Im Sachsengängerzuge

[58] Um die Osterzeit, kurz nach meiner Schulentlassung, bereiste ein Agent aus Köslin die Gegend, um »Landarbeiter nach Sachsen« anzuwerben.

Alles konnte der Mann gebrauchen: Männer und Frauen, Mädchen und Jungens. Schon einige Jahre vorher hatte er mit einem gewissen Vorschnitter Höhnke zusammen sowohl aus der Stadt wie aus den umliegenden Dörfern ganze Trupps von Landarbeitern angeworben, die vom Frühjahr bis zum Spätherbst kontraktlich zur Arbeit auf den Zuckerfabriken der Magdeburger und Braunschweiger Gegend oder auf verschiedenen Gütern von Hannover, Oldenburg und Schleswig-Holstein verpflichtet worden waren. Meistenteils waren diese Arbeiter zum Winter wieder nach der Heimat zurückgekehrt; jedoch hatten es auch zahlreiche einzelne wie auch ganze Familien vorgezogen, der Heimat für immer Valet zu sagen und dort zu bleiben.

Der Agent verstand es ausgezeichnet, den Leuten den Mund wässerig zu machen. Nach seinen Darstellungen war »Sachsen« einfach das gelobte Land, wo Milch und Honig floß. Er hatte mit seinen Anpreisungen auch verhältnismäßig leichtes Spiel, denn viele von denjenigen, die sich bereits einmal hatten »verschicken« lassen, ließen sich auch jetzt wieder anwerben und wußten den Neulingen ebenfalls mancherlei Günstiges über das schöne »Sachsen« zu erzählen. Die Behandlung der Arbeiter sei besser wie auf den pommerschen Höfen, die Kost sei schmackhafter, und vor allem würden dort ungleich höhere Löhne gezahlt. Letzteres wurde selbst von denjenigen zugegeben, denen es dort sonst nicht gerade zum Besten gefallen hatte.

Diesen Umstand wußte der Agent auch sehr geschickt auszunutzen. »Kinder«, sagte er überzeugend, »die 8 oder 9 Monate sind ja keine Ewigkeit; wenn's euch dort nicht paßt, kommt ihr zum Herbst wieder; freie Reise kriegt ihr ja.« Er fügte noch hinzu, daß der Trupp, den er jetzt noch brauche, nur ein Nachschub sei,[59] denn mehrere Hundert habe er bereits im Januar und Februar angenommen und schon anfangs März nach verschiedenen Gegenden Sachsens geschickt; wer also mitwolle, möge sich bis zum nächsten Wochenmarkt besinnen, dann gehe der Transport ab.

In dieser Weise hatte auch ich den Mann auf dem Hofe der Schnapskneipe, in der er logierte, reden hören und mußte offen gestehen: seine Worte elektrisierten mich förmlich. Zu Hause sprach ich mit meiner Mutter darüber. Sie hatte auch schon daran gedacht, sagte sie, doch in der Hoffnung, daß sich vielleicht sonst noch etwas Passendes für mich finden würde, war sie wieder davon abgekommen. Schließlich wußte ich ihre Bedenken zu zerstreuen. Ich wies auf andere hin, die auch schon jung aus der Heimat »weggemacht« waren und die doch sehr schöne Briefe nach Hause schrieben, erinnerte auch an den Ausspruch eines Lehrers, daß man etwas von der »Welt« gesehen haben müsse, wenn man mitreden wolle, und rechnete schon all den schönen Verdienst zusammen, den ich »dort draußen in Sachsen« erzielen würde. Ich sehe sie noch vor mir, meine Mutter, wie sie tief Atem holte und sagte: »Na denn geh'; es ist ja einmal das Schicksal von uns armen Leuten, daß wir unsere Kinder in die Welt hinausstoßen müssen, wenn sie nur eben die Finger rühren können.«

Ja, so war es tatsächlich. Schon seit Jahren kannte man es dort gar nicht anders, als daß die Kinder armer Leute, sobald sie schulfrei waren, für sich selbst sorgen mußten: der Wind mochte sie hinwehen, wohin er wollte. Und merkwürdig oder nicht: den allermeisten gefällt es draußen in der Fremde besser wie in der Heimat.

Kaum hatte ich die Erlaubnis meiner Mutter zur Abwanderung erlangt, so suchte ich auch schon den Agenten auf, um mich ebenfalls als Sachsengänger einschreiben zu lassen. Er tat zuerst zwar so, als sei ich noch ein »bisken reichlich klein«, und hegte auch einige Bedenken wegen meiner noch zu großen Jugendlichkeit. Unter sechzehn Jahren nehme er die Jungens nicht gerne, sagte er, denn einmal werde von den Herrschaften in Sachsen dieses Mindestalter für Dienstjungen meistens ausdrücklich verlangt,[60] dann aber auch setze er sich leicht polizeilichen Scherereien aus, wenn er erst Vierzehnjährige vermittele. Hier sprang nun der Vorschnitter Höhnke ein. »Den Bünzelt könnte ich gebrauchen«, meinte er, »der kann Ochsenjunge auf der Zuckerfabrik werden; da wird's nicht so genau genommen.« Gleichzeitig holte er ein Kontraktformular hervor und forderte mich auf, meinen Namen darunter zu setzen. »Zu lesen brauchst du das gar nicht erst, Junge«, sagte er dabei, »du kriegst auf der Fabrik 6 Groschen Tagelohn, und wenn du tüchtig bist, wird dir das Fahrgeld nicht vom Lohn abgezogen.«

Mit dieser summarischen Erklärung begnügte ich mich auch vollauf; gingen mir doch lediglich die 60 Pfennige Tagelohn im Kopfe herum. Welches Glück! Ich sollte als vierzehnjähriger Junge in Sachsen ebensoviel verdienen, wie ein vollwertiger Tagelöhner in meiner hinterpommerschen Heimat! Was brauchte ich da zu wissen, was sonst noch alles in dem langen Kontrakt drin stand? Es genügte mir, daß ich als Ochsenjunge für die Zuckerfabrik W. in Schleswig-Holstein angenommen war und – unterschrieb. Noch vier Tage, dann sollte der Transport abfahren.

Rührig wurde nun an meiner Ausrüstung gearbeitet; sie war allerdings einfach genug. Ein kleiner, kofferähnlicher, schon ziemlich wurmstichiger Holzkasten stand noch von Vaters Zeiten in der Kammer. Er wurde von Schimmel und Spinngeweben gesäubert und mit dem Notwendigsten vollgepackt. Wie fürsorglich war Mutter! Von einem Alttrödler erwarb sie für wenige Mark einen derben, schon getragenen Arbeitsanzug und dito Schmierstiefel. Hierzu kamen die Holzpantinen, ein paar Rosowostrümpfe, drei Barchenthemden und ein altes überzieherähnliches Garderobestück, der Wallmusch; er sollte Kälte und Regen bei der Feldarbeit abhalten. Sie vergaß auch nicht, ein ganzes Brot und einen Topf mit Schmalz beizulegen. Zuletzt steckte sie an die Seite ein uraltes Gebetbüchlein, das gleichzeitig meinen Konfirmationsschein barg. In Ermangelung eines Schlosses band ich einen Strick kreuzweise um den Kasten, und damit war ich reisefertig.[61]

Mein ganzes Barvermögen bestand in einer Summe von 2 Mark und 60 Pfennigen, die mir Mutter mit der dringlichen Mahnung aushändigte, wenigsten die beiden Markstücke nur im äußersten Notfalle anzureißen.

Um halb 4 Uhr morgens waren wir alle auf dem Bahnhof zusammen; die Angeworbenen aus den umliegenden Dörfern hatten sich mit Sack und Pack bereits des Abends vorher eingefunden. Wir waren unser insgesamt 45 Personen: Männer, Frauen, Jungen und Mädchen; ich schien der jüngste von allen zu sein.

Wie wir dastanden auf dem Bahnhof! Jeder mit seinem Packen oder Bündel vor sich; hier ein Kasten, dort ein Korb, ein Sack oder auch nur ein Stück Sackleinen, in das die Habseligkeiten eingebunden waren. Und doch: innere Bewegung oder gar Traurigkeit zeigte auch nicht eines der verschiedenen Gesichter. Nur meine Mutter, die mich nach dem Bahnhof begleitet hatte, konnte eine gewisse Beklommenheit nicht unterdrücken. Einige der Männer waren trotz der frühen Morgenstunde sogar lustig und fidel; sie sangen und prosteten sich aus der Fuselbuddel zu. So harrten wir des Zuges, der uns aufnehmen sollte.

Weshalb wurden sie heimatsflüchtig, diese Männer und Frauen, diese Knaben und Mädchen? Warum schüttelten sie den hinterpommerschen Staub so leichtherzig von den Pantoffeln? Ein alter Tagelöhner gab die Antwort darauf, indem er mir ermunternd zurief: »Man ümmer Kopp hoch, mien Jüngchen, schlechter as hier kann't uß in de ganze Wilt ni gahn!« Ein kurzer herzlicher Abschied – dann dampfte der Zug mit uns ab. Ich ahnte nicht, daß ich meine Heimat erst nach 20 langen Jahren wiedersehen sollte.

Wir fuhren nach Schneidemühl; dort erwartete uns bereits das Gros des Transports, mit dem wir uns vereinigten, um gemeinsam über Berlin und Hamburg nach den verschiedenen Bestimmungsorten befördert zu werden. Es waren alles Leute, die sich der Agent teils aus der Gegend von Dramburg, Tempelburg und Rummelsburg in Hinterpommern, teils aus dem Umkreis von Konitz, Flatow und Deutsch-Krone in Westpreußen zusammengesucht hatte.[62]

In Schneidemühl nahmen uns die berüchtigsten ostpreußischen IV.-Klassewagen auf; kleinfenstrig, niedrig, dreckig. Jeder suchte sich Platz, so gut er ihn fand. Bald war der Waggon so dick vollgepropft, daß wir uns kaum rücken noch rühren konnten. Alles hockte auf seinen Kisten, Kästen oder Säcken im trautesten Durcheinander. Man sprach von der Zukunft, man sang, man rauchte, schnupfte und – trank. In kurzer Zeit herrschte in dem Raum eine Luft zum Schwindeligwerden.

Unheimlich grotesk wurde das Bild, als wir am Abend »bei der Lampe Dämmerschein« dahinrüttelten. In dicken Schwaden zog der Tabaksrauch von einer Ecke zur andern, alles in einen dichten nebligen Schleier hüllend, den das Wagenlicht nur mühsam zu durchdringen vermochte. Nur in schemenhaften Umrissen gewahrte man noch die einzelnen Gestalten, die zwanglos und ungeniert aneinander gelehnt teils zu schlafen versuchten, teils ihre lebhafte Unterhaltung weiter führten. In dem durchleuchteten Dunst erschienen die Gesichter fast gespenstisch fahl und gelblich, und die Frauen sahen in ihren Kopftüchern aus, als hätte sich eine Qualmgloriole um ihr Haupt gewoben.

Gewiß, dies Bild war traurig, tief traurig sogar; doch wem von uns wäre wohl ein solcher Gedanke gekommen? Keinem. Wir glaubten eben, arme Leute hätten überhaupt kein Anrecht darauf, bequemer zu reisen; im übrigen freuten wir uns nur, daß wir auf der Bahn »so schnell« vorwärts kamen.

Unterdessen eilte unser Zug unaufhaltsam der Hauptstadt zu. Je näher, desto stärker die Unterhaltung. Was machten wir uns für einen Begriff von Berlin! Wahre Wunderdinge hatte man uns drüber erzählt, von seiner Größe, seinen himmelhohen Häusern und der märchenhaften Beleuchtung.

Die Zahl der Stationslichter mehrte sich jetzt zusehends. Abwechselnd steckten wir die Köpfe aus den Wagenfenstern und blickten nach vorwärts dem hauptstädtischen Lichtmeer entgegen. Ausrufe des Staunens und der Überraschung: So viel Lichter gab's wohl in ganz Hinterpommern nicht, als wie uns hier im Fluge entgegenleuchteten. Dann mäßigte der Zug seine Fahrt und hielt kurz darauf in einer mächtigen Halle.[63]

Berlin – Schlesischer Bahnhof! riefen die Schaffner.

Berlin – Polnischer Bahnhof! echote es von irgend einem Witzbold dazwischen. Alles stieg aus und folgte dem Agenten nach dem großen Wartesaal IV. Klasse. Halb neugierig, halb mitleidig betrachteten uns die Passanten. »Schon wieder 'n Haufen Polacken«, hieß es.

In dem Wartesaal hatte man nun ausreichend Gelegenheit, die ganze Gesellschaft unserer Zugvögel etwas näher zu betrachten, und ich muß gestehen: besonders wohl wurde mir dabei nicht zumute. Es grimmelte und wimmelte, es summte und brummte hier wie in einem Bienenkorb. Wir Pommern und Westpreußen waren durchaus nicht die einzige Kolonne von Sachsengängern in diesem gewaltigen Raum. Schon vorher hatten die Züge mehrere Schwärme von Landsleuten aus Ostpreußen und Schlesien gebracht, dazu wirkliche Kassuben, Masuren, Littauer, Polen, Böhmaken, Galizier, ja sogar Ungarn und Slowaken, die nun gleich uns der Weiterbeförderung harrten. Es war, als hätten sich hier die Landarbeiter von ganz Ostelbien, der Wasserpolakei und Walachei ein internationales Stelldichein gegeben.

Da drängten sich Männer und Frauen aller Altersklassen, vom jüngst ausgeschulten Knaben und Mädchen bis zum bejahrten Ehepaar bunt durcheinander. Einen verblüffenden Eindruck machten auf mich die verschiedenartigen Trachten und Kopfbedeckungen. Man sah Männer in dem grauen »Eigengewebten« mit dem charakteristischen Dorfschnitt, andere in kurzen Joppen oder langen Tscherkessenröcken, wieder andere in Schafspelzen, deren unbenähte, fettglänzende Lederseite nach auswärts gekehrt war, Männer in Pumphosen und leinenen Knieschürzen. Alles mehr oder minder abgetragen, geflickt, strapaziert. Auf dem Kopfe trugen sie entweder die landläufigen Tagelöhnermützen, mit oder ohne Kokarden, oder den winterlichen »Pudel« in allen Größen und Formen, teilweise bis halb über die Ohren gezogen; selbst die viereckige tschechische Tuchczapka sah man aus einzelnen Gruppen hervorragen.

Dieser allgemeinen Armseligkeit entsprach auch die Fußbekleidung. Stiefel und Schuhe der unmöglichsten Sorten, schief und[64] grade, mit Holzsohlen, polnischem Kropf oder Harmonikafalten, lang und plump wie ausgelatschte Trainpumper. Ja die Söhne Galiziens und Ungarns hatten zum Teil überhaupt kein Leder an den Beinen, sondern gingen einher in den unaussprechlichen slowakischen Mausfallenmachersandalen, die mit kreuzweis um Fuß und Waden geschnürtem Bandwerk festgehalten wurden.

Viel weniger mannigfaltig war die Kleidung der Frauen. Mir schien, als sahen sie sich alle zum Verwechseln ähnlich. Überall dieselben weiten formlosen Jacken und dicken Kopftücher, wenn auch in anderen Farbenmischungen. Viele hatten sogar hohe Mannsstiefel an den Füßen.

Das Gepäck war bei Polen und Galiziern fast dasselbe wie bei Ostpreußen und Pommern. Allesamt verfügten sie nur über das gleiche Häufchen Armut in ihren Bündeln und Kästen. Daher kam es wohl auch, daß wir uns trotz der Nationalitäts- und Sprachunterschiede bis zum gewissen Grade zueinander hingezogen fühlten und uns gegenseitig wenigstens über das Woher und Wohin auszupantomimen suchten. Bei dem wahrhaft babylonischen Sprachgewirr war eine Verständigung mitunter gar nicht so leicht, besonders wenn nicht gleich jemand bei der Hand war, der außer seiner östlichen Muttersprache auch noch einige deutsche Brocken zu radebrechen vermochte. Ich sah Gruppen von Männern, die allein durch Mienenspiel, durch Fingerzeige und gegenseitiges Sichanschreien ihre primitive Dolmetscherkunst erschöpften, – sie wußten schließlich weiter nichts, als einander mit süß-saurer Freundschaftlichkeit zuzulachen und die Achseln zu zucken. War aber die Verständigung solchergestalt durchaus auf dem toten Punkt angelangt, so holte schließlich einer den Generaldolmetsch – die Schnapsflasche – hervor. Diese Sprache verstanden sie alle.

Nach einigen Stunden rief uns der Agent und teilte uns mit, daß mehrere Rollwagen bereit ständen, auf denen unsere Kisten und Säcke nach dem Lehrter Bahnhof überführt werden sollten, von wo die Weiterreise erfolgen mußte. Es ging alsbald ans Aufpacken unserer »nationalen Güter«.[65]

Währenddessen konnten wir mit anhören, wie sich müßige Zuschauer in nichts weniger wie schmeichelhaften Bemerkungen über uns ausließen und uns in Bausch und Bogen »dumme Polacken« titulierten. Polacken? Du lieber Himmel, hier wurde ich also ebenfalls als Polack betrachtet, obwohl ich kein Wort Polnisch verstand. Eigentlich wurmte mich das. Denn sogar bei uns in Hinterpommern sah man auf die wirklichen Polacken als auf Menschen geringerer Güte herab. Ich tröstete mich jedoch in dem Gedanken: So wie bei uns zu Hause die ganzen Westprovinzen unter den Begriff »Sachsen« fallen, so werden hier wohl alle Sachsengänger kurzweg als Polacken bezeichnet werden.

Die Rollwagen setzten sich in Bewegung, wir marschierten neben her. Die nicht zu unserem Transport Gehörigen blieben vorerst noch zurück; sie sollten später nach dem Anhalter oder Potsdamer Bahnhof tippeln, um von dort aus weiter geschickt zu werden.

Unsere Wanderung nach dem Lehrter Bahnhof dauerte eine ganz geraume Zeit; schade nur, daß sie sich bei Nacht und Nebel vollzog. Wir bekamen mithin von Berlin weiter nichts zu sehen, wie eine Reihe von Straßen und hohen Häusern, die alle ziemlich tot und still dalagen. »Nicht einmal den Kaiser kriegen wir zu sehen«, meinte einer so recht wehmütig. »Na dann seht ihr wenigstens Berlin bei Nacht«, lachte der Agent.

Auf dem Lehrter Bahnhof verging unserem Agenten aber das Lachen. Er hatte in der Wartehalle nämlich zu seinem Schmerze feststellen müssen, daß ihm unterwegs vier junge Leute entlaufen waren. Auch ihr Gepäck war verschwunden. Alles Fluchen darüber, daß es so grundschlechte Menschen geben könne, die ihn auf diese Weise um das Reisegeld prellten, nützte nichts; die Übeltäter kehrten nicht wieder. Um so mehr achtete der Agent mit Argusaugen auf die übrigen, und er schien herzensfroh zu sein, als er sie alle glücklich wieder im Zuge hatte. Früh morgens dampften wir dann nach Hamburg zu.

Gerade dachte ich still und in mich gekehrt über all die schönen Ratschläge und Ermahnungen nach, die mir meine Mutter noch mit auf den Weg gegeben hatte, da nahte mir auch schon der Versucher.[66] Ein junger Mann war's, aus der Gegend von Flatow. Als er hörte, daß ich ebenfalls für die Zuckerfabrik in W. gedungen war, glitt ein Blick des Bedauerns über mich weg. Dann sagte er leise, aber anscheinend aufrichtig zu mir: »Weißt du, für die Arbeit auf dem Rübenboden bist du noch zu schwach, und mit den Ochsen kannst du auch noch nicht umgehen, das Viehzeug ist dreihaariger wie du denkst.« Er sei schon im vorigen Jahre dort gewesen und kenne das. Die Ochsenjungen bekämen von den Aufsehern mehr Prügel als wie Essen; auch würden ihnen von ihrem Lohn so viel Strafgelder für allerhand unvermeidliche Versehen abgezogen, daß sie im Herbste fast gar nichts ausgezahlt bekämen.

Mit der Lohnzahlung werde es dort nämlich so gehandhabt, daß den Leuten nur alle vierzehn Tage ein Teil des bedungenen Verdienstes ausgehändigt würde, knapp ausreichend, um das Zubrot in der Fabrikkantine dafür zu kaufen. Das übrige bliebe stehen bis zum Herbst. Nur selten käme einer ohne Fabrikstrafen davon, und ebenso selten würde auch nur das Reisegeld wieder rückvergütet. Es geschehe dies nur bei sogenannter tadelloser Führung, und darüber, ob sich jemand gut oder schlecht geführt, entscheide lediglich der Inspektor mit seinen Aufsehern. Der Erzähler teilte mir dann noch weiter mit, daß er sich diesmal nur hätte anwerben lassen, um freie Fahrt nach Schleswig-Holstein zu bekommen. In Hamburg gedenke er auszukneifen. Denselben Rat gab er auch mir. Um den Agenten brauche ich mir keine Gewissensbisse zu machen, denn der Seelenverkäufer verdiene an den übrigen Leuten noch genug.

Ich verwies ihn darauf, daß der Agent doch unsere Papiere in Händen habe. »Ach was Papiere!« antwortete mein Gegenüber, »laß sich den Kerl doch warm laufen damit. Die holsteinischen Bauern fragen den Teufel nach Papieren; die Hauptsache ist, daß man arbeiten will.« Er fügte dann hinzu, daß man von Hamburg aus leicht Arbeitsgelegenheit nach dem Lande bekäme. Sei man aber erst auf der Zuckerfabrik, da werde das Ausreißen schwieriger, »denn da holt einen der Gendarm gleich wieder, noch ehe man wegkommt.« Mir täte es überhaupt nötig, mich bei einem[67] Bauern erst gehörig rauszufuttern, denn ich sähe noch ein bißchen zart und grün aus. Deswegen spreche er auch nur mit mir darüber. Ich gelobte Schweigen und – überlegte.

Als der Zug in den Hamburger Bahnhof einfuhr, war mein Entschluß gefaßt. Auf dem Wege zum damaligen Klostertor-Bahnhof fand ich Gelegenheit, mich mit meinem Koffer hinter einen Lastwagen zu drücken, und – fort war ich. Wo mein Flatower geblieben war, wußte ich nicht.

Aufs Geratewohl lief ich in die Stadt hinein, nur bestrebt, möglichst schnell aus dem Gesichtskreis meiner Reisegefährten und des Agenten zu entkommen. Als ich keines der pommerschen Kopftücher mehr gewahr wurde, fragte ich ein paar Arbeiter nach einer Unterkunftsstelle für die Nacht. Sie wiesen mich nach einer Herberge »An den Pumpen«, deren Wirt sich auch so nebenbei mit der Vermittlung von ländlichen Dienstboten befasse.

Vater Nissen, so wurde er genannt, examinierte mich zunächst gründlich über mein Woher und Wohin. Ich beichtete nun wahrheitsgemäß, daß ich dem Agenten ausgekniffen sei und äußerte den bescheidenen Wunsch nach einer Dienststelle auf dem Lande.

»Dat will sich ja ganz gut passen för dy«, sagte er da nachdenklich halb platt – und halb hochdeutsch, »hier kummt diese Dag wieder 'n Bekannten von mich, 'n Törfbur aus 'n Kaspel Kunkergen, der hat mich nülichst schon mal angekrückt, ob ich nich 'n Kohhar vor ihn wüßt'; dat wär ja so 'n Plan för dy.« Auf meine Nachfrage verdeutschte er mir das Gehörte dann noch besser, und ich wußte nun, daß in den nächsten Tagen ein Torfbauer aus dem Kirchspiel Kaltenkirchen bei ihm vorkommen würde, der für den Sommer einen Jungen als Kuhhirten suchte. Ich hatte also schon Aussicht. Was wollte ich mehr?

Natürlich wußte Vater Nissen auch bald, daß meine Barschaft nur aus den beiden Markstücken bestand, die mir Mutter als Notgroschen mit auf die Reise gegeben hatte. Auch zeigte ich ihm als einziges Legitimationspapier meinen Konfirmationsschein, den ich aus dem alten Gebetbuch meiner Mutter jetzt hervorholte.[68] »Na vor dich genügt's schon erstensmals«, meinte er mit halb spöttischer Jovialität, »bei ju Schlag Lüd kommt's so genau nich druff an; nasten find' sich das alles von sölben.«

Nach zwei Tagen meines Aufenthalts in Hamburg sah ich bei meiner Rückkehr von einem Gange nach dem Hafen einen mit zwei Pferden bespannten Bauernwagen vor der Herberge stehen. Eine Ahnung sagte mir, daß dies wohl der Wagen meines versprochenen »Törfbur« sein werde. Ich hatte mich nicht getäuscht. Bei meinem Eintritt unterhielt sich Vater Nissen angelegentlichst mit einem Manne in ausgesprochen ländlicher Tracht, der in seiner Hand eine bäuerliche Fahrpeitsche hielt und vor sich auf dem Tisch den üblichen »Kööm un Beer« stehen hatte.

»Dar is he all«, sagte Vater Nissen und wies auf mich. Der Bauer musterte mich prüfend von Kopf zu Fuß und nickte dann befriedigt. »Dat paßt sich so ganz got, min Jung«, redete er mich an, »wullt du mit mi?« Ob ich wollte! Ich war froh, so schnell Brot und Arbeit gefunden zu haben und willigte mit Freuden ein. Bald war alles abgemacht. Zwölf Taler Lohn sollte ich für das Sommerhalbjahr erhalten und einen »guten Jahrmarkt« – »dat heet, wenn du dy got schickst«, setzte mein Bauer hinzu. Damit bezahlte er bei Vater Nissen noch so viel meines Kost- und Logisgeldes für die paar Tage und Nächte, die ich dort zugebracht hatte, daß ich nur eine Mark zuzulegen brauchte und die andere Mark meines Vermögens noch als Taschengroschen übrig behielt.

Eine Stunde später saß ich auf dem Wagen als angehender Kuhhirte des Bauern Jochen Voß vom Abbau Kaltenkirchen.

Quelle:
Rehbein, Franz: Das Leben eines Landarbeiters. Hamburg 1985, S. 58-69.
Lizenz:
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