[14] Gestehen wir es offen: Der Mann von heute ist weniger anziehend als früher! Ist vom Mann die Rede, muß man bei der Frau beginnen. Die Frau hat den Mann überflügelt. Zweifelsohne. Ganz gleichgültig, ob sie Drohne oder Arbeitsbiene, ist die äußere Schale ungemein reizvoll und beim Gesamtdurchschnitt fabelhaft verbessert. Ein Blick in die Restaurants, Theater, Kinos, auf die Sportplätze und Kurpromenaden erhärtet diese schon allbekannte Tatsache. Nicht mehr Zobelpelz und Scheckbuch allein entscheiden im Reich der Frau – auch die kleine Verkäuferin und die graziöse »Daktylo« fügen sich dem eleganten Bild ein und könnten mitunter sogar zu Vorbildern werden.
Hingegen der Mann! ... Wo bleibt der Fortschrittsgeist des »Herrlichsten von allen«? Trotz Sport und Aufklärung, trotz Modekunst und Ästhetik überwiegt das Unharmonische, drängen sich der Spitzbauch, das unrasierte Gesicht, die unsaubere Manschette, der ungepflegte Anzug in den Vordergrund.
Euer Einwand der ermangelnden Zeit, des fehlenden Geldes hält nicht stand – gleiches Recht gilt auch für die arbeitstätige Weiblichkeit, deren Mehrzahl adrett, sauber, korrekt angezogen, sich die Zeit nimmt, die Erscheinung zu pflegen.
Auch ihr könnt darauf nicht verzichten, glaubt es mir, ganz gleichgültig, ob ihr euch Ernährer, Freund, Gatte oder Vater nennt!
Das berühmte »Wir haben es nicht nötig« bleibt ein Armutszeugnis des Mannes und verkennt die Tatsache. Es kann doch kein angenehmes Gefühl sein, nur eines amerikanischen Sechszylinders, einer Luxuswohnung oder guter Beziehungen wegen – in den Kauf genommen zu werden! Euer Gegenangriff: »Unsere Zeit ist nun mal so, die Frauen wollen es nicht anders, belustigen sich über tagelanges Schmachten und Werben – darum gibt es für uns nur: Es klappt oder es klappt nicht – man findet jederzeit andere, die es mit Freuden klappen lassen!«
O mißverstandene Sachlichkeit! Auch die fortschrittlichste Frau von heute braucht Illusionen, will umworben werden und alsPersönlichkeit gewertet sein. Sie sagt es nicht – vielleicht, um nicht materielle Einbuße zu erleiden oder mit dem Herzen bei einer Sache hängen zu bleiben, die von der andern Seite nur als Amüsement betrachtet wurde. Aber verlaßt euch drauf, die sachlich behandelte Frau, mag es ihr noch so gut gehen, mißachtet leicht die Warnung: »Du sollst keine andern Götter haben neben mir ...«
Die wirklich vorhandene Arbeitsüberlastung und gegenüber früheren Zeiten nervenaufreibende Betätigung einer gehetzten Epoche will ich nicht einmal zu den Dubiosen rechnen, sondern euch voll gutschreiben, und verstehen, daß der Mann für »Othellospielen« und Liebeslyrik die Kraft oft nicht mehr aufbringen kann. Fragt aber einmal die Frauen eurer Umwelt, wen sie vorziehen – den Mann, der trotz fehlenden Reichtums Beweise wahrer Kameradschaft, liebevoller Aufmerksamkeit, aufrichtiger Achtung und zartsinnigen Geschmack häuft und dabei doch innerhalb seiner Grenzen auf sein Äußeres zu jeder Stunde bedacht ist – oder die Möglichkeit, an Hand sachlich eingestellter, nicht unvermögender Kavaliere in gelegentlicher Abwechslung der Gegenparts die Annehmlichkeiten des Lebens mitzunehmen.
Fragt sie einmal alle, die mondänen Evas, deren frivole Gespräche mitunter bürgerliche Sehnsüchte verdecken wollen – sie wollen doch den Mann, der erst wirbt, um erhört zu werden, nach einem »chevalier, sans peur et sans reproche«, der auch auf die Psyche eingeht und nicht nur zum Blumenhändler geht, um für fünf Mark »irgendwelche Blüten« zu kaufen. Ihm wird mit Freude mehr Freiheit gelassen, ein Nebenflirt nichtübel vermerkt. Was sein soll? Kurzgesagt: der Casanova up to date, der abseits von Treue oder Untreue ein Meister der Illusionen verbleibt, mit liebenswürdiger Vollendung die psychischen und physischen Register spielen läßt.
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