Wohlanstand.

[65] Die Begriffe des Wohlanstands und geselligen Verkehrs waren, so lehrt uns die Kulturgeschichte, in den Entwickelungsstufen der Völker, von sehr wechselnder, wandelbarer Natur.

Fortschreitend mit der Verfeinerung der Sitte gelangten danach, immerwährend damit Hand in Hand gehend, mehr und mehr verfeinerte Anschauungen über den allgemeinen Ton der Gesellschaft, über den Wohlanstand innerhalb der Gesamtheit zur Entwickelung, – ein Vorgang, der niemals stillsteht, sondern noch immer weiter sich vollziehen muß, so lange es menschliche Gemeinschaften geben wird.

Das mittlere Maß von Sittlichkeit, das einer bestimmten Gesellschaft eigentümlich ist, ist maßgehend für die in ihr herrschenden Begriffe von Schicklichkeit – gutem Ton, äußerem Anstand.

Wer aber die Vereinbarungen des Wohlanstandes nicht hält, wer wider den guten Ton verstößt, den straft die Gesellschaft oft nicht minder empfindlich als den Gesetzesübertreter. Die Menschen, die aller Orten und in allen Landen Einverständnisse in Ansehung des Äußerlichen unter sich einführten, wachen über deren Beobachtung mit einer Strenge, die zwar nicht im Augenblick fühlbar ist, aber sich in ihren Folgen bemerkbar macht.

Töricht wäre es, die auf diese Weise entstandenen Gesetze, die zwar in keinem Gesetzbuch stehen, nicht anerkennen zu wollen, schon darum, weil unser naturgemäßer Trieb nach Glückseligkeit und Geselligkeit als eine höhere Stufe des[66] nackten Selbsterhaltungsdranges uns mittelbar und unmittelbar bewußt werden läßt, wie sehr wir unser eigenes Wohlbefinden fördern, wenn wir in jeder Weise uns bestreben, in unseren Mitmenschen die besten, gefälligsten Eindrücke durch unser Verhalten zu erregen. Es ist das unaufhaltsame Ziel der Zivilisation, daß unser gesellschaftlicher Instinkt sich immer mehr veredelt, daß unsere rauhen, unangenehmen Seiten auch äußerlich mehr und mehr sich »abstoßen« und den freundlichen, sympathischen weichen.

Soweit im allgemeinen. Streitiger wird oft die Sache, wenn wir dem Wesen, den Gesetzen, den Bedingungen des schönen Äußeren im besonderen nachfragen. Da sehen wir denn manche Mißverständnisse und Schwankungen in den Gesellschaften ihr Wesen treiben. Es gibt von jedem Dinge in der Welt, das menschlicher Behandlung unterworfen, auch ein oder mehrere unechte, nachgemachte Seitenstücke, und der menschlichen Schwäche ist es vorbehalten, statt der wohltuenden Äußerungen des guten Geschmackes, die nichtigen, eingelernten Reden, Phrasen und Gesten eines heuchlerischen Scheinanstandes kund zu geben, über der toten Form den – überhaupt oft nicht vorhandenen Inhalt zu vergessen. Es gibt gewisse hoch oder niedrig stehende Menschenkinder, in deren Kreisen ein jedes herzliche oder energische Wort geradezu verpönt ist, Leute, die trotz ihres halben oder ganzen moralischen Idiotismus, in ihrer oft virtuosen Handhabung eines äußeren Formenwesens sich wahre Generalpächter der feinen Sitte dünken, und was das Schlimmste ist, nicht selten von anderen, deren Blick durch anderweitige Rücksichten getrübt ist, dafür gehalten werden. – Wir dürfen nicht vergessen, daß der gute Ton, wenn er ein solcher sein soll, nie seiner natürlichen Grundlage, nie des sittlichen und geistigen Gehaltes entbehren kann, nie in einen bloßen Kultus loser Äußerlichkeiten ausarten darf.

Feststehend sind sie inbezug auf das, was der Mensch dem eigenen Ich schuldig ist. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Gesetze, wie der Mensch sich im Äußeren zeigen, wie er sich halten, kleiden, gehen und sprechen soll usw., bei allen zivilisierten Nationen gleich sind und daß etwas, was[67] bei uns in dieser Hinsicht als unanständig gilt, auch in England, Frankreich, überhaupt in der ganzen zivilisierten Welt verpönt ist.

Wollen wir also den Begriff des Wohlanstandes zergliedern in einzelne Teile, so können wir den einen bei allen Nationen feststehenden Teil mit dem Namen »Anstand« belegen, und bleibt jetzt noch übrig, diejenigen Teile des Wohlanstandes zu erörtern, die nicht bei allen Völkern gleich, sondern von einander abweichend sind.

Dieser Teil wäre die Art und Weise, miteinander umzugehen, in der Gesellschaft aufzutreten und sich zu benehmen, und in diesem Falle ist es wiederum keinem Zweifel unterworfen, daß die Verschiedenheit von Land und Leuten andere Sitten und Gewohnheiten bedingt, daß daher die Gesetze des Umganges miteinander bei den einzelnen Völkern verschiedenartiger Natur sind.

Wer es nun verstanden hat, die Umgangsformen der Gesellschaft abzulauschen und sich im Rahmen derselben zu bewegen, der wird von der Gesellschaft als »höflich« bezeichnet. Wenn man also den zweiten, den bei den verschiedenen Nationen auch verschiedenartigen Begriff des Wohlanstandes als den soeben erläuterten auffaßt, so muß man diesem den Namen »Höflichkeit« beilegen.

Erfaßt man nun aber den Begriff des Anstands in richtiger Weise und hat die Formen der Höflichkeit, wie sie die nationalen Sitten bedingen, sich zu eigen gemacht, so wird aus der Verbindung beider miteinander, und zwar in steter Anwendung, eine Verfeineruug des dem eigenen Ich eigentümlichen Tones ent stehen, welche wiederum zum Begriff des Wohlanstandes gehören.

Diese, bis in das kleinste Detail gehende, nie den Anstand und die Höflichkeit außer Acht lassende Verkehrsart, die sich den Grundgesetzen des Wohlanstandes anschließend, die Regeln der nationalen Höflichkeit nicht außer Acht läßt, nennen wir »Artigkeit«.

Also, zerfällt der Wohlanstand in drei Teile, den Anstand, die Höflichkeit und die Artigkeit, welche zwar, und besonders die beiden letzteren nicht scharf von einander[68] abzugrenzen sind, die aber doch jeder einzelne für sich einer besonderen Erläuterung bedarf.

Quelle:
Samsreither, J. V. & Sohn: Der Wohlanstand. Altona-Hamburg 2[1900], S. 65-69.
Lizenz:
Kategorien: