Leidenschaften.

[24] Den Begriff der Leidenschaft kann man dahin definieren, daß sie derjenige Gemütszustand ist, in welchem das sinnliche Begehrungsvermögen ein so heftiges wird, daß es die freie Tätigkeit der Vernunft dadurch abschwächt.

Die Leidenschaft entspringt einem der edelsten Triebe des menschlichen Herzens: der Liebe. Ihre Abarten entstehen, je nachdem diese verschiedenen Objekten zugewendet ist: der Geiz entspringt der Gierde zum Gelde, die Verschwendung der Sucht zum Vergnügen etc.

Die Leidenschaften können gefördert werden mit Rücksicht auf den Körper.

1. Durch organische Dispositionen, wie dies besonders bei der Freß-, Trunksucht und Wollust der Fall ist.[24]

2. Durch körperliche Konstitution, so zeigt sich bei rüstigen und kräftigeren Naturen mehr unbändige Wildheit, bei schwächlicheren mehr schleichende List.

3. Durch das Lebensalter; Genußsucht und leidenschaftliche Liebe gehören vornehmlich der Jugend, Ehrsucht und Herrschsucht dem Manne, Geiz und Argwohn dem Greise.

In psychischer Hinsicht werden die Leidenschaften besonders gefördert:

1. Durch Mangel an Ausbildung der Intelligenz und des sittlichen Willens. Darum treten bei ungebildeten Menschen und unkultivierten und wilden Völkern die Leidenschaften in erschrecklichem Maße auf.

2. Durch die Phantasie; denn sie hebt oft die Begierde auf die Höhe durch die Vorspiegelung künftiger Genüsse. So kann der Geiz erregt werden durch die Vorstellung vom Ansehen des Reichtums und dem, was sich mit Geld anfangen läßt, oder durch eine fast kindische Furcht vor künftiger Hilfs- und Erwerbslosigkeit.

3. Dadurch, daß Schwierigkeiten und Hindernisse der Begierde in den Weg treten.

Nitimur in vetitum semper, enpimusque negata.1 Video meliora proboque: deteriora sequor.2

Es heißt: »Die Leidenschaft ist blind.« Diese Behauptung ist nur insofern richtig, als die Leidenschaft weder die Verwerflichkeit der Mittel, noch die aus der Anwendnng derselben entstehenden schlimmen Folgen erkennt. Sie ist aber nicht blind, ja sogar scharfsichtig in der Auffindung von Mitteln und Wegen zu ihrer Befriedigung, (man denke nur an Rachsucht). Jede Leidenschaft strebt nach dem, was zu ihrer Erhaltung dient. So verwerflich die Leidenschaft ist, so kann doch ihre Entstehungsursache eine durchaus erlaubte sein. Die Liebe ist eine der edelsten Triebe des Menschen; aus ihr entwickeln sich Gefall- und Eifersucht. Aus dem Haß entstehen Schmäh- und Rachsucht. Haben wir nicht alle den Trieb der Selbsterhaltung in uns? Nur diesem entstammt der Egoismus. Ein[25] mit demselben behafteter Mensch liebt nur eins: Das eigene Ich! Es ist gewiß nicht zu verwerfen, wenn jemand seine ganzen körperlichen und geistigen Kräfte auf die Erwerbung von realen Gütern verwendet; aber man darf dieses Streben nicht in Habsucht und Geiz ausarten lassen. Dem gegenüber sind aber auch die Faulheit und Verschwendungssucht als verdammungswürdig zu bezeichnen. Den Weinstock läßt die Natur wachsen und gedeihen, damit wir uns an seiner köstlichen Frucht erfreuen sollen, und die Menschen erfanden es, aus der Traube ein erquickendes Getränk herzustellen. Undank wäre es, wollte man den Wert dieser köstlichen Gabe der Natur nicht anerkennen; – aber, halt Maß und Ziel, verfalle nicht der Trunksucht. Ein, anderer jedem Menschen innewohnender Trieb ist der der Selbstveredelung. Manneswürde und Selbstbewußtsein sind schöne Eigenschaften derjenigen Kreatur, welche zum Herrn der Schöpfung bestimmt ist. Niemals lasse man aber diese Eigenschaften zur Ruhm- und Ehrsucht, Herrschsucht, Stolz und Hochmut ausarten. Welchen Trost gewährt nicht die Religion in allen Lagen des menschlichen Lebens, sie stärkt und erhält uns, wenn wir unter der Bürde unseres vermeintlich schweren Geschickes zusammen zu brechen drohen; aber welche Kinder der Leidenschaft erzeugt auch sie? Ungefährlicher sind schon die sogenannten Lieblingsneigungen: der eine liebt Blumen, der andere Pferde, ein dritter legt sich Sammlungen aller möglichen Art an und ein vierter verlebt keinen Tag, ohne einige Stunden auf dem Wasser gefahren zu haben. Wir gestehen zu, daß der Dichter Recht hat, welcher sagt:


Betrachte dir die Menschengruppe

Und was ein jeder denkt und fühlt,

Es hat ein jeder seine Puppe,

Womit er gern ein wenig spielt.


Lassen wir jedem seine Puppe, aber möge das Spiel mit ihr, die Befriedigung der Neigungen niemals zur Leidenschaft werden. Hüten wir uns deßhalb wohl, diese zur Begierde ausarten zu lassen. Je öfter wir nämlich eine Begierde befriedigen, um so mächtiger wird sie und um so weniger können[26] wir ihr widerstehen, bis sie endlich die Macht über uns gewonnen hat und zur Leidenschaft wird.


Erzitt're vor dem ersten Schritte,

Mit ihm sind schon die andern Tritte

Zu einem neuen Fall getan.


Principis obsta! sero medicina paratur, Cum mala per longas invaluere (Ovid).3

1

Wir streben immer nach Verbotenem und begehren, was versagt ist.

2

Ich sehe das Bessere und billige es, dem Schlechteren folge ich.

3

(Dem Keime tritt entgegen! Zu spät wird das Heilmittel bereitet, wenn das Übel durch langes Zögern an Kraft gewonnen hat.)

Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 24-27.
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