Sommerlogierbesuch

[42] im Vergleich mit dem Logierbesuch im Winter.

Der Sommerlogierbesucher in einer großen Stadt verlangt vor allem von seinem Opfer alle Vergnügungen des Winters mit alleiniger Ausnahme der Schlittenfahrten. Wenn man einen solchen Besuch empfängt, so mache man sich darauf gefaßt, daß man es auf das tiefste bedauern wird, nicht halbwegs zaubern und das Unmöglichste wenigstens annähernd möglich machen zu können.

Die Kunst, einen Logierbesuch im Sommer überdauern zu können, liegt in der Virtuosität, mit der[42] man auf alles, wofür man verantwortlich gemacht wird, vorbereitet ist. Zum Glück wird man für alles verantwortlich gemacht, so daß man auf alles vorbereitet sein kann.

Ist die Hitze sehr groß, wie dies im Sommer nicht immer zu vermeiden ist, so muß man auf die Vorwürfe des Besuchers gefaßt sein. Ebenso dann, wenn ein Regen stattfindet, wie er sich wohl im Sommer ereignet. Hier kommt man zur Not mit einem Achselzucken und der Versicherung davon, daß es nicht wieder geschehen solle. Aber wegen des Staubs, wenn die Arbeit des Sprengwagens ohne Erfolg blieb, hat man schon einen schwierigeren Stand, und gegen die Vorwürfe wegen der Ferien einiger Theater und Spezialitätenbühnen kann man dem Freunde mit dem bloßen Bewußtsein der Unschuld nicht ins Gesicht springen. In solchen Fällen genießt man aber das Glück, sich doppelt auf die Abreise des Freundes zu freuen.

Behauptet der Besucher, in seiner Heimat seien weniger Mücken, so höre man aus dieser Behauptung nicht den Vorwurf heraus, sondern vertröste ihn auf die nächste Mückenzählung. Kommt nach Tisch das Eis und behauptet er, es sei in seiner Heimat kälter, so lasse man sich unter gar keiner Bedingung auf einen Streit ein, um ihn nicht noch mehr zu reizen, sondern gebe ihm die Versicherung, daß man etwas weniger kaltes Eis bestellt habe, um dem Besucher eine Magenerkältung zu ersparen.

Kommt man bei Gelegenheit in das Zimmer des Logierbesuchs, so sei man zerstreut und lasse daselbst ein Eisenbahnkursbuch liegen. Wenn es auch nichts nützen sollte, so könnte es doch der Fall sein, daß es etwas nützt, und schon die Illusion versetzt in eine angenehme Stimmung.

Man lasse dann und wann durchblicken, daß die[43] Influenza grassieren solle. Der geborene Logierbesuch wird sich natürlich nicht daran kehren. Aber es ist doch gut, daß man diese Gleichgültigkeit feststellt, um andere Versuche, ihn zu vertreiben, unterlassen zu können.

Hat man in der Frühe zu arbeiten, so sorge man am vorangehenden Abend dafür, daß der Freund recht viel Bier trinke, damit er am anderen Morgen sich nicht aus dem Bett finden kann. Er wird dann zwar sehr schlecht auf das Bier sprechen, aber man war doch einige Stunden lang durch das Glück, einen Freund zu haben, nicht gestört.

Am Tage der Abreise des Freundes begleite man diesen mit traurigen Ausdruck zum Bahnhof und vollziehe, wenn man allein in die Wohnung zurückkehrt, zwei Akte der Wohlthätigkeit, indem man einem armen Mann eine verhältnismäßig größere Summe schenkt und die Fenster der Stube, in welcher der Logierbesuch sich ereignete, öffnen läßt.

Bis zum Eintreffen der Postkarte mit der Nachricht von der glücklichen Heimkehr des Freundes schwebe man in einiger Angst, aber nicht wegen seiner.

Mehr noch als im Winter wird im Sommer am hellen Tag ins Theater gegangen. An die Stelle der sogenannten Nachmittagsvorstellungen im Winter tritt im Sommer das


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1905, Bd. II, S. 42-44.
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