der Jour fixe.

[28] Er hat vor allem das Gute, daß man nicht zu erscheinen braucht, oder, wenn man erscheint, sich bald wieder entfernen kann. Die Anzeige, daß eine Dame an einem bestimmten Tag zu gewissen Stunden zu Hause sein wird, verpflichtet nur die Dame, zu Hause zu sein, was ihr allein unangenehm zu sein pflegt. Man macht von der Anzeige nur dann Gebrauch, wenn man gern erscheint, und auf eine Viertelstunde erscheint man auch da gern, wo man auf längere Zeit nicht gern erschiene.

In Häusern, wo der Jour noch nicht entartet ist, geht auch die Verpflegung nicht über eine leichte Anfeuchtung und kurzes Kuchenknabbern hinaus. Da aber das Trinkgeld fortfällt, so sieht man daran, daß es auf der Welt keine reine Freude giebt.

Da man stets Gäste anwesend findet, so mische man sich sofort nach dem Händeschütteln ins Gespräch über das Radeln. Selbst über das rauhe Wetter,[28] obschon bereits das nötigste darüber gesagt ist, lasse man einige bedeutungsvolle Worte fallen. Denn es schickt sich nicht, ausschließlich Erfrischungen zu nehmen und wieder fortzugehen, obschon dies das Einfachste ist.

Auf die Frage: Thee oder Cognak? entscheide man sich für beides.

Auf die Frage: Wie geht's? antworte man nicht: Wie man's treibt. Man suche nicht mit diesem alten Scherz zu beweisen, das einem nichts einfällt. Das wissen die Anwesenden ohnedies.

Der Frau des Hauses sage man, sie sehe sehr vortrefflich aus, selbst wenn dies wirklich der Fall ist. Man braucht einen Jour fixe nicht für eine Gesellschaft zu halten und deshalb zu lügen.

Wird über Kunst und Litteratur gesprochen, so beteilige man sich an dieser Unterhaltung, auch wenn man etwas davon versteht. Es ist dies allerdings nicht allgemein gebräuchlich.

Werden die anwesenden Gäste vorgestellt, so merke man sich die Namen nicht. Dann braucht man sie nachher nicht zu vergessen. Nur die Namen Müller und Meier behalte man in Gedächtnis.

Man esse von den angebotenen Kleinigkeiten nicht viel, denn es sieht erstens nicht gut aus und zweitens sehr schlecht. Auch vermehrt es nicht die Sättigung, wenn man schon gegessen hat, und verdirbt den Appetit, wenn man erst zu Tisch gehen will.

Wird man einem dekorierten Herrn vorgestellt, so nenne man ihn Exzellenz. Er ist es nicht, aber er nimmt den Titel nicht übel. Er ist überhaupt liebenswürdig.

Dies sei man auch. Man höre alles mit lebhaftem Interesse an, namentlich das Gleichgültige, das erzählt wird. Wird eine Verlobung gemeldet, so gebärde man sich, als habe man endlich ein langerstrebtes[29] Glück gefunden, auch wenn man die Verlobten nicht kennt. Stößt man unverschuldet auf eine Dame, welche eine halbe Stunde lang ohne Pause sprechen kann, so sage man sich: Wen Gott lieb hat, den züchtigt er, und lasse die Dame über sich ergehen. Lautes Murren ist unschicklich und wird von der Dame auch als ein Zeichen des Wohlbehagens aufgefaßt. Im übrigen ist nach meinen Beobachtungen das Geschlecht der Rasch- und Vielsprecherinnen in Berlin im Aussterben begriffen. Es existieren nur noch einige guterhaltene Exemplare, wie von den echten Möpsen. Das Telephon und die bunten Postkarten, welche die Menschen zwangen, sich kurz zu fassen, haben unter den Plaudertaschen furchtbar aufgeräumt.

Man bleibt nur ganz kurze Zeit. Das ist das Bezaubernde des Jour fixe. Alle anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen könnten von ihm lernen, thun es aber nicht. Ein halbwegs beweglicher Jourfixer kann in einigen Nachmittagstunden rund ein halbes Dutzend solcher Besuche zurücklegen. Allerdings giebt es Besucher, welche den Jour fixe bis zur Nagelprobe auskosten und nicht wanken und weichen, bis das letzte Kaviarbrötchen verschwunden ist. Solche Besucher gehen mit dem Fluch der Gesellschaft beladen umher, sind auf das Tiefste verabscheut, können nach der allgemeinen Ansicht kein gutes Ende nehmen und merken es nicht. Sie sind in Jour fixe-Kreisen schon deshalb sehr gefürchtet, weil sie niemals fehlen. Alle Hoffnung auf eine starke Erkältung, die sie ans Bett fesseln würde, ist eitel, es sind auffallend starke, gesunde Leute. Andeutungen, daß der Jour fixe nur eine Station des gesellschaftlichen Lebens sei, verstehen sie nicht. Werden sie in der kommenden Saison nicht wieder aufgefordert, so halten sie dies für ein dem Hause sehr unangenehmes Versehen, das sie durch ihr Wiedererscheinen auszugleichen suchen. Bei dieser Gelegenheit[30] wird ihnen voll Abscheu die Hand gedrückt, was sie für große Beliebtheit halten. Diese dauerhaften Besucher sprechen sich gewöhnlich sehr wegwerfend über den Jour fixe aus und lassen durchschimmern, daß sie ihn nur aus Gefälligkeit mitmachen, um dem Hause ein angenehmes Gesellschaftsmitglied zuzuführen. Sie werden es dahin bringen, daß der Zutritt zum Jour fixe nur gegen Vorzeigung der Einladung gestattet wird. Völlige Sicherheit vor ihnen wird dies aber auch nicht gewähren. »Herr,« würden sie den Portier anschreien, »sehe ich aus wie ein Mensch, den man nicht einlädt?« Hui, und sie sind drinnen, und herausgeworfen wird nicht. Diese Mitteilungen werden genügen, jedem Besucher eine kurze Anwesenheit zur Pflicht zu machen.

Man nehme keine Cigarre an. Die Jour fixe-Cigarre gehört zu den menschenfeindlichen Sorten, da das Rauchen am Jour fixe nicht Sitte ist und der Hausherr, der nicht anwesend zu sein pflegt, jede Verantwortlichkeit für die Cigarre ablehnt.

Es kommt vor, daß die Dame des Hauses ein ganz kleines Töchterchen in die Arena sprengen läßt. Man sei entzückt. Ist das Kind ein Affe, so nenne man es eine künftige Venus von Milo. Giebt die Mutter Zeichen der Unzufriedenheit, so lege man noch eine der drei Grazien zu, man gehe aber nicht höher. Wird das Kind dann wieder hinausgeführt, so gebe man seiner Freude durch bedauernde Worte Ausdruck.

Zu anderen häuslichen Gesellschafts-Episoden ist nur wenig zu bemerken.


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 41906, Bd. I, S. 28-31.
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