Die Augen.

[60] Das Auge ist eins der edelsten, feinsten und empfindlichsten Organe des menschlichen Körpers. Jeder einzelne Teil desselben ist ein Kunstwerk der Natur, und der Verlust des Augenlichtes ist mit allem Golde der Erde nicht zu bezahlen, daher ist das Auge der besonderen Pflege anzuempfehlen.

Jede Überanstrengung schadet dem Auge, wenn auch in nicht gerade allzuschnell bemerkbarer Weise, sodaß also als erste Pflege der Augen eine gehörige Schonung zu nennen ist.

Nicht unerwähnt möge es bleiben, daß die Augen in verschiedener Weise den Anstrengungen widerstehen. Braune und schwarze Augen sollen weniger widerstandsfähig als blaue und graue gegen die Folgen geschehener Anstrengung sein.

Das Auge wird ermüdet, sobald man demselben keine Abwechslung bietet. Eine ununterbrochen gleiche Beschäftigung reizt erst das Auge, dann aber ermüdet es. Es ist also notwendig, durch zeitweiliges Schließen des Auges demselben während[60] anhaltender Arbeit eine, wenn auch nur kurze Ruhepause zu gönnen.

Auch das Arbeiten bei Dämmerlicht schadet dem Auge ganz bedeutend.

Das ungenügende Licht, welches auf das Buch oder die Arbeit fällt, nötigt uns, das Auge mehr anzustrengen. Die geringe Ersparnis, welche durch das spätere Anzünden des Lichtes erzielt wird, wiegt den unberechenbaren Schaden an der Gesundheit des Auges nicht auf.

Blutandrang nach dem Kopfe beeinflußt erfahrungsgemäß in ganz besonderer Weise das Auge. Alle Umstände, welche dieses verursachen, sind demnach zu vermeiden, auch die zu sehr gebückte, nach vorn zu neigende Haltung des Oberkörpers beim Arbeiten ist nicht anzuempfehlen.

Ein arger Unfug, der durch nichts zu entschuldigen ist und sich schwer genug rächt, wird mit dem Tragen von Brillen, Pincenez und Monocles getrieben.

Es sollte doch jeder, bevor er eine Brille kauft, sich darüber klar werden, daß die Krücke stets ein Zeichen der Schwachheit ist. Ebensowenig wie es einem Menschen, der vollkommen gesund ist, einfallen würde, unangenehm schmeckende Medizin einzunehmen, oder auf gesunden Beinen mit einem Stelzfuß herumzulaufen, ebensowenig sollte ein Mensch, dem die Natur ein normales Auge gegeben hat, sich unnötiger Weise einer Brille bedienen.

Hat sich aber einmal die Notwendigkeit zur Benutzung dieses Hülfsmittels herausgestellt, so wende man sich an die richtige Quelle. Ein gewissenhafter Optiker wird das richtige treffen, und in zweifelhaften Fällen ist der Arzt zu Rate zn ziehen.

Durch Augengläser wird dem Auge der Ausdruck genommen, mindestens aber in bedeutendem Maße abgeschwächt.

Und welchen Ausdrucks ist nicht das Auge fähig!

Wird nicht das Auge der Spiegel der Seele genannt? Und spiegelt sich nicht im Auge der Mensch mit seinem ganzen Sein wieder?

Welch' eine engelreine Unschuld und treue Anhänglichkeit blickt uns aus dem blauen Auge entgegen und welche Geisteskraft,[61] welch' wundersamer Schimmer von Herzensgüte und Menschenliebe sieht aus dem grauen Auge! Welcher großmütigen Stärke begegnen wir im braunen Auge, und mit welch' begehrendem Feuer blickt uns das schwarze Auge an! Blicke drücken aus, was Worte nicht sagen können. Der Blick verrät Haß und Liebe, Freud und Leid, Wohlbehagen und Mißfallen, mit einem Wort, der Blick verrät das ganze Sein der Seele bis auf den tiefsten Grund!

Das Auge ist ein wunderbarer Spiegel, der sein Bild sich selbst schafft. Es ist ein leuchtender Krystall, dem an Wert kein Edelstein gleicht, ein funkelnder Stern, dessen Himmel auf Erden ist. Und diesen reinsten Seelenspiegel in vermessener Weise verhüllen, blenden, nur einer lächerlichen Torheit wegen!


Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 60-62.
Lizenz:
Kategorien: