Anrede.

[96] Hierbei unterscheiden wir die Höflichkeits- und die Vertraulichkeitsform.

Wie allgemein bekannt, wenden wir gegen jeden die Höflichkeitsform, das »Sie« an und gebrauchen das vertrauliche »Du« nur dort, wo ein vertrauliches Verhältnis obwaltet.

In früheren Zeiten war es in besseren Häusern üblich, daß die Kinder ihre Eltern mit »Sie« anredeten. Es ist nicht[96] zu leugnen, daß hierdurch Hochachtung und Respekt vor den Eltern erhöht wird. Ob aber durch diese Erziehungsmetode nicht auch die kindliche Liebe einen argen Stoß erhält und ein mehr fremdartiges Verhältnis zwischen Eltern und Kindern entsteht, das allerdings ist eine zweite Frage.

Wenn man sich also unbedingt für das »Du« zwischen Eltern und Kindern aussprechen könnte, so wäre dessen sonstiger, vielseitiger Anwendung nicht das Wort zu reden.

Es gibt Menschen, die sich gleich mit jedem duzen; sie denken sich eben nicht viel dabei. Der Zufall führt zwei oder mehrere junge Leute zusammen, einer erlaubt sich, den andern zu einem Glase Wein einzuladen, der andere revanchiert sich, bis sie schließlich in rosigster Laune sich einander damit entgegenkommen, daß A. sagt: ›Hör‹ mal, Junge, Du gefällst mir!« worauf B. flugs erwidert: »Komm', laß uns Brüderschaft trinken, – Kellner noch eine Flasche Wein«. Der Freundschaftsbund zweier Menschen, die vor einigen Stunden noch einer vom Andern keine Ahnung hatten, daß sie überhaupt existieren, »ist auf ewige Zeiten« besiegelt, und diese »Ewigkeit« dauert dann gewöhnlich so lange, bis der Wein ihre Gemüter so sehr erhitzt, daß sie sich wieder erzürnen und es ihnen Leid tut, daß es jemals bis zur Brüderschaft gekommen ist.

Wenn nun auch solche Wein- und Bierfreundschaften nicht immer ein, wie eben beschrieben, tragisches Ende nehmen, so ist doch im großen und ganzen das »Du« immer die Brücke zu der stillschweigend gegebenen gegenseitigen Erlaubnis, die Konvenienzregeln möglichst weit bei Seite zu setzen.

Kinder pflegt man im allgemeinen »Du« zu nennen. Wenn aber das Mädchen zur Jungfrau, der Knabe zum Jüngling heranreift, ist es nicht mehr als billig, ihnen gegenüber das Sie anzuwenden. Ebenso sollten junge Leute, die sich im Kindesalter vertraulich duzten, lieber das »Sie« gebrauchen. Mindestens müßte dieses von Jünglingen im Verkehr mit jungen Mädchen geschehen.

Die im Deutschen gebräuchliche Höflichkeitsform ist der Plural der dritten Person. – Franzosen, Engländer usw.[97] wenden als solche die Pluralform der zweiten Person an, vous und you, es würde dieses dem deutschen »Ihr« entsprechen.

Das »Sie« (in der Pluralform), ist die gebräuchliche Anrede, und man wird damit niemanden beleidigen, vorausgesetzt, daß er nicht einen Titel hat, der uns bekannt sein müßte!

Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 96-98.
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