Auf der Straße.

[32] Die Wohlanständigkeit und die gute Erziehung eines Menschen erkennt man schon aus seinem Benehmen auf der Straße.

Es ist dicht vor Weihnachten. Gunther ist mit seinen Schularbeiten fertig und fragt Helga, ob sie nicht noch einen Dämmerungsbummel mit ihm durch die Geschäftsstraßen machen will. Helga ist dabei.

Die Geschwister verlassen das Haus. Schon hier sieht man, daß sich Gunther zu benehmen weiß. Er macht die Tür auf und läßt seiner Schwester als Dame den Vortritt. Auch wenn das junge Mädchen jünger ist als du selbst, mußt du sie immer vorangehen lassen. Nur eine Ausnahme gibt es. Das merke dir: Die Treppe hinauf geht stets der Herr vor der Dame.

Gunther geht links, Helga als Dame rechts. Gunther weiß auch, daß er, wenn er sich mit seinem Vater, seinem Lehrer oder sonst einem älteren oder im Range höher stehenden Herrn auf der Straße befindet, diese an seiner rechten Seite gehen lassen muß. Auch seinen Vorgesetzten von der H.-J. hat er diese Ehre zu erweisen. Wie ist es nun aber, wenn man zu fällig zu dreien geht. Nehmen wir an, es schließt sich den Geschwistern noch Gunthers Freund Rolf an. Dann nimmt man die Dame in die Mitte. Die Mitte ist der Ehrenplatz, wenn man zu dreien geht, auch für ältere und ranghöhere Damen und Herren. Also besteht nicht darauf, eine Dame oder einen älteren Herrn absolut auf den rechten Flügel schieben zu wollen. Das ist unhöflich.

Hierbei soll gleich bemerkt werden, daß es ungezogen ist, wenn eine größere Gruppe junger Leute in breiter Front den[32] ganzen Bürgersteig einnimmt, so daß kaum ein anderer vorbeigehen kann, ohne gezwungen zu sein, den Fahrdamm zu betreten.

Doch nun begleiten wir unsere beiden Freunde ein wenig durch die dichtbelebten Straßen.

Vor einem Schaufenster stehen die Leute in dicken Mengen. Fast wird der Auflauf zu einer Verkehrsstörung. Helga möchte auch sehen. Gunther verschafft ihr einen Platz, aber ohne robust von den Ellenbogen Gebrauch zu machen. Freilich bleibt er nicht hinten stehen, bis der Weg frei wird, denn dann könnte er lange warten. Nach einer Weile mahnt er Helga, die die Weihnachtssachen gern noch eingehender betrachtet hätte, zum Weitergehen, denn die andern Leute wollen auch sehen. Diese Rücksicht muß jeder auf seinen Volksgenossen nehmen. –


Vom Grüßen.

Sie schlendern gemütlich die Straße hinauf. Helga wird von einem Herrn gegrüßt. Sie neigt leicht den Kopf zum Gegengruß. Gunther kennt den Herrn zwar nicht: dennoch grüßt auch er höflich zurück. Das war richtig. Wenn eine Dame oder ein Herr in deiner Begleitung gegrüßt wird, so hast du mitzugrüßen. Das gleiche gilt für den Fall, daß deine Begleiter jemanden grüßen. Eine Dame allerdings erwidert den Gruß nicht, der nur ihrem Begleiter gilt.

Eine Ehefrau, Verlobte oder Tochter, die mit ihrem Mann, Verlobten oder Vater geht, wird, wenn er von einem ihr unbekannten Herrn gegrüßt wird, einen leichten Gegengruß nicht versagen.

Die Jugend hat das Alter, der Herr die Dame, der Untergebene den Vorgesetzten zuerst zu grüßen. So ist es in Deutschland.

In England z.B. gilt es als taktlos, wenn der Herr die Dame zuvor grüßt. Er muß warten, ob ihn die Dame grüßt.

Auch beim Handreichen ist es in Deutschland ähnlich. Du als Herr darfst niemals einer Dame oder einem älteren Herrn[33] zuerst die Hand zur Begrüßung bieten, nur sehr hochgestellten Personen ist das erlaubt.

Der deutsche Gruß ist stets von jedem zu erwidern.

Die Erwiderung eines sonstigen Grußes bleibt dir überlassen. Es müssen aber schon schwerwiegende Gründe sein, die dich veranlassen können, einen Gruß zu versagen. In solchen Fällen ist ein Versagen des Gegengrußes aber richtiger, als ein verächtliches oder höhnisches Danken.


Sei verschwiegen.

Lautes Unterhalten oder gar erregte Auseinandersetzungen auf der Straße erwecken die Aufmerksamkeit der anderen Leute, die dann manchmal Dinge aus eurem Bund oder eurer Schar erfahren, die nicht für fremde Ohren bestimmt sind. Eure Führer und ihr selbst wundert euch dann, wie dienstliche Dinge an die Oeffentlichkeit gekommen sind. Nicht nur die Wände, sondern auch die Straßen haben Ohren. Verschwiegenheit ist eine Tugend, die Gunther in hohem Maße besitzt.


Sei hilfsbereit.


Als Helga und Gunther sich gerade. an einer Straßenkreuzung befinden, sehen sie an der andern Seite einen Mann stehen, der eine gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten am Arme trägt.

»Ein Blinder, sogar ein Kriegsblinder«, sagt Helga, springt über die Straße davon, nimmt den armen Mann an den Arm und führt ihn durch den Straßenverkehr über den Damm.

So erwartet man es von jedem Hitlermädel und Hitlerjungen. Höchste Ehrerbietung vor den Kriegsopfern und Hilfsbereitschaft gegen Alte und Kranke, auch auf der Straße, wo es erforderlich ist.

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Es ist unschicklich, Leuten in die Fenster zu sehen, auch wenn sie niedrig liegen. Das wußten die drei Jungvolkkinder[34] nicht, die sich an den Fensterscheiben einer Erdgeschoßwohnung beinah vor Neugierde die Nasen platt drückten. Sie wurden im Vorbeigehen von Gunther und Helga belehrt.

Bei guten Bekannten darfst du schon einmal ins Fenster schauen, anklopfen oder hineingrüßen.

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»Du, Helga, dort kommen Schmidts, du wolltest mit Frau Schmidt noch sprechen. Wir können hinübergehen, dann ersparst du dir morgen den Weg!« redete Gunther auf seine Schwester ein. Diese erwiderte: »Bleibe hier, Gunther, Schmidts sind, wie ich sehe, in Gesellschaft, und man soll Bekannte nur ansprechen oder aufhalten, wenn sie allein sind

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Ein buntbemützter Jüngling ging vorüber. »Kennst du diesen Bengel?« fragte Helga entrüstet ihren Bruder. »Ich bin ihm schon mehrmals begegnet, mit welcher Keckheit er mir immer ins Gesicht schaut. Ich glaube, der besitzt die Unverschämtheit, mich demnächst anzusprechen.«

»Das wird er nicht wagen. Wenn er in der H.-J. wäre, hätte er längst gelernt, daß unerwünschte Zudringlichkeiten jnngen Damen gegenüber ein Zeichen von Unerzogenheit ist!« erwiderte Gunther.

Helga sagte: »Früher ergriffen ja die jungen Mädchen die Flucht vor solchen aufdringlichen Menschen, heute gibt es das nicht mehr. Ich würde solch einem ondolierten Bürschlein schon die gebührende Antwort erteilen. Der würde sich nicht zum zweiten Male erdreisten, aufdringlich zu werden.«

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Bei dieser Gelegenheit noch ein Wort. Es ist unvermeidlich, daß man im Straßenverkehr einmal mit jemandem zusammenstößt, ihn im Gedränge auf den Fuß tritt, mit dem Schirm an seinen Hut stößt. Aehnliche kleine Unzuträglichkeiten ergeben sich immer wieder. Ein verständiger Mensch nimmt sie ohne weiteres mit in Kauf. Es erfordert aber die Höflichkeit, sich[35] in solchem Falle mit einem kurzen Wort, wie: »Verzeihen Sie! Verzeihung! Bitte um Entschuldigung!« zu entschuldigen.

Quelle:
Schütte, Carl: Willst du erfahren was sich ziemt? Caputh-Potsdam [o. J.], S. 32-36.
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