Zuwachs.

[88] Heute beim Rundgang habe ich den neuen »Zuwachs« gesehen. Meine Leute in der Deckenschererei hatten schon erzählt, daß dieser junge Mann wegen Hochstapelei eingeliefert worden war. Er war ein hübscher Mensch, trug eine Brille (vergoldetes Gestell) und ging selbstbewußt seine Schritte beim Rundgang. Sein Auftreten war das eines gebildeten Mannes, der auch noch selbstbewußt auf schiefer Bahn seine eigenen Wege zu gehen wußte. Er erzählte, daß er Verwalter gewesen wäre und wegen zu großer Ehrlichkeit entlassen worden sei.

»Nun mache ich alles, bloß nicht arbeiten. Die Arbeit ist das Dümmste, was ich mir denken kann. Es ist nichts, ich[88] liebe keine schmutzige Kleidung und hasse schwielige Hände. Wenn meine Zeit herum ist, dann drehe ich wieder Dinger und lebe auch. Ihr seid dumm, einfach zu dumm, Ihr habt gearbeitet und seid auch hier. Ich arbeite nicht, und wenn was anderes passiert. Jeder feine Mann arbeitet bloß aus Vergnügen. Ich liebe die Faulheit. Je fauler ein Mensch ist und je besser er lebt, desto höher steigt er bei mir an Wert. Was wißt Ihr denn vom Leben! Bloß wegen Bettelns seid Ihr hier. Ich verschaffe mir die Mittel jede Zeit und Stunde, wenn ich frei bin, und lebe nur gut!«

Er sagte dies mit einer verächtlichen Handbewegung gegen uns. Den Pfarrer hätte er vergiften können, als einige Wochen darüber verflossen waren. Dieser hatte ihm verboten, während seiner Predigt die Brille abzusetzen. Es waren dies solche Kniffe, die manchem von uns den Kirchgang verekelten. Nach der Kirche wurde das uns zuwidere Benehmen dieses Anstaltsgeistlichen kritisiert.

Wenig konnte ich mit dem Hochstapler, dem Eigenartigsten unter uns Leuten, zusammenkommen. Mir war er immer sehr zugeneigt: »Das halbe Jahr macht mich nicht besser, aber keine zehn Pferde ziehen mich wieder in so einen Biberbau unter solche geschlagenen Leute. Diese verdammten Ueberpensummacher sind die wunderlichsten, dümmsten Leute hier,« sagte er mit Weltverachtung und weiter erzählend: »Draußen stinken sie vor Dreck und Speck – und sind sie hier, da sind es die ersten Reinlichkeitsfexe. Hier ist dem Herrgott sein schönster Tiergarten! Es ist weit vernünftiger, man veralbert die Leute von der feineren Gesellschaft, da gibt es doch noch Gold. Pfui Teufel, – für ein paar Pfennige betteln und dann sich hier viele Monate drangsalieren lassen – mein Geschäft wäre dies nicht!«

Die Tage und die Stunden meiner 14. Woche flossen auch dahin mit meiner inneren Freude, daß die größere Hälfte meiner Strafe hinter mir lag ....
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Im Laufe der 15. Woche wurde uns die Faulheit des Ascherslebeners zu groß und wir sagten ihm, wenn er keine Lust am Raddrehen habe, solle er gehen. Er sagte zum Aufseher, mit uns könne er nicht auskommen. M. sagte darauf: »Wenn hier kein richtiger Mann zum Drehen kommt, will ich andere Arbeit. Hier sind in kurzer Zeit zwei Verrückte eingestellt worden. Es ist bald das reine Tollhaus. Dann kann mich keine Verwaltung zwingen, weiter Decken zu scheren. Beim Rippenmattenmachen verdiene ich zwanzig Pfennig pro Tag, hier habe ich bloß acht Pfennig. Dann die ganze Verantwortung der Arbeit habe ich. Die Arbeitsordnung dieses Hauses verpflichtet mich nicht, mit unzurechnungsfähigen Leuten zu arbeiten!«

Der Aufseher gab ihm barsch folgende Antwort: »Sie machen Ihre Arbeit, M. Zu bestimmen haben Sie garnichts!«

Am Abend kam doch ein neuer Kollege. Von Beruf war er Schlosser und hieß Görmann. In meinen ersten Wochen hatte ich ihn schon kennen gelernt. Er litt an der fixen Idee, eine Maschine zu erfinden. Mit diesem arbeitete ich bis zu meinem letzten Tag, denn er wurde erst im September 1904 entlassen, acht Monate später als ich. Wir vertrugen uns sehr gut. Er war sehr geduldig und hatte soviel Ehrgefühl, sich nicht zur Arbeit antreiben zu lassen. D. veruneinigte sich mit M. und füllte Görmanns früheren Platz aus. Der Magdeburger, der am 29. September kam und Rippenmatten mit Faserstricken durchzog, füllte den Platz von D. aus.

Wir stritten uns jeden Tag. Die strenge Disziplin, die eintönige, gleichmäßige Arbeit war daran schuld. Ueber eins wunderte ich mich. Diese Leute, wie W., M. und D., die draußen doch nicht sehr ökonomisch geliebt hatten, kamen in Aufregung, wenn ihnen nachts die Natur abging. Hauptsächlich war der Magdeburger um seinen Verlust einiger Pfunde Körpergewichts sehr besorgt, und seine Eltern hatten für das Muttersöhnchen durch den Besuch seiner Schwester zwei Flanellhemden von riesiger Länge geschickt, damit es ja nicht frieren sollte.[90]

Ich hätte am liebsten teuflisch aufgelacht um die naive Aengstlichkeit reifer Jungens, aber ich lachte nicht, sie hätten sich für meinen Spott doch bloß wieder gerächt.

Mit Arbeiten, Streiten und Sich-wieder-vertragen – ich um meiner lieben Ruhe willen wählte das letztere – so verging auch die fünfzehnte Woche.


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Oede und kalt war die Natur in der sechzehnten Woche geworden. Das dürre Laub war meist gefallen, an den Anstaltsbäumen sah man noch einzelne Blätter hängen und diese fielen leider sehr bald. Der Wein am Hause war vor vierzehn Tagen schon seiner Reben ledig geworden – für die Räume der Verwaltung. Heute beim Rundgang sah ich drei von uns Leuten mit dem Beschneiden der Weinstöcke beschäftigt. Für uns begann jetzt eine traurige Zeit, denn mit dem Material zur Heizung wurde riesig gespart. Wir in der Raddreherei litten sehr stark darunter. Den vollen Arbeitstag mußten wir lüften wegen des unerträglichen Staubes aus den Decken beim Scheren und der Ausdünstung von uns schwitzenden Menschen.

Einmal sagte M.: »D. wird schon bald wieder sich bei uns wünschen, denn oben bei der Gesellschaft wird er sich nicht wohl fühlen.« Er hatte recht; an meinem Entlassungstag kam D. für mich als Ersatzmann.

Quelle:
Schuchardt, Ernst: Sechs Monate im Arbeitshaus. Erlebnisse eines wandernden Arbeiters, Berlin [1907], S. 88-91.
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