Auf der Reise.

[78] Niemals darf man glauben, in der Fremde den wohlerzogenen Menschen ausziehen zu dürfen, um einen anderen, aber keineswegs besseren, anzuziehen. Man mache sich zur Hauptregel, gegen die Mitreisenden sehr rücksichtsvoll zu sein und sie in keiner Weise zu belästigen. Darum hüte man sich vor den zahllosen Handpaketen, mit denen man anderen und schließlich sich selbst fürchterlich wird. Ein praktischer Mensch versieht sich auf Reisen nur mit dem Nötigsten. Vor allen Dingen aber richtet er es ein, wenn irgend möglich, nur ein Gepäckstück zu haben, welches geräumig genug ist, um alles, was ihm unentbehrlich scheint, zu fassen. Am zweckmäßigsten ist ein großer Handkoffer; wo dieser durchaus nicht ausreicht, thut es sicherlich ein Reisekorb oder Koffer, eine Plaidrolle und eine Handtasche.

Damen machen stets den Fehler, sich zu reichlich mit Gepäck zu versehen. Zwei vollständige Anzüge, außer dem Reisekleide, vielleicht noch eine bessere Bluse oder Taille, Kamm, Bürste, Seife und reichlich Wäsche genügen für eine Sommerreise vollkommen. Ein Herr braucht noch weniger und kann, in allen Fällen, sein Hab und Gut bei sich tragen, um unabhängig von demselben zu sein. Denn ein guter Anzug, die nötige Wäsche und die erforderlichen Toilettengegenstände sind bequem in einem mäßigen Handkoffer unterzubringen.

Für die Reise selbst wähle man die Kleidung einfach und praktisch, jedoch ohne auf eine gewisse Eleganz Verzicht zu leisten.[78] Übersparsame Damen kommen zuweilen auf den absonderlichen Gedanken, alte Visiten- oder Straßenroben auf Reisen vertragen zu wollen. Sie erhalten dadurch einen merkwürdigen, trödelhaften Anstrich.

Für eine Dame eignet sich am besten ein mittelfarbiger Anzug von gutem, starken Stoffe, darüber ein leichterer oder schwererer Mantel, je nach der Jahreszeit, ein einfacher Hut mit Schleier, feste, bequeme aber hübsche Schuhe, starke untadelige Handschuhe und ein solider on tout cas. Schmucksachen sind ganz ausgeschlossen; sie machen hier einen unfeinen Eindruck und werden sogar oft gefährlich, weil sie die Habgier reizen. Ein Herr wähle ebenfalls eine Farbe, die Staub, Regen und Flecke nicht zu leicht bemerkbar werden läßt, einen der Jahreszeit entsprechenden Überzieher, feste Wildlederhandschuhe und bequeme Stiefel Statt des Stockes versehe er sich mit einem handfesten Regenschirme. Ein Plaid dürfte jedem Reisenden unentbehrlich sein, und im Winter würden wir noch zu einem Fußsacke raten.

So ausgerüstet kann man sich dreist ins Weltgetümmel wagen, vorausgesetzt, daß man sich reichlich mit Geld versehen hat. Lieber fünfzig Mark zuviel, als eine Mark zu wenig: nichts ist fataler, als auf Reisen geizen zu müssen. Um unangenehmen Zwischenfällen vorzubeugen, trage man aber nur einen kleinen Teil des Reisegeldes in der Umhängetasche bei sich, den Hauptfond hebe man, fest eingenäht, an sicherer Stelle auf.

Von den Wagenklassen der Eisenbahn empfehlen wir alleinreisenden Damen das Frauen- oder Nichtraucherkoupee der zweiten Klasse. In Begleitung von Herren können sie sehr gut auch die dritte benutzen, während einem alleinreisenden Herrn jede Wagenabteilung frei steht, wenn nicht Rücksichten auf seinen Stand, wie etwa bei Offizieren, ihn nötigen, eine vorgeschriebene zu benutzen. Wer mit Kindern reist, ist am sichersten im Damenkoupee aufgehoben; doch raten wir, nur wohlerzogene Kinder auf Reisen mitzunehmen, um die Mitreisenden und sich selbst keinem unerträglichen Martyrium auszusetzen.

Hören im allgemeinen beim Reisen auch die seinen Rücksichten auf, welche der gute Ton für den sonstigen Verkehr vorschreibt, so wird dennoch der Gebildete gegen den Reisegefährten stets ein freundliches Entgegenkommen und durchaus höfliches Betragen beobachten. Die Herren seien den Damen behülflich beim Unterbringen ihren Sachen und mögen willig Verzicht auf den besseren und bequemeren Platz leisten Dieselben Artigkeiten erwarten wir von ihnen älteren Herren gegenüber, und die jungen Mädchen sind solche Höflichkeiten[79] den Damen in vorgerückten Jahren schuldig. Niemand sei eigensinnig und hartnäckig inbezug auf das Offnen und Schließen der Fenster, sondern bedenke, daß die Ansichten hierüber unendlich verschieden sind, und daß er nicht das Recht hat, anderen die seinigen zu octroyieren. Jeder merke, daß ihm nur das Verfügungsrecht über das Fenster zusteht, an welchem er sitzt, und daß es wenig schicklich wäre, ohne weiteres das Koupee zu durchschreiten, um ganz nach eigenem Belieben mit den Fenstern zu verfahren. Überhaupt müssen die Mitreisenden in jedem Falle um Erlaubnis gefragt werden, sobald man eine auch sie berührende Veränderung vorzunehmen gedenkt.

Über das Anknüpfen eines Gespräches mit den Reisegefährten gehen die Ansichten sehr auseinander; wir vertreten die stumme Richtung, d.h. wir sind dafür, sich auf die nötigsten Worte, wie das Entbieten der Tageszeit u. dgl., zu beschränken. Der gute Ton kann natürlich nichts gegen ein höfliches, leichtes Gespräch einzuwenden haben, nur sei man bedacht, sich der größten Zurückhaltung zu befleißigen. Fragen nach persönlichen Verhältnissen seien ganz ausgeschlossen und nur allgemeine Themata erlaubt. Wer sich durch die Unterhaltung besonders gefesselt fühlt, wird vielleicht das Bedürfnis haben, sich seinem Gefährten bekanntzugeben, was alsdann unter der Form einer regelrechten Vorstellung zu erfolgen hat. Am einfachsten erledigt sich dieselbe durch Überreichung der Besuchskarte. Ein Herr wird diese Höflichkeit gern erwidern, doch ist er keineswegs unbedingt dazu verpflichtet, da er zwingende Gründe haben kann, sein Incognito zu bewahren; von einer Dame erwartet man keine Erwiderung, und wir können ihr auch nicht zu einer solchen raten, weil die strengste Zurückhaltung für sie am angemessensten ist, zumal auf Reisen.

Viele entfernen sich nicht zehn Kilometer vom heimatlichen Herde ohne reichliche Speisevorräte. Wir empfehlen allen, nur dann zu essen wenn ein wirkliches Bedürfnis dazu vorhanden ist und sich ausschließlich für längere Touren zu verproviantieren. Man trage Sorge, die Speisevorräte so sauber wie möglich zu verpacken und vergesse nicht, ihnen ein Mundtuch beizulegen, um dasselbe während des Essens zum Schutze der Kleidung über die Kniee legen zu können und nachher Mund und Finger damit zu säubern. Die ungenießbaren Reste sans gêne zum Fenster hinauszubefördern, verstößt erstens gegen den guten Ton und zweitens gegen das Eisenbahnreglement. Man sondere sie daher sorgfältig von den Speisen und bewahre sie wohlverpackt, bis sich Gelegenheit findet, sie an einem passenden Orte fortzuwerfen.

Den Mitreisenden von den eigenen Vorräten anzubieten, halten mir nicht für zweckmäßig. In den meisten Fällen werden verpackte[80] Eßwaren mehr oder weniger unansehnlich, und schon aus diesem Grunde ist es anmaßend, Fremden das Mitessen zuzumuten. Obst und Konfekt können unbeschädigt transportiert werden und eignen sich daher allenfalls zum Weitergeben. Glaubt man indes, den stillen Wunsch des anderen damit zu erfüllen, so offeriere man ihm getrost von den Speisen. Der seinen Lebensart geschieht dadurch kein Unrecht, wenn man acht hat, nur die appetitlich aussehenden in zierlicher Weise darzureichen. Beleidigt fühlen kann sich durch ein solches Anerbieten höchstens ein sehr zurückgebliebener Kleinstädter. Jeder andere wird es dankbar annehmen oder freundlich ablehnen, ganz nach Bedarf. Beides ist vollständig im Einklange mit den Regeln des guten Tones, und letzteres darf durchaus nicht als Kränkung aufgefaßt werden. Wem die Speiseofferte eines Mitreisenden sehr fatal wäre, der wird klüglich vermeiden, denselben während des Essens eingehend zu betrachten. Dadurch entzieht er ihm jeden Anknüpfungspunkt und umgeht die an sich stets etwas peinliche Situation des Gebens und Nehmens zwischen einander gleichstehenden Fremden.

Kann schon aus den improvisierten Mahlzeiten den Coupeegenossen gar leicht eine Belästigung erwachsen, so liegt die Gefahr einer solchen noch bedeutend näher durch die bei uns so allgemein verbreitete Gewohnheit des Rauchens. Denn es ist festgestellt, daß vielen Personen, besonders unter dem weiblichen Geschlechte, der Tabaksqualm genau so furchtbar ist, wie Ofenrauch. Oft leidet ihr körperliches Befinden sogar erheblich durch die raucherfüllte Luft; Hustenanfälle und Übelkeit sind die unausbleiblichen Folgen davon Inanbetracht dieser Thatsachen und der notorischen Ungelecktheit der deutschen Bären hat die Reichsbahnverwaltung Coupees für Nichtraucher geschaffen Da nun aber häufig nicht alle im Zuge befindliche Damen Platz im Frauen- oder Nichtraucherkoupee finden, so dürfte es durchaus angezeigt sein, die Raucher darauf aufmerksam zu machen, daß der gute Ton von ihnen erwartet, sie verzichten auf die geliebte Cigarre, sobald sich Damen oder nichtrauchende Herren in ihrer Wagenabteilung befinden. Uns erscheint selbst eine Frage um Erlaubnis überflüssig und unpassend; denn sie bedingt eigentlich eine bejahende Antwort, nach welcher Zwangsmaßregel dit Belästigung und die Verletzung des guten Tones dennoch ganz dieselben bleiben.[81]

Quelle:
Schramm, Hermine: Das richtige Benehmen. Berlin 201919, S. 78-82.
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