In der Privatpension.

[88] Die Verhältnisse bedingen es in vielen Fällen, daß schon die Kinder ihre Erziehung fern von der Heimat empfangen, und daß der Erwachsene dieselbe aus mannigfachen Gründen, vorzugsweise aber wegen des Broterwerbes, sehr frühe verlassen muß. Nicht nur das männliche Geschlecht ist dieser Eventualität ausgesetzt, sondern auch viele Damen der mittleren und höheren Stände gehen in die Fremde, um ihren Unterhalt zu verdienen oder um sich verschiedenen Studien zu widmen.

Es ist am besten, die alleinstehende Dame verzichtet auf eine selbständige Wohnung. Für junge wie ältere Mädchen ist es empfehlenswerter, eine Privatpension zu wählen. Dieselbe wird in den meisten Fällen ein wenig teurer ausfallen, als ein bescheidenes Zimmer mit Selbstbeköstigung; aber es ist ratsamer, an der Toilette zu sparen und sich den Luxus einer Pension zu gönnen, als umgekehrt.

Die Privatpension gewährt der betreffenden Dame zugleich die Möglichkeit des Familienanschlusses und -schutzes. Wir sagten Möglichkeit; denn unbedingtes Erfordernis ist derselbe keineswegs. Wird vonseiten der Pensionärin dringend Anschluß gewünscht, so ist es gut, dieses vorher fest abzumachen.

Ist die erbetene Familienzugehörigkeit gewährt worden, so raten wir, dieselbe nicht zu mißbrauchen. Eine Dame von Takt und Lebensart wird genau wissen, wie weit sie darin zu gehen hat

Die Abende nicht einsam verbringen zu müssen, ist gewiß für ein alleinstehendes Mädchen sehr viel wert, und selten wird sich jemand durch die Anwesenheit einer anspruchslosen Fremden im gemeinsamen Wohnzimmer gestört fühlen. Freilich muß eine diesbezügliche Aufforderung abgewartet werden. Dieselbe wird aber sicher nicht ausbleiben, wenn man den Wunsch des Familienanschlusses gleich zu Anfang betont hat. Selbstverständlich kann sich die junge Dame nicht als Gast benehmen, wenn sie an der Tafelrunde teilnimmt. Es wäre also eine absonderliche Idee, zu erwarten, daß die anderen sich mit ihrer Unterhaltung beschäftigen sollen. Im[88] Gegenteile, sie muß darauf bedacht sein, sich als wirkliches Familienmitglied unbemerkt einzureihen, und durch ihre Gegenwart möglichst wenig Grund zu Veränderung der Gepflogenheiten der Hauptpersonen des Kreises zu geben. Nur dann ist sie sicher, nicht zu belästigen, nur dann kann sie, wie die übrigen, ein behagliches Gefühl haben. Am besten ist es, sie versieht sich mit einer Handarbeit und teilt ihre Aufmerksamkeit zwischen dieser und der etwa in Gang kommenden Unterhaltung. Letztere ist keineswegs unbedingtes Erfordernis; denn es ist sehr leicht möglich, daß der Hausherr die Zeitung vorzieht und sich gestört fühlen würde, wenn man ihn in der Lektüre unterbräche.

Inbezug auf das Schlafengehen hat sich das neue Familienmitglied der Hausordnung willig zu fügen und mit dem Fortgehen eher etwas zu eilen, als den allgemeinen Aufbruch zu verzögern.

Handelt es sich für die Pensionärin um Anschluß zu irgend welchem Vergnügen, sei es beim Besuche des Theaters, Konzerts, irgend einer Sehenswürdigkeit oder bei einem Ausfluge, so ist festzuhalten, daß sie nicht als Gast der Familie auftritt und alle etwa entstehenden Unkosten für ihre Person zu bestreiten hat. Freilich würde es nicht gut aussehen, wenn sie bei jeder Gelegenheit das Portemonnaie zöge, und es empfiehlt sich daher, den betreffenden Herrn, welcher die Begleitung und Führung übernommen hat, artig zu bitten, freundlichst alles auslegen zu wollen. Natürlich muß das Begleichen der Schuld sogleich am nächsten Tage erfolgen.

Bei herzlichem Familienanschlüsse versteht es sich von selbst, daß die junge Dame auch für die Familienfeste ein aufmerksames Auge haben muß. Kleine Geschenke zu Geburts- oder Namenstagen an die Hausfrau und die Kinder werden durchaus angezeigt sein und selbst im Falle einer Urlaubsreise darf sie solche Tage nicht mit Stillschweigen übergehen.

Bei einem jungen Manne gestaltet sich das Verhältnis zu Pensionsgebern bedeutend einfacher. Selten wird er ein so dringendes Bedürfnis nach Familienanschluß fühlen, wie eine Dame; denn viele Fälle, in denen ihr derselbe wichtig und nötig ist, fallen bei ihm vollständig fort. Für die Abende wird er meist den Kreis froher Kameraden der Beschaulichkeit des Familientisches vorziehen, tritt aber der umgekehrte Fall ein, so ist er von vornherein einer freundlichen Aufnahme sicher, wenn er sich eines einigermaßen artigen Betragens befleißigt. Ist er gewandt und liebenswürdig, so wird er sich sehr bald die Hochschätzung und Zuneigung seiner neuen Freunde erwerben. Für seinen Verkehr mit denselben hat er alles das zu beachten, was wir bereits in anderen Kapiteln über die geselligen[89] Pflichten junger Herren sagten. Befinden sich in dem Familienkreise erwachsene Töchter, so raten wir ihm, bei aller Zuvorkommenheit und Artigkeit, zu einer gewissen Zurückhaltung in Worten und Blicken, um ja nicht Hoffnungen zu erwecken, die er nicht zu verwirklichen gedenkt. Auch könnte ein allzu freier Umgang mit den Damen des Hauses diese leicht übler Nachrede aussetzen. Die gesellige Gewandtheit und der Charakter des jungen Herrn werden sicher gewinnen, wenn er den Familienanschluß eifrig sucht, und demselben nicht möglichst aus dem Wege geht, um seine freie Zeit ausschließlich im Wirtshause zu verbringen.[90]

Quelle:
Schramm, Hermine: Das richtige Benehmen. Berlin 201919, S. 88-91.
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