2.

[144] Ich darf Ihnen hier nicht jede kleine Sittenregel, die Sie schon in den Sittenbüchern für Kinder finden, hersezzen; aber mitunter werd ich denn doch einige, welche klein scheinen, aber weniger beherzigt sind, unter die höheren Regeln der guten Lebensart und der Etiquette mischen, weil es doch auch manchen giebt, der in diesen erfahren, und in jenen oft, wenigstens in Hinsicht[144] einiger, unwissend ist, und die gebildeteren Jünglinge werden es daher sich nicht befremden lassen, wenn sie hier manches überschlagen müßten, was Ihnen schon bekannt ist, und daran denken, daß ich hier auch auf weniger gebildete, weniger gut erzogene und erfahrene, mein Augenmerk richten mußte, um Allen etwas zu werden. Ohne hier eine bestimmte Ordnung, nach welcher ich die Regeln vortragen könnte, festzusetzen: will ich sie vielmehr so, wie sie im Leben selbst durch einander gehn, hier hersezzen, und auch die Ihnen mittheilen, welche Ihnen erst in Ihren künftigen Verhältnissen nützlich werden.


Es ist Mode, aus einer großen Gesellschaft ohne Abschied zu nehmen fortzugehn; die Gesellschaft wird so nicht in ihrer Ordnung gestöhrt, und der Herr des Hauses sieht sich so wegen des gewöhnlichen Komplimentirens beim Weggehn nicht beschwert.


Sind Sie in eine Gesellschaft gebeten, so seyn Sie nicht etwa gar der Allerletzte, und lassen die Gesellschaft auf sich zu lange warten; es ist dies nicht etwa, wie man hier und da glaubt, feiner Ton. Sehr oft wetteifern mehrere in einem solchen seynsollenden feinen Tone, und die Gesellschaft muß stundenlang warten; dies ist unhöflich,[145] und Unhöflichkeit wird nie feiner Ton werden. Kömmt man zu spät in die Gesellschaft, so derangirt man sie, man zieht aller Blicke auf sich hin, und so giebt man zu schiefen Urtheilen über sich Anlaß. Wären Sie der Vornehmste in der Gesellschaft, zu der Sie gebeten sind, so könnten Sie hiezu vielleicht eher einiges Recht haben; doch wird Promptheit auch hierin beliebt und ist jetzt selbst unter den Vornehmen Ton.


Lassen Sie sich nicht zu viel nöthigen; in diesem Falle wird zu große Höflichkeit lästig; treiben Sie Ihre Weigerung nicht etwa bis zum hartnäkkigen Widerstande; ich denke hier an die Fälle, wo man Ihnen z.B. in einer Gesellschaft, am Tische einen Ort anwiese, den Sie nicht zu verdienen glaubten, oder wo ein Großer oder Vornehmerer Sie vor sich in eine Thür oder herausgehn lassen will, weil er dem Fremden diese Höflichkeit erzeigen zu müssen glaubt, in bei den Fällen würden Sie durch eine ergebene Miene und Wendung, oder auch vielleicht mit ein paar hinzugesetzten Worten z.B. ich bitte gehorsamst, oder ich bitte unterthänigst, und etwas verlegen scheinend, sich auf einen Augenblick entschuldigen können; aber wenn Sie den Widerstand länger als einen Augenblick trieben, so wäre dies Unhöflichkeit; denn Sie müssten jene Artigkeit des Großen oder Vornehmern[146] als eine Art von Befehl für Sie ansehen; er hält jene Höflichkeit, die Ihnen da den Rang läßt, nun einmal für Pflicht, und Ihr langes Weigern hieße ihm Grobheit zumuthen zu wollen.


Eben so lassen Sie sich bei der Tafel nicht erst lange nöthigen, einen Teller mit Essen der Ihnen gereicht wird zu behalten; Sie haben Alles gethan, wenn Sie den beiden neben Ihnen sizzenden Damen den Teller zuerst überlassen haben; die Teller immer bei sich vorbeigehn zu lassen, ist übergroße Bescheidenheit und gemeine Manier. Eine Ausnahme könnte hierinn Statt finden, wenn Sie sich in einer Gesellschaft befänden, worin man diese kleinen Manieren geradezu verlangte, wo sie eingeführt wären, oder Sie zunächst der Schüssel, aus, welcher die Speise gegeben würde, säßen, und wo man Sie vielleicht den Mann ohne Lebensart nennen würde, wenn Sie diese umständlichen Weigerungen und Komplimente nicht machten.


Hier bleibt es freilich Regel: Richten Sie sich genau nach dem Tone, dem Cerimoniel und den Sitten einer Gesellschaft. Die Unterlassung solches eingeführten Cerimoniels ist da Unhöflichkeit. An einigen Orten fährt man z.B. um zwei Uhr zur Kaffeevisite, an andern um drei, und in einigen erst um vier Uhr. Hier setzt man sich auf[147] einen Stuhl, der einem am nächsten ist, zur Tafel, dort beobachtet man genaue Rangordnung. Gratuliren, trinken Sie Gesundheit, wo es Sitte ist; küssen Sie sich beim Kommen und Weggehen wo es Mode ist; machen Sie kleine unschuldige Modethorheiten mit, wo sie eingeführt sind, und lächeln Sie wenigstens freundlich und duldsam, wenn Sie mit Kirschenstielen und Aepfelschalen geworfen würden, wenn Sie selbst auch dergleichen Unanständigkeiten, die es immer bleiben, nicht mitmachten. Der Solide muß sich hier immer auszeichnen; aber er muß nicht etwa mokant darüber lächeln und dergleichen bestrafen wollen.


Nöthigen Sie selbst nicht zu viel, Sie bringen dadurch sich und andere in Verlegenheit; auch giebt dies zu faden, einsilbigen Gesprächen Anlaß, welche die Laune der Gesellschaft stöhren.


Höflichkeit und Bescheidenheit macht es Ihnen zur Pflicht, selbst einer geringern Dame den Platz über sich einzuräumen.


Dem Alter, zumal dem greisen Alter, sind Sie vorzüglich diese ehrfurchtsvolle Höflichkeit schuldig; selbst wenn dergleichen Personen tief an Rang und Ansehn unter Ihnen ständen, bleibt diese Höflichkeit und die hochachtungsvolle Auszeichnung,[148] Pflicht; und sie ist in diesem Falle um so rühmlicher und artiger.


Bitten Sie künftig Gesellschaft zu sich, so ist es Ihre Pflicht, die Gäste zu empfangen. Einer Person von erhabenem Range gehn Sie bis an die Hausthür, wo er aus dem Wagen steigt, entgegen; den weniger Großen empfangen Sie vor der Thür des Zimmers; die Gäste geringeren Standes in oder an der Thüre des Zimmers.


Unterlassen Sie es nicht, einen neuen Gast denen, welchen er noch unbekannt ist, zu präsentiren, das heißt: der Gesellschaft seinen Rang und seinen Namen zu nennen, und wenn er Ihr Verwandter ist, dies der Gesellschaft anzuzeigen. Ist es eine Ihnen sonst sehr geschätzte Person, deren besondern Werth Sie von der Gesellschaft gern erkannt sehn möchten, so thun Sie etwas sehr Artiges, wenn Sie in Ansehung seiner noch etwas Verbindliches mit Bescheidenheit hinzufügen; doch läßt sich dies nur gut in einem zutraulichen Zirkel thun. Ich darf wohl kaum hinzusetzen, daß wenn jemand in Ihrer Gesellschaft sich an Rang und Stand vorzüglich vor den andern auszeichnete, Sie diesem zuerst den Fremden zu präsentiren hätten. Bei zu vermischten Gesellschaften unterläßt man dieses Präsentiren im Allgemeinen, um durch die genaue[149] Bekanntmachung dieses und jenen Geringeren, theils jenen, den Vornehmeren, zumal wenn er sehr auf seinen Stand hält, selbst nicht zu disjustiren; theils diesen, den Geringeren, dadurch nicht in Verlegenheit zu setzen; zumal wenn ihm ausserdem an dieser Bekanntmachung seiner Person nicht ausdrücklich gelegen ist. Ist es ein Gelehrter oder Künstler, der weiter keinen Titel hat, und dessen Name nicht gerade allgemein bekannt ist, so verlangt es die Artigkeit, daß Sie bei seiner Präsentirung ein Wort von seinen Verdiensten oder Geschicklichkeiten hinzufügen; bei dieser Art Leuten dürfen Sie das Präsentiren nie unterlassen, weil Ihrer Gesellschaft oft selbst daran viel liegt, dergleichen Leute von Person kennen zu lernen, und die Zusätze z.B. ein auswärtiger (oder hiesiger), verdienstvoller Gelehrte, (oder wenn es ein Schriftsteller ist) »einer unserer bekannten (deutschen) Schriftsteller,« oder eine verdienstvolle Künstlerinn, eine Mahlerinn, Sängerinn und dergleichen sind hier am rechten Orte.


Nehmen Sie als Wirth immer eine recht heitere, freundliche Miene an. Ein heiterer Blick würzt das Gastmahl, scheint es gern zu geben, und stimmt zu gleicher Heiterkeit.


Auch als Gast lassen Sie sich diese heitere Miene vorzüglich empfohlen seyn, sonst kommt[150] der Wirth leicht auf den Gedanken, daß es Ihnen bei ihm nicht gefällt, und daß Sie nicht gehörig besorgt werden.


Besonders lassen Sie es sich recht angelegen seyn, die Gäste gehörig zu besorgen, und suchen Sie die Unterredung so zu lenken, daß jeder seine Geschicklichkeiten und seine Talente zeigen kann; so wird sich jeder in Ihrer Gesellschaft gefallen und vergnügen. Und dahin können Sie es bringen, wenn Sie sich erkundigen, was eines jeden Fach und Lieblingsgeschäft oder Neigung ist.


Nur hüten Sie sich, daß Sie nicht den Einen in ein zu helles Licht sezzen und den Andern darüber verdunkeln und in Schatten bringen; dies würde der Fall seyn, wenn. Sie Jemandem in Ihrer Gesellschaft Veranlassung gegeben hätten, etwas auszuführen, und Sie bäten dann einen weit geschickteren über eben diese Materie zu reden; oder Sie nöthigten z.B. eine Dame zum Singen, sie gäbe Ihrer Bitte Gehör, und nachher bäten Sie eine andere, von der Sie wüßten, daß sie reiner, schöner und ausdrucksvoller singt, sich auch hören zu lassen; so wären Sie nicht höflich, und die Dame, die sich nun Ihre Bitte gefallen ließe, wäre eben so wie jene in Verlegenheit, wenn sie bescheiden und artig ist. Machen[151] Sie Niemanden den Verdruß, sich in Sachen verdunkelt zu sehen, worin er Vorzüge zu besizzen glaubt, selbst wenn diese Vorzüge ihm keinen eigentlichen Werth gäben und an und für sich selbst keinen hätten; die Menschen sind nun einmal so sonderbar, daß sie in denen Dingen, deren Unwissenheit ihnen zugute gehalten wird, sich oft mehr hervorzuthun beeifern, als in denen, die sie zu wissen unumgänglich nöthig haben; finden sie jemanden, der ihnen hier entgegensteht, so halten sie dies für die größte Beleidigung.


Sagen Sie in Gesellschaft von Damen nie Ihr Urtheil über Schönheit und Häßlichkeit des Gesichts und der Gestalt, Sie müssen hier und da immer beleidigen.


Sprechen Sie wenig von sich und suchen Sie mehr Ihre Artigkeit zu zeigen, als mit Ihrer Lebhaftigkeit und mit Ihrem Verstande zu glänzen, um so dem Tadel und Neide zu entgehen; geben Sie vielmehr andern Gelegenheit von sich selbst zu sprechen, so wollen sie es haben. Man kommt, wo man nehmlich nicht geradezu von Ihnen lernen will, nie zu Ihnen, um Ihnen Anlaß zu geben, mit Ihren Talenten zu glänzen; nein! man lobt Sie, um auf seinen eigenen Werth gemächlich zurück zu kommen.
[152]

Führen Sie in der Gesellschaft nicht das Wort; es verdunkelt die übrigen, die auch gern ein Wort sprächen, aber entweder zu bescheiden sind, und Ihnen nicht ins Wort fallen, oder zu sacht, um Sie überschreien zu wollen; jungen Leuten geziemt und das Vorlautseyn zumal nicht.


Es ist unhöflich, wenn man den, der spricht nicht ansieht; hören Sie auch den faden Schwäzzer aus Höflichkeit geduldig an.


Reden Sie nie von Abwesenden, wenn Sie nicht Gutes von ihnen reden können; aber auch hier räth Ihnen Vorsicht, den Fremden nicht etwa so übertrieben zu loben, oder von ihm etwa zu sagen: so geschickt oder so brav als er, so schön als sie, ist Niemand, wie man dies häufig hört; dies könnte und müßte in Ihrer Gesellschaft beleidigen.


Zeigen Sie bei Allem was geredet wird, Aufmerksamkeit und Gegenwart des Geistes, das mit Sie nicht in die höchst unangenehme Verlegenheit kommen, bei einer Antwort die man von Ihnen fordert, nicht zu wissen, was man gesprochen hat, und wie aus einem Traum auffahren.


Wenn Sie zu der ganzen Gesellschaft sprechen, so richten Sie doch immer am mehresten[153] Ihre Blikke an die vornehmste Person in der Gesellschaft, und dann abwechselnd Ihre Blikke auf die übrigen zusammengenommen.


Spricht jemand zu Ihnen, so zeigen Sie sich aufmerksam, und sehn nicht etwa gar weg oder trinken während der Zeit. Fällt gerade eine Lächerlichkeit in Ihrer Nachbarschaft vor, die aber jener, der mit Ihnen spricht, nicht hört oder merkt, so lassen Sie sich, wenn Sie Ihren Unterhalter sie nicht geradezu mittheilen können, auch nicht durch eine lächelnde Miene stöhren, oder sehn Sie nicht, etwa Ihre Nachbarn oder einige Ihnen Gegenübersizzende mit dieser Miene an, weil jene sonst glauben könnten, als wollten Sie dieselben und ihr Gespräch lächerlich machen.


Reden Sie Niemanden und besonders den Damen nicht ins Ohr; jemanden mit seinem Athem zu nahe zu kommen, ist wider Delikatesse gehandelt, und veranlaßt Argwohn unter Ihren Gesellschaftern, die Ihnen Medisance und Moquerie zutrauen.


Sprechen Sie nie so sehr laut; auch dies ist unanständig und hat leicht den Schein der Grobheit und Rechthaberei; sacht aber deutlich bleibt hier Regel. Die mehresten wissen es gar nicht,[154] daß sie so laut sprechen und schreien; man gewöhnt es sich leicht bei Harthörigen, oder bei vielen schreienden Vögeln z.B. Kanarienvögeln an. In den gebildetern Häusern schätzt man Sachtheit des Tons und des Betragens überhaupt allgemein, und man nennt es da Artigkeit, Bescheidenheit und Anstand, nur muß man freilich, wenn man zu einer ganzen Gesellschaft spricht, lauter reden, als wenn man mit seinen Nachbarn sich unterhält. Merken Sie hier genau auf sich und lassen sich von Ihrem Freunde hier die Wahrheit sagen. Niemals werden Sie die Unhöflichkeit begehen, in die Rede zu fallen; oder was so sehr wider allen Wohlstand ist hizzig zu widersprechen.


Lachen Sie nicht laut auf, es ist dem seinen Manne ganz unanständig; gewöhnen Sie sich bloß zum Lächeln, besonders zu dem Lächeln der Artigkeit, der Zustimmung, der Theilnahme.


Wenn Sie über etwas Ihre Meinung sagen, so thun Sie es nie mit einem entscheiden den Tone, sondern, als wenn Sie es der Berichtigung anderer überlassen, z.B. mit der bescheidnen Redensart: sollte das vielleicht nicht so seyn? und dergleichen mehr.


Bedienen Sie sich, wenn Sie etwas auseinandersezzen, oder erklären, nie der Redensarten: [155] »das ist sonnenklar,« oder, »das einzusehen hat man reinen großen durchdringenden Verstand nöthig;« oder: »das kann ein Kind begreifen u.s.w. Mit solchen Reden kann man einen andern, der das Gesagte oder Auseinanderzusetzende etwa nicht gleich begreift, in die unangenehmste Verlegenheit setzen; man fehlt so gegen die Achtung, die man andern schuldig ist, und verräth eine zu hohe Meinung von seinen Einsichten, und einen lächerlichen Eigendünkel.«


Seyn Sie gegen die Großen und Vornehmen ehrerbietig; je weniger Sie Ehrfurcht fordern, desto mehr erweisen Sie ihnen.


Wenn Sie mit ihnen reden, so drücken Sie sich so viel als möglich, scharfsinnig und kurz aus, und enthalten sich von Allem, was Ihnen ein stolzes Ansehn geben könnte; dahin gehören zu dreiste Stellungen, überhaupt alle unanständige Vertraulichkeiten, das zu viele mit den Händen fechten.


Erscheinen Sie vor ihnen nicht in zu kostbarer Kleidung, und streiten darin mit ihnen nicht etwa gar um den Vorzug.


Lassen Sie sich eine Sache nicht zweimal wiederholen; es ist wider den Respekt jemanden so[156] zu bemühen, und Jener wird dadurch oft verdrüßlich. Betrifft es indessen Sachen von Wichtigkeit, so muß man sie lieber um die nöthige Erläuterung noch einmal ersuchen. Sie werden es freilich ganz Ihrer Schuld zuschreiben, daß Sie sie nicht verstanden haben, und daß Sie bloß aus Eifer für ihre Angelegenheiten sich unterstanden, sie um die Erklärung ihrer Gedanken noch einmal zu bitten; in unwichtigen Fällen, thun Sie immer, als ob Sie es verstanden hätten. Die Redensart: ich weis schon, was Sie sagen wollen, ist wider alle gute Lebensart. Dünkt Sie, der Große habe einige Bekümmernisse, so fragen Sie ihn nicht um die Ursach, und warten, bis er mit Ihnen davon spricht; sehr unhöflich und wider alle Lebensklugheit würden Sie handeln, wenn Sie ihm Rath und Trost ertheilen wollten; es ist ihnen allemal verdrüßlich, wenn man ihnen da zu Hülfe kommt, wo sie keine Hülfe haben wollen, und lächerlich, wenn es ein junger Mann wagt.


Richten Sie sich genau nach der eingeführten Titulatur; so lange sie nicht ganz abgebracht wird, halten die mehresten Menschen darauf, nicht selten diejenigen am meisten, die dagegen sprechen.


Zeichnen Sie den Rang aus, die Etiquette und die gute Lebenssart verlangt es, ohne besondere[157] Rücksichten, ob ihn jemand verdient oder nicht, darum bekümmert sich die Höflichkeit nicht.


Seyn Sie mit Unterscheidung höflich. Ohne diese Unterscheidung würden Sie bei aller Höflichkeit viel Fehler wider den wahren Wohlstand begehen. Ihre Höflichkeit muß sich nach dem Range, der Geburt und nach Umständen formen. Einem so höflich als dem andern begegnen, wenn beide von sehr verschiedenem Range sind, beleidigt den, der mehr ist, und macht den Geringeren leicht übermüthig; der Verdienstvolle oder der Größere sieht sich dann nicht mehr ausgezeichnet, und der Geringere, Verdienstlose fodert nachher dieselbe Ehre als einen gebührenden Zoll, und wird unbescheiden und plump.


Selbst Ihre Beugung, Ihr Kompliment unterscheide den Vornehmern vom Geringern. Der, dem Sie eine Artigkeit gesagt haben, wird sich nicht mehr geschmeichelt finden, wird Sie nicht für den artigen Mann halten, wenn er hört, daß Sie einem Andern eben die Artigkeit sagen. Man gefällt sich nur dann bei diesen Höflichkeiten, wenn man glauben kann, daß Sie sie mit Ueberlegung und Nachdruck sagen. Sie verfehlen Ihres Zwecks, sich beliebt zu machen, gewiß, wenn man erst glaubt, daß Sie Ihre Komplimente auswendig[158] herbeten, und sich nichts mehr dabei denken. Zu dieser Vermuthung geben Sie aber eben Veranlassung, wenn Sie nicht mit Unterscheidung höflich sind.


Auch bei wirklichen Kleinigkeiten beobachten Sie diese unterscheidende Höflichkeit. Bei den Redensarten, des unterthänigen oder gehorsamen oder ergebenen Bittens und Dankens, des Befehlens und Beliebens, des gnädig und gütig – wie dies nun einmal leider eingeführt ist.


Seyn Sie, wenn es zur Tafel geht, nicht einer von den ersten, welche sich sezzen, und sezzen Sie sich überhaupt nicht eher, als bis sich der Vornehmste und die Dame, bei welcher Sie sizzen niedergelassen hat.


Suchen Sie Ihre Dame bei der Tafel zu unterhalten; sprechen Sie immer das Alltägliche, wenn Sie nur sprechen; denn nichts können die Damen weniger leiden, als wenn ihr Moitié stumm neben ihnen sitzt, und die Bahn der Unterhaltung nicht bricht.


Präsentiren Sie ihr immer zuerst das herumgehende Gericht und sorgen Sie dafür, daß sie von Allem das Beste erhält.
[159]

Sezzen Sie in einer kleinen Gesellschaft Wirth und Wirthin nicht in Verlegenheit dadurch, daß Sie den Vorlegelöffel oder den Teller, der vor Ihnen steht, so öffentlich mit der Serviette abtrocknen; man könnte leicht besorgen, Sie setzten Mißtrauen auf die gehörige Reinlichkeit und Ordnung.


Trägt man Ihnen auf von den Gerichten, die vor Ihnen stehn, vorzulegen, so thun Sie es gehörig, bedachtsam und reinlich. Uebereilen Sie sich nicht dabei, und verfahren Sie so viel als möglich, nach den Gesezzen der Transchirkunst, die Sie am besten lernen, wenn Sie genau auf einen geschickten Vorleger merken. Richten Sie, so sehr Sie können, die Portionen egal ein, und so, daß Alle davon erhalten, und lassen Sie die Finger nicht an das Essen kommen. Wagen Sie sich lieber nicht daran, und bitten einen andern in der Gesellschaft, wenn Sie nicht gehörig schnell, manierlich und geschickt können.


Glauben Sie nicht von Allen nehmen zu müssen, was Ihnen angeboten wird, Sie würden dadurch Gier und Mangel an Lebensart verrathen; nehmen Sie nicht etwa mehrere Salade, eingemachte Sachen und dergleichen durcheinander.
[160]

Suchen Sie auf dem präsentirten Teller nicht zu sehr und merkbar aus, dabei leiden die übrigen, und es verräth Mangel an Lebensart.


Lassen Sie nie einen besondern Appetit nach einem besondern Gerichte blikken; solche Kleinigkeiten müssen dem Manne von seiner Welt seinen Wunsch abdringen.


Manche Speisen erfordern beim Essen eine eigne eingeführte Handhabung, z.B. Krebse u.s.w. Seyn Sie hier ja nach andern, wie die es machen.


Lernen Sie bei dem Essen die linke Hand so gut wie die rechte gebrauchen. Das Herüberspielen der Gabel aus der linken Hand, welche sie zum Festhalten einer Speise gebrauchte, in die rechte, um das Essen mit ihr zum Munde zu führen, ist umständlich, und fällt nicht selten den Nachbarn beschwerlich; führen Sie das Essen mit der linken Hand eben so gut zum Munde, und lassen Sie die Gabel immer zur linken Hand. Verhüten Sie, so sehr Sie können, alles Geräusch mit dem Messer, und das widrige Gepfeife damit auf dem porcellänenen Teller; seyn Sie mit einem Worte sehr sacht.


Führen Sie am Tische nie Reden, welche auch nur auf die entfernteste Art verekeln können; man kann da nicht delikat genug seyn.
[161]

Präsentiren Sie Saucièren oder dergleichen herum, so drehen Sie es immer so, daß der Henkel oder die Handhabe, oder der darin liegende Löffel so liegt, wie es dem, welchem Sie es reichen, am besten zur Hand ist; und sezzen Sie es wieder auf den Tisch, so stellen Sie es dem Vornehmsten zur Hand, und wie es mit den übrigen Schüsseln und Aufsätzen in Symmetrie steht.


Daß Sie nie der erste seyn müssen, welcher ißt, sondern warten, bis einige Ihrer Nachbarn haben, wird Ihnen Allen schon bekannt seyn.


Erlauben Sie sich nie, wenn es nicht allgemein in der ganzen Gesellschaft wird, die Gesundheit eines Höheren zu trinken.


Sagen Sie, um den Geist der Kleinigkeit nicht zu verrathen, nie Ihre Meinung über die Beschaffenheit der Speisen, oder die Zubereitung derselben; eine Ausnahme fände Statt, wenn Sie der Vornehmste in der Gesellschaft wären, oder der Wirth ein Mann wäre, der gern seine Gerichte und seinen Wein laut loben hörte.


Ueberlassen Sie, wenn von einer Delikatesse nur noch Einiges herumgegeben wird, Andern und Höhern davon zu nehmen; im höchsten Grade artig sind Sie, wenn Sie selbst Geringern diesen Vorzug zugestehn.
[162]

In kleinen Gesellschaften, wo der Wirth seine Gäste genau übersieht, lassen Sie es nie so sehr merken, daß Sie eine oder die andere Speise nicht gern äßen: Sie sezzen dadurch den Wirth in Verlegenheit, und er verliert dann leicht seine heitere Laune.


In Gesellschaften, wo es steif zu geht, bitten Sie sich nicht leicht zum zweitemale von einem Gerichte aus; in grösseren und ungezwungenen dürfen Sie dreist, und es am unbemerktesten durch den Bedienten thun. Seyn Sie nicht etwa so blöde, sich nicht satt zu essen, und lassen Sie sich nicht etwa zu viel nöthigen; nur der Mann von kleinem und gemeinem Tone wird in dergleichen Zierereien eine Feinheit sezzen.


Die ersten Plätze an einer Tafel sind gewöhnlich die in der Mitte, und sie sollten den Unannehmlichkeiten des Speiseauftragens am wenigsten ausgesetzt seyn; daher die gute Sitte in die Mitte einen Aufsatz oder Plat de Menage, oder etwas zu stellen, was erst gegen das Ende der Tafel von seiner Stelle genommen wird, und die Hauptspeisen also immer nach beiden Enden der Tafel hinzubringen sucht.


Sie wissen schon, daß man nie eher von der Tafel aufsteht, als der Erste in der Gesellschaft den Wunsch dazu äussert, und das Zeichen zum[163] Aufstehen gibt. Eben so bekannt wird es Ihnen seyn, daß, wenn man Salat oder Sauce vorlegen wollte, man sich dazu nicht etwa seiner schon gebrauchten Gabel oder seines Löffels bediene, sondern wenn der Vorlegelöffel dabei vergessen wäre, sich schicklich einen ausbittet; so wie auch zum Transchiren und Vorlegen des Bratens allemal ein besonderes Messer und Gabel seyn sollte.


Gehen Sie mit allen Ihren Gesellschaftern sehr gütig, liebreich und freundlich um, als Wirth kann man es nicht genug seyn; denn nur so schmeckt es den Gästen; nur so gefällt es Ihnen in Ihrer Gesellschaft, und sie sehn, daß Sie es ihnen gern geben.


Reizen Sie nie zum übermäßigen Trinken; es ist ganz wider den Anstand; die Gesellschaft richtet sich hier gern nach ihrem Wirthe; ist er mäßig, so ist sie es gewöhnlich auch. Sich zu betrinken wird immer eben so unanständig bleiben, als es der Moralität, überhaupt der Gesundheit und der wahren Ehre nachtheilig ist, und leicht in Unglück stürzen kann.


Geriethen Sie von ohngefähr in eine Gesellschaft, wo das Betrinken eine Art von Ton wäre, so dürfen Sie ganz freimüthig gestehen, der Wein schade Ihrer Gesundheit, und dabei äußerst standhaft verbleiben, wenn auch Nekkerei und Spott,[164] sich über Sie hermachte; trinken Sie da auch nicht Ein Glas. Von der Unschicklichkeit sich zu betrinken, dürfen Sie freilich nicht sprechen.


Sizzen Sie in der Gesellschaft nie mit tiefsinnigem und auf die Erde gerichtetem Blick, das giebt den übrigen Veranlassung über Sie zu sprechen, und ihre Glossen zu machen; und darunter sind nicht selten schiefe Urtheile. Sie überhören, wenn Sie sich nicht vor dergleichen Zerstreuungen und Geistesabwesenheiten hüten, die Unterhaltung, und kommen hierüber oft in Verlegenheit, wenn man das Gespräch an Sie wendet. An der Tafel lassen sich auch viele kleine Höflichkeiten, Zuvorkommungen und Aufmerksamkeiten anbringen, die der Zerstreute versäumt; dahin gehören z.B., daß man Wasser oder Wein und Delikatessen den Damen gut und zeitig besorgt, oder dem, der vielleicht von einem Gerichte, das vor uns steht, gern äße, und zu bescheiden ist, uns zu inkommodiren, zuvorkömmt, und ihm davon anbietet. Manche Leute haben es sich angewöhnt in solcher Zerstreuung sinnig zu lächeln, und sie beleidigten dadurch oft nicht wenig, weil man glaubte, sie moquiren sich. Seyn Sie an der Tafel überhaupt äußerst aufmerksam, sorgen Sie an Ihrem Orte dafür, daß die Assietten und dergleichen immer wieder an den Ort kommt, wo sie in Symmetrie mit dem Ganzen[165] stehn; präsentiren Sie der Dame, die z.B. später als Sie etwa einen Teller bekäme, den Ihrigen, und was dergleichen Aufmerksamkeiten mehr sind.


Sie haben es vielleicht selbst schon empfunden, daß es keinen guten Eindruck auf die Gesellschaft macht, wenn der Wirth in Hizze geräth und etwa gar laut zu schelten und zu schimpfen anfängt, wenn der Aufwartende seine Befehle nicht, wie er es befohlen hatte, ausrichtete, oder etwas zerbrochen hatte; dergleichen macht die Gesellschaft ängstlich, und man hält einen solchen Wirth leicht für einen Knikker; anständig ist es, das lieber gar nicht zu bemerken und weiter gar kein Wort darüber zu verlieren; dergleichen muß einen Mann gar nicht aus seiner Fassung bringen können.


Wie unmanierlich es ist, sich während dem Essen mit der Frisur und dem Putze überhaupt zu thun zu machen, oder vor dem Gesichte der Nachbarin vorbei zu einem andern an der Seite zu reden, und etwa gar mit dem Puderkopfe über den Teller der Dame zu kommen, oder sich in großen Gesellschaften Brodt in die Suppe zu brokken, oder die Sauce auf dem Teller ganz mit dem Brodte abzuschöpfen, und den Teller so gleichsam abzuwaschen, oder den Löffel von allen Seiten ganz rein mit der Zunge zu putzen, Konfekturen so öffentlich[166] in die Tasche zu stekken u.s.w.; das übersehn Sie leicht selbst.


Eben so unschicklich ist es die Wein- und Wassergläser, oder die Tasse so ganz voll zu giessen; es sieht eben so unappetitlich aus, als es leicht übergeschütet wird, und dem Gedekke oder den Kleidern Flekke macht; und vor dergleichen Beflekkungen können Sie sich nicht sorgfältig genug hüten; sie geschehn unter andern auch häufig dadurch, wenn Pflaumen- oder Kirschkernen, oder Knochen, oder unreine und am Brodte noch nicht abgetrocknete und gesäuberte Messer und Gabeln und dergleichen auf das Gedekke gelegt werden. Alles dergleichen gehört auf den Rand des Tellers, so wie Messer und Gabeln an den Teller zu lehnen sind.


Machen Sie an der Tafel zwar den zuvorkommenden Gesellschafter, aber nie den Bedienten; sammeln Sie nicht etwa, wie ich oft gesehen habe, die unreinen Teller auf einen Haufen, oder stehen gar selbst auf.


Nehmen Sie, so oft man Ihnen einen Teller präsentirt, ihn an, und seyn Sie nicht etwa so höflich, weil der, welcher vor Ihnen steht, noch ziemlich rein ist, ihn zu verbitten oder gar dem Bedienten unterthänigst dafür zu danken.
[167]

Man sollte überhaupt die Sitte einführen, die hier und da schon im Gebrauch ist, daß man nach einem jedesmaligen Gerichte die Messer und Gabeln eben so gut als die Teller wechselte, und sie von dem Aufwärter sich für das folgende Essen gereinigt reichen ließe; denn sie bleiben immer unrein, zumal, wenn man sie nicht sorgfältig selbst etwa an einem abgeschnittenen Stückchen Brod, was man natürlich nicht ißt, säubert.


Wenn ein Gericht aufgetragen wird, welches Sie noch nie gegessen haben, so lassen Sie dies ja nicht merken, sondern thun Sie so bekannt damit, als hätten Sie es schon oft gegessen. So verlangt es der nicht gemeine Ton.


Wählen Sie da, wo Sie den feinen Mann zu machen, und als einen solchen sich anzukündigen haben, von den Saucen immer die edelsten und seltensten; eben so von den Saladen. Dem feinen Manne ist es nöthig vornehm zu essen und haut gout zu haben; sind Sie im vertrauten Zirkel, so versteht es sich, daß Sie essen, was Ihnen schmeckt und sich da weiter nicht geniren.


Rechen Sie nicht einem Vornehmeren das Glas zum Anstoßen; dies ist Mangel an Respekt.
[168]

Tragen Sie einem Großen nie eine Wette an; es ist wider den Respekt, und nehmen Sie es nicht gleich für Ernst an, wenn er sie Ihnen anböte; sondern nur denn erst, wenn er darauf dringt.


Wenn Sie einem Großen Ihre persönliche Aufwartung machen, so drükken Sie sich so kurz als möglich aus, und lassen Ihren Besuch nur einige Minuten dauern, und äußern Sie, daß Sie zu stöhren fürchten.


Seyn Sie bei Ihren Bewegungen nie so flüchtig und ungestüm, es gefällt dem soliden Manne nicht, und macht leicht Schaden; nehmen Sie sich z.B. auch bei dem Komplimente im Zurücktreten in Acht, daß Sie nicht an etwas stoßen oder stolpern.


Merken Sie sich genau die Thür, wo Sie bei dem Besuch des Großen hineingelassen wurden, damit Sie dieselbe bei dem Weggehn sogleich wieder finden, ohne erst, wie so häufig geschieht, an der unrechte Thüren zu laufen und sich zurechtweisen zu lassen; man erscheint so oft äusserst lächerlich und linkisch.


Ehe Sie aus Ihrem Hause gehn, lassen Sie sich von den Ihrigen sagen, ob alles gehörig[169] ordentlich und reinlich an Ihnen ist; die Versäumung dieser kleinen Vorsicht, hat oft zu den größten Lächerlichkeiten Anlaß gegeben.


Tanzen Sie nie ohne Handschuhe; Reinlichkeit und Anstand erfordern dies.


Daß Sie sich in einer Gesellschaft, wo man seinen Ton zu zeigen hat, nicht anlehnen, noch sich unanständiger Stellungen bey dem Sizzen, dergleichen das zu weite Oeffnen der Beine, oder das Weltausstrekken derselben ist, erlauben werden, trau ich Ihnen zu.


Seyn Sie bei Kuß und Umarmung nicht so eilig und unvorsichtig, sonst fährt man sich auf die Nase, und der Kuß wird überhaupt undelikat; er setzt den, der ihn gab, und der ihn empfieng, in Verlegenheit, oder erregt Ekel. Ueberhaupt stellen Sie das viele Küssen mit Männern ein, es läßt weibisch und unsolide. Seyn Sie überhaupt hiebei delikater, und machen Sie den Kuß nicht ekelhaft durch zu sehr geöffnete und nasse, oder wohl gar mit Ausschlag belegte Lippen.


Hüten Sie sich vor der Unanständigkeit fremden oder großen Damen beim Handkusse die Hand zu drükken; ziehn Sie dann auch die Hand[170] nicht hinauf zu Ihrem Munde, sondern neigen Sie sich hinunter.


Erlauben Sie sich nie die geringste Zweideutigkeit, das kleinste unsittliche Wort zu sagen, man wird Sie immer für unerzogen halten. Der wahrhaft feine Ton läßt dergleichen nie an sich hören; er wird nie durch Unanständigkeit beleidigen, so wenig als er sich überhaupt zu den Pöbelhaftigkeiten der Flüche und Schwüre, oder zu groben Spaßereien verleiten lassen wird.


Hüten Sie sich vor der so lächerlichen und einem Manne so wenig anstehenden Gemüthsart, sich in der Gesellschaft immer mit Ihrem Anzuge zu beschäftigen, oder die Augen immer im Spiegel zu haben.


Kommen Sie an einen fremden Ort, so ist Ihre Pflicht den Vornehmsten unter denen, welchen Sie Besuche der Etiquette abzustatten haben, zuerst Ihre Visite zu machen; am kürzesten und bequemsten können Sie das, wenn Sie überall vorfahren, und durch den Bedienten eine Karte überreichen lassen. Auf der Karte steht bloß ihr Name und Ihr Logis. Will der Vornehme Ihre nähere Bekanntschaft, so läßt er Sie nachher zu sich einladen.
[171]

Kommen Sie selbst in den Fall, daß Ihnen ein Fremder eine solche Karte überreichen läßt; und er ist etwa selbst vorgefahren, so seyn Sie nicht sogar höflich, den Fremden etwa in dem Augenblikke zu bemühen, zu Ihnen zu kommen; dies ist gegen die Regel der Etiquette, sondern lassen Sie ihn nachher besonders zu sich einladen.


Geben Sie eine Fôte, so bitten Sie die Personen von hohem Range selbst dazu, die übrigen lassen Sie invitiren.


Versäumen Sie nie eine frohe oder traurige Neuigkeit von Bedeutung und über die Ihre Bekannten, Freunde und Verwandten Mitwissenschaft haben dürfen, z.B. Verlobungen, Vermählungen, Todesfälle, Standeserhöhungen, die Ankunft eines Ihrer Angehörigen interessirenden Fremden, Ihre eigne Abreise oder Ankunft, Nachricht von einer Niederkunft und dergleichen – ausführlich und gehörig zeitig anzeigen zu lassen; dergleichen Versäumungen werden sehr übel genommen, und für grobe Verstoße gegen die gute Lebensart gehalten.


Lassen Sie jedesmal durch Ihre eignen Leute, (nicht durch denselben Boten, der Ihnen die Nachricht überbrachte) gratuliren oder kondoliren.
[172]

Bei Trauervisiten macht es die Etiquette zur Pflicht, sich schwarz anzukleiden.


Schieben Sie die Gegenvisiten, die Sie jemanden zu machen haben, nie lange auf; man hält dies für große Unhöflichkeit.


Daß Sie sich bei den Besuchen in vornehmeren Häusern immer anmelden lassen, ist Wohlstandspflicht. Bei dem Eintritt in die Gesellschaft machen Sie der ganzen Gesellschaft in der Entfernung das Kompliment, und zwar so, daß die Beugung gegen den Herrn und die Frau des Hauses sich anfängt, dann zu Alle in der Gesellschaft mit einer herumsehenden Verbeugung sich neigt, und dann wieder zu den ersteren zurückkömmt und diesen näher tritt.


Daß Sie, wenn Sie sich an der Thür eines Zimmers befinden, einen Vornehmeren, der auch im Begriff ist, herauszugehen, vorangehen lassen und bescheiden zurücktreten, wissen Sie schon bei dem kleinsten Nachdenken über Höflichkeit; so wie Sie bei dieser es nicht versäumen werden, einen zu Ihnen näher Tretenden oder überhaupt Hinzukommenden, mit der Unterhaltung, in die Sie eben verflochten sind, oder an der die Gesellschaft eben Theil nimmt, in einem kleinen Auszuge bekannt zu machen.
[173]

Fangen Sie überhaupt in einer kleinen Gesellschaft keine laute Unterhaltung mit einem oder dem andern über einen Gegenstand an, der die übrige Gesellschaft gar nicht intereßiren kann, und wobei sie nicht das Geringste mitsprechen können.


Halten Sie mit Jemandem etwas leise zu sprechen (was aber höchst selten und nur bei sehr wichtigen Dingen geschehen sollte), so benuzzen Sie den ersten Augenblick, wo man nicht spricht; aber verziehn Sie dann auch, und wenn es die Lachenerregendsten Sachen selbst wären, keine lächelnde Miene, weil man sonst glauben könnte, Sie moquirten sich über einen und den andern in der Gesellschaft; und geben Sie zu diesem leicht entstehenden Argwohn nicht etwa da durch noch mehr Veranlassung, daß Sie bei dem leisen Gespräch Jemanden in der Gesellschaft ansähen. Leuten vom Range muß man nichts ins Ohr sprechen, wenn man nicht ausdrücklich dazu befehligt wird; es ist ganz wider den Anstand und die entfernte Ehrfurcht, die man ihnen schuldig ist.


Lassen Sie mich diese kleinen Regeln nun mit der Bemerkung schließen, daß man überhaupt nicht leicht zu höflich seyn könne: obgleich ich im Vorigen zeigte, daß man mit Unterscheidung höflich[174] seyn müsse. Höflichkeit nutzt immer. Aeußern Sie sie hauptsächlich auch gegen Geringere, die sie wenn sie auch unter sich selbst nicht höflich sind, doch an andern ausserordentlich schäzzen. Sie vergeben Ihrer Würde nichts, wenn Sie auch dem, der viel geringer als Sie ist und der Sie besucht, einen Stuhl anbieten und selbst reichen, und wenn Sie oder mit ihrer Familie allein sind, ihm den ersten Platz am Tische und zuerst das Essen geben. Dem Fremden gebührt immer die erste Aufmerksamkeit und Höflichkeit.


Finden Sie in diesen Regeln und Bemerkungen noch manche Lükke, so denken Sie daran, daß ich nur einen Versuch auf dem Titel ankündigte, und daß dieses Büchlein nur eine Anleitung seyn sollte, Ihren Beobachtungsgeist auf das, was anständig und gefällig ist, und auf den Werth und den Einfluß der äussern Bildung, rege zu machen, weil Sie dann bei dem aufmerksamen, richtigen und genauen Blikke in die Welt, und auf die Muster jener äußeren Bildung sich die besten Regeln für Ihre eigne Abschleifung und Polirung ableiten können.


Studiren Sie aber nun auch – das sey mein letztes Wort an Sie – um sich in der nöthigen Kunst des Gefallens mehr zu vollenden[175] und für jeden Fall richtiger zu bestimmen, die Menschen und ihren Charakter; lernen Sie das, was zur Lebensklugheit gehört, und versehn Sie sich mit ihren Erfahrungen und Regeln. Es wird auf die Nachsicht, mit welcher Sie dieses Buch aufnehmen, ankommen: ob ich meinem Plane folgen darf, Ihnen mit nächsten einen kleinen Leitfaden der Lebensklugheit, der die nützlichsten und Ihnen angemessensten Erfahrungen kurz und gedrungen enthalten wird, zu übergeben.[176]

Quelle:
Siede, Johann Christian: Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit. Dessau 1797, S. 144-177.
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