Bedürfnis.

[8] Was dem einen Bedürfnis ist, erscheint dem andern als Luxus. Im großen Ganzen aber läßt sich der Grundsatz aufstellen: je weniger zivilisiert ein Volk ist, um so geringer sind seine Bedürfnisse, und diese wachsen mit der vorwärts schreitenden Zivilisation. Betrachten wir einmal den Bewohner der Feuerland-Inseln. Sein einziges Bedürfnis gipfelt darin, gerade soviel auf der Jagd zu erbeuten, als er für sich und allenfalls seine Familie zur Nahrung für den heutigen Tag gebraucht, – das Morgen kümmert ihn nicht, er vertraut seiner Geschicklichkeit, die ihm eine Beute in die Hände führt und wenn die Anforderungen seines Magens be- friedigt sind, so sind es gleichzeitig seine sämtlichen Bedürfnisse. So einfach wie die Lebensweise dieser Menschen ist, so einfach sind auch ihre Bedürfnisse. Je mehr Bedürfnisse man empfindet desto eher gerät man auf Irrwege.

Das Söhnchen hat nach beendeter Lehrzeit das erste selbstverdiente Geld in der Tasche. Es muß wieder heraus,[8] er fühlt das Bedürfnis mit älteren Genossen sich in gleicher Weise bewegen zu müssen, er frequentiert Restaurants und andere öffentliche Lokale, und wenn Papa den Hausschlüssel nicht hergeben will, dann zieht er aus. Er mietet sich selbst eine Wohnung, kann hier so spät nach Hause kommen, wie er will und auch in einem Zustande, wie ihn eben der Genuß geistiger Getränke verursacht hat, in welchem er sich aber vor seinen Eltern nicht sehen lassen dürfte.

Das leidige Geld, mit dem er nicht umzugehen versteht, hat ihn verführt zu Angewohnheiten, die ihm nach und nach zum Bedürfnis geworden sind, – leider! Wenn ihn dann nur etwas wieder auf den rechten Pfad bringt, so ist der angerichtete Schaden noch nicht allzu groß, er hat die Wahrheit des Sprichwortes: »L'argent est un bon serviteur, mais un maître méchant«1 einsehen gelernt, und, wenn er nur nicht zu spät zur Einsicht gelangt, so mag die Erfahrung ihn ganz gern eine zeitlang in ihre Schule nehmen und ihm zeigen, daß es auch falsche Bedürfnisse geben kann.

Zuweilen wird auch solch ein junger Mann gewaltsam aus seiner beschrittenen Bahn herausgerissen, – das Vaterland fordert von ihm sein Recht, und beim Militär muß er schon ohnehin einer Lebensweise obliegen, die an Solidität nichts zu wünschen übrig läßt.

Sollte er aber vielleicht wegen irgend eines geringen körperlichen Fehlers nicht diensttauglich gewesen sein, nun so kommt er doch allmählich von selbst in die Jahre, wo er sozusagen »vernünftig« wird. Das Leben, an das er sich früher gewöhnt hatte, ekelt ihn an, er fühlt eine Leere in seinem Innern, die er vor der Hand nicht ausfüllen kann, und in solchen Stunden kommt ihm unwillkürlich der Gedanke: Wenn ich doch nur etwas hätte, woran ich mein Herz hängen könnte!

Die längst schon verstäubten Klassiker auf dem Bücherbord fallen ihm wieder in die Augen, wie zufällig nimmt er einen Band von Schillers Werken herunter, er schlägt das Buch auf und liest die Stelle:
[9]

Wem der große Wurf gelungen,

Eines Freundes Freund zu sein,

Wer ein holdes Weib errungen,

Stimm' in unsern Jubel ein.

Ja, wer auch nur eine Seele

Sein nennt auf dem Erdenrund! –

Und wer's nie gekonnt der stehle

Weinend sich aus unserm Bund!


Eine stille Träne rinnt ihm über die Wangen, – ja, warum hat er denn nicht eine Seele, die er sein nennen kann? Hat er denn nicht einen verzeihenden Vater, eine liebende Mutter? Warum ist er nicht bei ihnen? Alle diese Fragen drängen sich ihm gewaltsam auf, er sieht ein, wozu ihn seine falschen Bedürfnisse verleitet haben. Er verspricht sich in seinem Innern Umkehr, er kehrt zurück, Vater und Mutter nehmen ihn wieder auf. Jubelnd wird der verlorene Sohn empfangen, und freudigen, dankerfüllten Herzens mag er mit Goethe ausrufen:


Vom Himmel tönen süße Frühlingslieder,

Die Träne rinnt, die Erde hat mich wieder!


Jetzt wird ihm genau das Gegenteil von dem, was er sich früher angewöhnt hatte, zum wahren Bedürfnis, er lernt den Wert einer Häuslichkeit schätzen. Wenn ihn auch seine Freunde beim Zusammentreffen einen »Mucker« nennen, – laß sie nur schwatzen, früher oder später kommen alle einmal zu genau derselben Überzeugung, deren er jetzt schon inne geworden ist. –

Aber es gibt nicht allein Bedürfnisse des Körpers und des Geistes, sondern der Mensch trägt noch etwas in sich das auch ein ganz klein wenig beachtet und berücksichtigt sein will, – es ist das Herz. Zunächst wird es völlig erfüllt von der Liebe zu Eltern und Geschwister. Bald faßt ein namenloses Sehnen des Jünglings Herz. Vor seinem geistigen Auge entwickelt sich ein farbenreiches Bild häuslichen Glückes Schillers »Mutter der Kinder«, die weise im häuslichen Kreise herrschen soll, hat schon ganz bestimmte Formen angenommen, das schöne Bild, daß er sich ausmalt, ist kein Phantasiegebilde[10] mehr, sondern es gibt eine Person die dieses Bild verkörpert. Er hat ein liebendes Herz gefunden. Also auch ideale Bedürfnisse hat der Mensch, und wohl dem, der in der glücklichen Lage ist, diesen gerecht werden zu können. Es ist schwer die wahren von den falschen Bedürfnissen zu erkennen.

Als wahre Bedürfnisse dürften diejenigen aufzufassen sein, welche wir auch an andern Personen gleichen Standes bemerken und die in den natürlichen Eigenschaften der Menschen, sowie den Erfordernissen des gesellschaftlichen Umganges begründet sind, während man als falsche Bedürfnisse diejenigen bezeichnen könnte, durch deren Befriedigung wir einerseits über unsern Stand hinausgehen würden, oder die andererseits nur auf individueller Angewöhnung beruhen. Was dem einen in konventioneller Hinsicht ein Bedürfnis, ist dem andern ein Zwang und es ist nur eine, wenn auch unschwer zu beantwortende Frage, wer von beiden sich besser dabei steht. Wir haben hier rein den Standpunkt der Konvenienz ins Auge gefaßt; sprachen wir zu Anfang des Kapitels von körperlichen und geistigen Bedürfnissen, sodann von denen des Herzens, hinzufügend, daß es auch ideale Bedürfnisse gibt, so glauben wir, das Bedürfnis nach einer besseren, feineren Lebensart zu den letzteren, den idealen, zählen zu müssen. Auch können wir uns der Ansicht nicht verschließen, daß es nur ein ein gebildeter Zwang ist, der demjenigen auferlegt wird, der sich mit der Konvenienz nicht befreunden kann. Würde er nun den Versuch machen, sich ein ganz klein wenig in sie hinein zu leben, er würde sehen, daß sie ihm bald nicht mehr einen Zwang auferlegt, sondern zur Gewohnheit und schließlich zum Bedürfnis wird.

1

Das Geld ist ein guter Diener, aber ein schlechter Lehrer. (Andere übersetzen es auch: »ein schlechter Herr«.)

Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 8-11.
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