflichen Worten ein etwas umschriebenes »Ja« oder »Nein« zu antworten. Die Geschmäcker[16] sind ja verschieden, mir ist ein kurzes »Ja« oder »Nein« und als Zusatz höchstens noch ein »Danke« oder »Bitte«, wenn es nun durchaus sein muß, das Angenehmste. Langes Hin- und Herreden, zimperliches Ablehnen und dann doch Annehmen seitens der Dame, wiederholtes Bitten seitens des Herrn in landläufigen Redensarten gilt wohl im Allgemeinen heutzutage für langweilig und spießbürgerlich veraltet. Entschieden falsch ist es, wenn in der amerikanischen Zeitung gesagt ist, die Dame darf die Kosten nicht bezahlen, ob sie nun groß oder klein sind. Das natürliche innere Taktgefühl der Dame wird die Größe der Kosten – und zwar im Verhältnis zur Wohlhabenheit des Herrn – gar sehr bei ihrer Entscheidung in betracht ziehen, ob sie die Einladung ihres Begleiters annehmen soll oder nicht. Natürliches Taktgefühl steht höher als aller Formenkram. Sogar ein König soll einst Taktgefühl des Herzens gerade dadurch bekundet haben, daß er gegen die äußere Form verstieß. Unter den Gästen an der königlichen Frühstückstafel befand sich auch ein berühmter Gelehrter. Als er die vor ihm stehende Bouillon aus der Ober- in die Untertasse goß und diese zum Munde führte,[17] bemerkte der König mit Mißfallen, wie einige der anderen Gäste sich hierüber mokirten. Und siehe – der König that ein Gleiches; das Gelächter der Höflinge wich ihrem Entsetzen, als der König gleichfalls Allerhöchst seine Bouillon in die Untertasse goß und in dieser Untertasse zum Munde führte. Dort, wo dies Anno Toback sich zugetragen, nämlich auf dem Monde – soll auch jetzt noch bei Hofe nur aus Untertassen Bouillon getrunken werden.[18]

Quelle:
Pilati, Eustachius Graf von Thassul zu Daxberg: Etikette-Plaudereien. Berlin 3[1907], S. 11-19.
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