Konzerte

[83] gelten natürlich manche der für den Theaterbesuch empfohlenen Verhaltungsmaßregeln, einige werden aber doch mit ganz besonderer Aufmerksamkeit behandelt werden müssen.

Der Konzertbesuch ist nicht jedermanns Sache, aber nicht jedermann ist frei genug, wenn auch nicht in Ketten geboren, um dem Konzert ganz ausweichen zu können. Der eine ist Begleiter, der andere Abholer, der Dritte hat Rücksichten auf einen Künstler zu nehmen, der Vierte ist einem Freibillet erlegen, das ihn bei irgend einer traurigen Gelegenheit anflog.[83] Diesen allen wird wohl nicht zweimal gesagt werden müssen, daß in vielen Konzerten die Thüren des Saales während der Vorträge geschlossen bleiben, welche für die inneren sowohl als für die äußeren Besucher so wohlthätige Einrichtung sehr leicht auszunutzen ist. Man treffe eben nach dem Beginn eines Vortrages im Vorraum ein und denke erst ganz kurz vor dem Beginn der folgenden Nummer daran, sich an den Garderobentisch zu begeben, so daß man zwei versäumte Vorträge profitiert. Auf diese Weise schlägt man zwei Konzertfliegen mit einem Schlage, indem man die Zuhörer nicht stört und von der Musik nicht gestört wird.

Man erzähle seinen Stuhlnachbarn niemals, daß man dieses oder jenes Lied oder diese oder jene Klavierpiece in der laufenden Konzertsaison schon häufig mitgemacht habe. Es ist so traurig, Gegenstand des Mitleids zu sein. Es giebt Frauen, denen es angenehm ist, bedauernde Teilnahme zu erwecken, aber ein Mann muß dies zu verhindern wissen.

Wird man vom unerbittlichen Schicksal an die Seite eines gefürchteten Wagnerianers geschleudert, ohne selbst ein solcher zu sein, so suche man mit diesem in ein Gespräch zu kommen und schildere ihm die eminenten Körperkräfte, welche man leider besitzt, und das Unglück, das man hat, indem man sehr leicht in einen gereizten Zustand zu versetzen ist. Man wird dann sofort merken, daß man sich erlauben darf, eine eigene Meinung zu haben.

Man versuche einmal, in Konzerten eine eigene Meinung zu haben, selbständig zu urteilen und zu gestehen, daß einem nicht gefällt, was einem nicht gefällt, man wird alsbald finden, daß dies von Musikbolden strenge gerügt wird und nicht unter die Amnestie fällt. Man wird dann einsehen, daß mein vorher erteilter Rat durchaus nicht zu weit geht.[84]

Kommt ein Tongemälde etwa unter dem Titel »Die Welt als Wille und Vorstellung« zur Aufführung, so behaupte man nicht, es könne mit demselben Recht auch »Das Friedensmanifest des Zaren«, oder »Der Kulturkampf« heißen. Denn es hieß vielleicht ursprünglich »Die Entdeckung Amerikas«, der Musikverleger verlangte dann, es solle den Titel »Der Hund des Aubry« erhalten, man einigte sich hierauf des lieben Friedens willen auf den Titel »Der griechisch-türkische Krieg« und kehrte dann auf den speziellen Wunsch der Tante des Komponisten zu dem ursprünglichen Titel zurück, nachdem ein bedeutender Musikkritiker in der Generalprobe den Vorschlag gemacht hatte, das Tongemälde »Ouverture zu Grillparzers Weh' dem, der lügt!« zu betiteln und zwar mit solchem Eifer, daß es fast zwei Stunden lang o hieß.

Schläft man ein, so schnarche man. Dann wird man durch das entstehende Gelächter geweckt. Wenn man aber nicht zu schnarchen pflegt, so nehme man sich sehr vor dem Einschlafen in acht. Das Schlafen ist ja ein Menschenrecht, aber in Konzerten ist es doch wohl nicht das Passende.

Wenn man sich in einem Konzert nach Kräften gelangweilt hat, sage man dies nicht. Denn sofort würde sonst ein Freund ausrufen, daß das Konzert ein unvergleichlicher Genuß gewesen sei und der Freund wäre blamiert, obschon er dies nicht zugiebt, da in der Musik überhaupt nichts zugegeben wird.

Ist man Musiker, so thue man im Konzert ein Übriges und lasse Mozart Gerechtigkeit widerfahren, auch gestehe man ein, daß er talentiert gewesen sei. Das macht immer einen guten Eindruck. Ist man Dilettant, so sei man bedeutend strenger, da dies an Mozarts Unsterblichkeit nichts ändert.

Wenn man gewöhnt ist, jede Mode mitzumachen,[85] so spreche man über Meyerbeer so lange wegwerfend, bis man das, was er geleistet hat, wieder anerkennt. Dann anerkenne man mit.

Ist man kein Musikkenner, so erkundige man sich sorgfältig, ob nicht aus irgend einem Grunde das Programm abgeändert, oder das Programm nicht fehlerhaft ist. Sonst ist man selbstverständlich von Bach oder Haydn entzückt und es war Bungerk, also doch immerhin etwas anderes, wodurch man den guten Freunden zu viel Vergnügen macht.

Wird als Dacapogabe das Lied mit dem Refrain »Wie einst im Mai« vorgetragen, so sei man melancholisch gestimmt, aber nicht durch die schöne Lied, sondern weil man ihm nicht ausweichen kann.

Sollen sämtliche Müllerlieder gesungen werden, so freue man sich so laut, daß es sechs Personen weit gehört wird, denn durch das Gegenteil wird es nicht ein einziges Müllerlied weniger.

Sieht man einen Herrn, welcher eine Partitur, die er auf dem Schoß aufgeschlagen hat, nachliest, so glaube man nicht an die Notwendigkeit, mache aber keine Bemerkungen darüber. Wer kann wissen, durch welche Schicksale er so weit geführt worden ist!

Singt eine Sängerin falsch, so applaudiere man, denn erstens ist es eine Dame und zweitens sind wir alle doch Menschen. Trifft sie einmal den Nagel nicht auf den Notenkopf und ist sie jung und hübsch, so verzeihe man ihr gern. Dem Notenkopf schadet der Fehler nicht, und der Hörer wird wohl auch schon einmal einen Fehltritt begangen haben.

Läßt eine Pianistin etwas lange auf sich warten, so sei man nicht gleich ungeduldig. Noch fünf Minuten, sieh, da bringen sie sie schon.

Man gähne nicht während einer langweiligen Orchesternummer, obschon das Gähnen eine Befreiung ist. Wer aber gähnt, beweist, daß er ein Neuling,[86] noch nicht in Konzerten abgehärtet und ebensowenig mit allen Virtuosen gehetzt ist.

Ist man ein scharfer Kritiker und will einen Künstler für irgend ein Vergehen strafen, so lobe man einen anderen. Dies kränkt ihn mehr, als ihn ein Lob freuen würde, das man über ihn drucken ließe.

Protegiert man als Kritiker einen Nichtskönner, oder eine Nichtskönnerin, und fällt er, oder sie dann im Konzert durch, so jammere man in der Kritik über den Mangel an Verständnis im Publikum und über den Niedergang des ästhetischen Gefühls. Um dem Wehgeschrei auch einen bestimmten Ausdruck zu geben, schließe man die Kritik mit den Worten: Was wird werden?

Verläßt man das Konzert und wird von einem Herrn im Garderobenraum grob behandelt, so entschuldige man sich, daß man ihm Grund zur Unzufriedenheit gegeben habe, auch wenn dies nicht geschehen ist. Es ist aber gut, wenn man zeigt, wie veredelnd die Musik auf die Menschen wirkt.


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 41906, Bd. I, S. 83-87.
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