Erlangen, Nürnberg.

[22] Und zwei Tage darauf reisten meine Eltern zurück nach Erlangen. Mein Vater wollte nun erst die Niederkunft meiner Mutter abwarten, und weil er keinen Direktor wußte, bei dem er sich engagieren konnte, keinem Lumpen wieder traute, so entschloß er sich, selbst eine Gesellschaft zu errichten.

Sobald mein Vater in Erlangen angelangt, so suchte er um die Erlaubnis, zu spielen; erhielt solche und fand viele Unterstützung. Doktor Huth – wem ist dieser große Mann nicht bekannt – war sein Freund! Hofrat Kegel, von Fries und viele mehr, deren Namen mir entfallen. Mein Vater verschrieb sich Akteurs. Im Juli wurde meine Mutter von einem Sohn entbunden. Sie hatte viel gelitten, und jeder zweifelte, daß sie mit samt dem Kinde ihr Leben erhalten würde. – Gott aber erhielt sie zum Trost ihres Gatten und ihrer Kinder. Kaum als die gute Mutter nur in etwas ihre Kräfte gesammelt hatte und das Bett verlassen konnte, packte sie einen Koffer voll von ihren besten Kleidern und Effekten, und die wurden auf dem Versatzamt versetzt, auf Jahr und Tag. Das Geld, das meine Eltern nun erhielten, wurde zu Reisekosten für die Schauspieler und zur Anschaffung der Garderobe und Theater verwandt. Sie reisten beide nach Nürnberg und kauften dort das Notwendigste ein. Die Gesellschaft kam, und Theater und Garderobe wurden auch fertig. Meine Eltern mußten nun klein anfangen. – Denn viel Geld hatten sie nicht – und fremdes zu borgen, ohne gewiß zu sein, ob sie soviel verdienen würden, solches wieder bezahlen zu können, dazu waren sie zu gewissenhaft. Die Leute also, woraus die Gesellschaft bestand, waren: Herr[22] Fischer, Hildmeier, der junge Mecour, mein Halbbruder, Mademois. Karoline, sie heiratete nach der Zeit Herrn Ulerici.

Meine Eltern wünschten noch ein junges Frauenzimmer zu haben und frugen meinen Bruder Christian, ob er keine wüßte. Er sagte, er wisse in Nürnberg ein Mädchen von 21 bis 22 Jahren, die wohl aussähe und große Lust zum Theater hätte. Ihre Eltern machten Matratzen, wären sehr ehrliche Leute, die aber nicht viel zum besten hätten, würden also froh sein, wenn sie ihre Tochter versorgt wüßten. Dieses Frauenzimmer hieß Catharina Schädel. Mein Vater also gab an Christian den Auftrag, an die Eltern zu schreiben. In Zeit von sechs Tagen kam sie selbst, ihr stilles, sittsames Wesen gefiel meinen Eltern außerordentlich, und freuten sich über diesen Fund. Sie mußte in unserm Haus wohnen, schlief in dem Zimmer, wo ich mit meiner Schwester schlief, und speiste mit uns am Tisch. Meine Eltern begegneten ihr, als wenn sie ihre Tochter gewesen wäre, und gaben sich alle Mühe, sie zu unterrichten. Kaum war sie acht Tage bei uns, als man einen bejahrten Mann bei meinem Vater meldete. Er ließ ihn kommen und frug ihn, was zu seinen Diensten wäre. Der Alte fängt an: »Ich bin Schädel aus Nürnberg, dessen Tochter Sie wider Willen und Wissen ihrer Eltern heimlich geraubt haben, und ich komme, sie wiederzuholen.« Meine Eltern sahen den Mann an, ohne ein Wort darauf zu sagen, sondern befahlen nur, daß Carl gleich nach der Mamsell gehen solle, um ihr zu sagen, sie möchte gleich kommen. Sie kommt, – der Auftritt war wert zum Malen. Meine Eltern still, auf des Alten Gesicht Zorn und Liebe. Die Tochter sich bewußt, fiel ihrem Vater endlich zu Füßen, bat ihn um Verzeihung, daß sie heimlich fort wäre, sie könnte aber ihrem Trieb nicht widerstehen, bat meine Eltern um Vergebung, daß sie ihnen nicht die Wahrheit gesagt, und bat den Vater, um Gottes willen, sie nur nicht mitzunehmen. Der Alte drückte meinem Vater die Hand und bat ihn um Vergebung, daß er ihn falsch beschuldigt. »Aber meine Tochter kann ich nicht lassen, die nehme ich mit.« »Nehmen Sie sie mit! So notwendig ich sie auch hätte, so will ich sie doch nicht wider den Willen ihrer Eltern.« Er sprach ihr zu, und[23] so auch meine Mutter. Ihre mitgebrachten Sachen wurden zusammengepackt, und so mußte sie noch denselben Abend mit ihrem Vater unter gewaltigem Geschrei und Klagen nach Nürnberg. »Das ist die erste Fatalität,« sagten die Eltern. »In acht Tagen sollte die erste Komödie sein. Doch wer weiß, zu was es gut ist!« Nun wurde eine andere Austeilung gemacht. Aber den vierten Tag kommt der alte Schädel wieder und bringt seine Tochter selbst zu meinen Altern. Mit Tränen sagte er: »Herr Schulze, da haben Sie mein Kind wieder, das Mädel hat in drei Tagen nichts gegessen, will sich umbringen, doch das alles hätte mich nicht bewegt; ich hab so viel Gutes von Ihnen und Ihrer Frau gehört, daß ich keine Bedenken trage, sie Ihnen anzuvertrauen. Sein Sie ihr Vater und Mutter; ich gebe sie Ihnen auf Ihre Seele. Leiden Sie keine Ausschweifungen, und bewegen Sie sie ja nicht etwa, daß sie von ihrer Religion absage und katholisch wird!« Der Alte konnte nicht weiter sprechen; sondern weinte, auf die Schulter meines Vaters gelehnt. Meine Eltern waren sehr bewegt. Endlich sagte mein Vater: »Herr Schädel, da sehen Sie meine unmündigen Kinder, und so wahr, als ich wünsche, daß es diesen Kindern einst wohl ergehe, und daß sie, wenn ich bald sterben sollte, einen redlichen Mann finden, der Vaterstelle vertritt, ebenso wahr will ich das an ihrer Tochter sein. Ja, sollte ich das geringste merken, daß sie leichtsinnig werden sollte, so schicke ich sie Ihnen auf meine Kosten wieder zu.« Der alte Mann blieb zwei Tage bei uns, und so reiste er zufrieden wieder nach Hause.

In wenigen Tagen wurde die erste Komödie gegeben, und der Zuspruch war zahlreich. Meine Mutter eilte zu Hause zu ihrem kleinen Franz, dem sie selbst die Brust gab. Meine Eltern froh über die guten Einnahmen und über den Beifall, den sie erhalten, und über die Gesundheit aller ihrer Kinder. »Gott, wie ruhig wollen wir sein,« sagten sie. »Gott kann und wird uns nicht verlassen.« Nach dem Abendessen knieten wir wie gewöhnlich mit unsern Eltern nieder, beteten, empfingen ihren Segen und wurden nach unserm Zimmer geschickt. Meine Mutter legte ihren Kleinen, nachdem[24] er an ihrer Brust eingeschlafen, in die Wiege. Es war 12 Uhr nachts. Des Morgens 4 Uhr stand sie auf und freute sich, daß ihr Kleiner sie vier Stunden hatte ruhig schlafen lassen, geht, nachdem sie sich angezogen hatte, nach der Wiege, um ihn schlafen zu sehen. – Aber welch ein Anblick, das Kind lag tot in der Wiege. Sie tat einen Schrei und fiel ohnmächtig zur Erde. Mein Vater erwachte, machte Lärm, alles eilte der guten Mutter zu Hilfe. Den Abend sollte die zweite Komödie sein. Mein Vater wollte nicht spielen, aber meine Mutter, trotz ihres Leides, gab es nicht zu. »Bedenk unsere Umstände, wie nötig wir Geld brauchen, Gott wird mir ja Kraft geben.« Sie spielte!

Die Einnahmen blieben noch immer gut. Mein Vater reiste einmal mit der Gesellschaft nach Nürnberg, um einen guten Herbst in Erlangen zu haben, und auch da war die Einnahme gut. Ja, wir würden noch länger dort geblieben sein, wenn nicht einst in der Nacht ein Bote von Erlangen gekommen mit dem Befehl, gleich zurückzukommen, der Markgraf von Bayreuth sei mit dem Hof angekommen, um sich in dortiger Gegend mit der Jagd zu unterhalten, und wollte den andern Abend Komödie haben. Allen Schauspielern wurde es angesagt, und so waren wir schon um 11 Uhr des Mittags in Erlangen. Die Einnahmen erhielten sich so, daß sie nichts schuldig waren bis auf den Versatz. Meines Vaters Besorgnis war nur der Advent, weil damals an protestantischen Orten nicht gespielt werden durfte. Sein Wunsch war, an einen katholischen Ort zu kommen, wo er die Freiheit hatte, zu spielen. Er schrieb also an einen alten Bekannten von ihm, der Herr von Michelanzky hieß, nach Ingolstadt, und der dort Universitäts-Tanzmeister war. Dieser Herr von Michelanzky war ehemals ein Tänzer auf dem Wiener Theater, kam nach München, ein Fräulein verliebte sich in ihn, und da ihm der Fürst sehr wohl wollte, so erteilte er ihm den Adel und machte ihn zum Universitäts-Tanzmeister in Ingolstadt, um das Fräulein heiraten zu können. Nun war er Witwer und hatte nur eine Tochter, ein Kind von 11 bis 12 Jahren. Dieser Michelanzky erinnerte sich bald seines alten Freundes, bewarb sich für meinen Vater und[25] erhielt die Erlaubnis für ihn, dort zu spielen, wenn er gute Attestata von Erlangen mitbrächte; denn das war damals der Gebrauch, daß Prinzipals Attestata haben mußten. Daran konnte es ihm in Erlangen nicht fehlen, denn jeder Rechtschaffene schätzte meine Eltern.

Quelle:
Schulze-Kummerfeld, Karoline: Lebenserinnerungen. Berlin 1915, S. 22-26.
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