Gewohnheit und Angewöhnung.

[6] Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß die Menschen alles das, was sie tun, weniger aus Grundsätzen oder aus einer freien, auf eigene Wahl gegründeten Ueberlegung geschehen lassen, sondern daß ihr Naturell, ihre individuellen Eigenschaften, die Mutter ihrer Handlungen sind.

Wie es unter Millionen von Menschen kaum einen geben mag, der ein Mann von Grundsätzen, im strengsten Sinne des Wortes genommen, ist, d.h. ein Mann, der die Lebensregeln, welche sein hervorragender Geist als gut anerkannt hat, bei allen seinen Handlungen beständig vor Augen behält, – ebenso wenig gibt es einen Menschen, der systematisch Böses verübt, jeden Trieb zum Guten in sich erstickt, mit einem Wort, einen Teufel in Menschengestalt, ein Ungeheuer, welcher das Böse um des Bösen willen liebt.

Wir alle schlagen zwischen beiden die Mittelstraße ein, nur neigt der eine mehr nach dieser, der andere wiederum mehr nach jener Seite zu. Wir befolgen auf diesem, unserm Lebenswege weniger einen festen Grundsatz, als daß wir uns unseren natürlichen Eigenschaften überlassen.

Woher kommt dies?

Einem nicht unbeträchtlichen Teil der menschlichen Gesellschaft sind in den Kinderjahren zwar eine Menge der schönsten Grundsätze gepredigt worden, aber die Erzieher vergaßen, daß der Zögling in seinen jungen Jahren diese Grundsätze auch fleißig üben müsse und so blieben denn dieselben nur im Kopfe, gingen nicht zu Herzen und wurden, wenigstens als Grundsatz, nicht befolgt.

Handelt dennoch jemand gemäß seiner empfangenen Lehre, so geschieht es weniger aus Absicht, als aus bloßem Zufall.

Ein ganz kleiner Teil der Menschheit, welcher das seltene Glück hatte, auch in den erlernten Grundsätzen geübt, also nicht allein unterrichtet sondern auch erzogen zu werden, welche von der Vorsehung in eine höhere Schule genommen[7] worden sind, wo die Erfahrung die einzige, wenn auch strenge Lehrmeisterin ist; dieser ganz kleine Teil mag die Befähigung haben, nach den Gründen der Vernunft seine Handlungen einzurichten.

Aber auch sie sind Menschen mit menschlichen Schwächen und werden oft eine Inkonsequenz begehen, die sie nachher zwar als solche erkennen, nie aber in ihrer Tragweite abschwächen können.

Wie also hieraus deutlich zu ersehen, sind die allermeisten Menschen das, was sie sind, ob nun gut oder böse, edel oder unedel, weniger aus Grundsatz als aus Gründen, die ihrer individuellen Beschaffenheit entstammen, – und unter diesen steht die Gewohnheit oben an; auch die Konvenienz ist ein Produkt der Gewohnheit.

Durch stetige Übung wird die gute und edle Lebensweise Dein geistiges Eigentum, über das Du frei verfügen kannst, sie wird Dir zur Gewohnheit. Die Gewohnheit wird zum

Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 6-8.
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