Der Gang.

[73] Aus Gang und Auftreten eines Menschen ziehen wir mit ziemlicher Sicherheit Schlüsse auf seinen gesamten Charakter, sein Wesen, seine Bildung, seine geistigen Fähigkeiten und seine Erziehung.

Mut und Entschlossenheit zeigen einen festen, sichern, Mutlosigkeit einen schwankenden, matten Tritt. Der Trotz hat einen stampfenden Gang. Phlegma und Trägheit haben einen langsamen, schleppenden Gang. Bei Scheinheiligkeit und Arglist ist der Gang mehr schleichend. Bei Angst und Entsetzen ist der Gang wechselnd, bald langsam, bald schnell. Bei Jähzorn und Wut ist der Gang wild und stürmend. Bei Geckenhaftigkeit und Eitelkeit besteht der Gang in kurzen, wippenden Schritten. Freude und Lust steigern, Wehmut und Trauer verringern die Ganggeschwindigkeit.

Wie sollen wir gehen? Welchen Maßstab legt der Anstand an unseren Gang? Es liegt auf der Hand, daß alles Unruhige, Schnelle wie Schläfrige, alles unbegründete Übermaß beim Gange unbedingt zu vermeiden ist.

Welch' lächerlichen Anblick gewährt nicht oft der unbedachtsame, geschäftige Schnelläufer auf der Straße, der alles, was ihm in die Quere kommt mit seinen schlenkernden Extremitäten in Gefahr bringt?

Wen entzückte nicht der leichte, anstandsvolle, anmutige Schritt der gebildeten Dame? Der graziöse Gang der Frauen spielt bei den Dichtern aller Zeiten eine große Rolle. Ein edler Gang kann weder überhastet, ungestüm sein, noch trippelnd, tänzelnd, hüpfend, schlendernd. Die richtige Mitte zu halten, ist Haupterfordernis. Gang nnd Stellung des Menschen werden in hohem Grade bestimmt durch die herrschende Gemütsverfassung. Heiterkeit und Lust strecken die Wirbelsäule, spannen die Muskeln, erhöhen die Leichtigkeit aller Bewegungen. Traurigkeit, Unlust erschlaffen die Muskeln,[73] erschweren die Bewegungen und beugen den Rücken. Ein gewisses, wohltuendes Gleichgewicht der Seele wird sich jedenfalls stets an der Gangart bemerken lassen.

Der Gang ist für die Beurteilung des ganzen Menschen von größter Wichtigkeit; er erhebt oder setzt herab in den Augen der Mitmenschen. Soll er ein anstandsvoller genannt werden können, dann dürfen die Schritte weder zu klein noch zu groß sein, nicht abgezirkelt noch auch unberechenbar. Der Gang hat gewissermaßen zwei Charaktere, den männlichen und den weiblichen. Im Gang des Mannes muß Festigkeit, Entschlossenheit und Würde, im Gang des Weibes Gelassenheit, Sanftmut, Grazie, Züchtigkeit – nicht Prüderie zu sehen sein.

Beim Gehen behält man die Grundstellung bei, wie sie Seite 69 beschrieben ist, welche überhaupt für alle Lagen und Bewegungsarten maßgebend bleibt.

Der Oberkörper nehme im vorliegenden Falle keine Stellung ein, die einer schiebenden ähnelt, sondern bleibe angehalten und fest und wiege sich sanft und spielend, ohne jede auffallende Seitenbewegung, in den Hüften.

Den Kopf halte man nicht vor, wie nach etwas suchend, – was meist großgewachsene Leute in der Gewohnheit haben, sondern aufrecht und gerade, ohne irgend welche Steifheit.

Die Arme, welche frei und zwanglos am Körper herunterhängen, dürfen nicht festgehalten werden, sondern müssen sich wechselweise hin- und herbewegen.

Die Beine dürfen nicht langgestreckt, wie aus einem Stück bestehend, fortbewegt werden, wodurch der Gang sich steif ausnehmen würde, sondern es muß erst das Oberbein, dann der Fuß, in rascher Aufeinanderfolge, leicht hochgezogen und in dieser Stellung zum Schritt vorgehoben werden, wobei Knie und Fußspitzen nicht nach vorn, sondern nach der Seite (auswärts) gewendet sein und bleiben müssen.

Die Füße dürfen nicht fest und stark oder schwerfällig, sondern müssen leicht und sicher auftreten, und dürfen nur so viel als nötig ist, gehoben werden.

Die Fußspitze darf nicht in die Höhe sehen, sondern muß gestreckt abwärts zeigen und zuerst die Erde berühren,[74] worauf nach und nach die Ferse folgt. Tritt der rechte Fuß bezw. dessen Spitze vorn nieder so hebt sich zu gleicher Zeit der hintenstehende linke Fuß von der Ferse bis zur Spitze.

Sowie die Ferse des rechten Fußes vorn niedergeht, wird das Bein wieder gestreckt, indem das Knie eingezogen und hart in die Kniekehle zurückgedrängt wird, wodurch die Wade mehr heraustritt. Würde man den Fuß, welchen man zum Schritt vorgehoben mit einem Mal platt niederstellen und den Fuß, welcher zurücksteht, nicht erst von der Ferse nach der Fußspitze zu – sondern auf einmal flach aufheben, so würde der Gang plump werden.

Will man sich von jemand entfernen, wobei man aus Höflichkeit rückwärts geht, und soll dies in edler, formschöner Art geschehen, so darf man, wenn die Ferse des zurückgehobenen Fußes zur Erde gekommen, das Knie nicht so wie beim Vorwärtsgehen sogleich anziehen und strecken, sondern muß im Gegenteil dasselbe noch etwas mehr beugen und dabei den Oberkörper senkrecht herunter hineinsetzen, als wenn der Körper darin ausruhen sollte, wobei das vorstehende Bein samt Fußspitze lang gestreckt, Knie und Fußspitze auswärts, in schräge liegende Stellung kommt. Beim folgenden Schritt zurück zieht man das Knie des zurückstehenden Beines wieder gerade, wobei man den Fuß des vorliegenden Beines zu gleicher Zeit von der Ferse zur Spitze zum Schritt aufhebt, das Knie etwas beugt, und so nach hinten hebt. Die Fersen dürfen beim Gehen nicht voneinander entfernt sein, sondern müssen immer dicht aneinander vorbeikommen, ohne sich jedoch zu berühren. Die Schritte dürfen weder zu groß noch zu klein sein, sondern so wie die Beine es erlauben.


Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 73-75.
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