Vor dem Tanz

Vor dem Tanz.

[167] Wir haben den Tanz noch vor uns, nicht einen Tanz, nein alle Tänze, da heißt es denn sich zusammen nehmen, daß man sich nicht schon vor dem Tanze einer Unschicklichkeit schuldig macht.

Junge Damen, welchen vor lauter Erwartung schon der Mund übergeht, stecken die Köpfchen zusammen und plaudern, daß es keine Freude ist. Wer glaubt, durch solches Verhalten viele Tänzer zu bekommen, der möge daran denken, daß jedes auffällige Betragen unfein ist, und keine Freunde erwirbt. Allzugroße Schüchternheit ist natürlich auch nicht angebracht.

In einer feineren Gesellschaft, in der man unbekannt ist, wählt man am besten diejenige Dame, welche zunächst sitzt. Durch Nennung seines Namens oder Überreichung seiner Visitenkarte führt man sich ein; noch besser ist es sich von einem Bekannten vorstellen zu lassen; keinesfalls aber darf man mit einer Dame tanzen, der man nicht vorgestellt ist. Immer die als gute Tänzerinnen bekannten Damen zu wählen, ist unschicklich. Durch ein freundliches und liebenswürdiges Benehmen wird sich der Tänzer immer Freundinnen erwerben.

Das Vorherengagieren kann nur da stattfinden, wo genau so viele Damen als Herren anwesend, und Tanzkarten ausgegeben sind.

Unpassend ist es, in feineren Zirkeln an einem Abend mehrere Tänze mit derselben Dame zu tanzen; denn man wird die betreffende Dame immer ins Gerede bringen.

In einer Gesellschaft kommt es aber auch vor, daß ein Herr mit einer Dame mehrere Tänze tanzt, vielleicht ganz ohne sich irgend etwas dabei zu denken und nur, weil sie eine gute Tänzerin ist, oder andere Vorzüge hat. Wenn dann andere Herren auch mit Kennermiene die Vorzüge erkannt haben, so eilen beim Beginn der Musik gewöhnlich mehrere Herren zugleich nach dem Platze der bewußten Dame. –[167] Je näher man dem Ziele kommt, desto mehr beschleunigt jeder seine Schritte und schließlich entsteht ein Wettrennen, dessen Preis ein Tanz mit der Vielumschwärmten ist. Ein Dutzend Tanzlustiger ist fast gleichzeitig angelangt, nicht, ohne daß einer mit dem andern am Endpunkte des Wettlaufes hart aneinander geraten wäre. Alle machen derselben Schönen ihre Verbeugung, jeder erwartet, daß er der Glückliche sein werde, und sie? »Was tun«, sprach Zeus, »die Welt ist weggegeben«. Wem soll sie folgen, um auf Terpsichorens Schwingen den Saal zu durcheilen? Sie wählt den, mit dem sie es schon einmal gewagt hat.

»Andere Länder, andere Sitten«, pflegt man zu sagen, und wir können dasselbe Sprichwort hier insofern anwenden, als man in einer Gesellschaft etwas für erlaubt hält, was in einem anderen Kreise nicht erlaubt wäre. Man denkt sich stellenweise selbst in besseren Gesellschaften garnichts dabei, wenn Szenen, wie die obengeschilderte, sich ereignen, während es doch immerhin ein Zeichen mangelhafter Leitung und mangelhafter Bildung ist, wenn man gewissermaßen allen anwesenden Damen geradezu einen Schlag ins Gesicht gibt, indem man eine einzelne so sehr bevorzugt.


Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 167-168.
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