Die Höflichkeit.

[76] Die Höflichkeit ist ein Produkt nationaler Sitte; sie ist durch bloßes Herkommen entstanden. – Die Gesetze der Höflichkeit sind veränderlicher Natur, die des Anstandes sind einer Änderung nicht unterworfen; was früher anständig war, ist es heute noch, – was aber früher als unhöflich galt, kann heute den Begriff einer Höflichkeitsbezeugung ausmachen und umgekehrt, gerade so wie auch etwas in einem Lande oder in einer Gesellschaft als unhöflich gelten kann, was man bei einer anderen Nation oder in einem anderen Kreise für höflich hält.

Aus diesem Allen ergiebt sich, daß die Gesetze der Höflichkeit einer spezielleren Kenntnis bedürfen und ist es daher, um höflich zu sein, nötig, sich mit den nationalen Sitten und Gebräuchen, mit Land und Leuten, oder kurz mit der Gesellschaft, wie sie sich zu bewegen pflegt, vertraut zu machen.

Die Erfahrung wird hierin nun zwar eine ganz gute Lehrmeisterin sein, – vorausgesetzt, daß der Schüler Beobachtungsgabe genug besitzt, um von ihr etwas zu lernen. – Man läuft aber das Risiko, wenn man ausschließlich durch Erfahrung profitieren will, ein teures Lehrgeld bezahlen zu müssen, indem man ja immerhin so lange für unhöflich gehalten wird, als man eben noch nicht weit genug in der Kunst, das Höfliche vom Unhöflichen unterscheiden zu können, vorgeschritten ist.[77]

Es ist eigentümlich genug, daß man schon daran, wie ein Mensch sich nähert, den Grad seiner Höflichkeit taxieren kann, und sicher wird man sich gerade darum bemühen müssen, den ersten Eindruck, der durch das


Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 76-78.
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