die Strohwitwen.

[66] Sie beleben den gewöhnlich sehr langweiligen Ort dadurch, daß sie ohne ihre Schuld Grund zu Erzählungen geben, an denen kein wahres Wort ist, besonders wenn sie mit der Versicherung verbreitet werden, daß man es ganz genau wisse. Wird aber das Ehrenwort gegeben, daß die Erzählung wahr sei, dann ist sie sicher unwahr.

Lernt man eine Strohwitwe kennen, so erkundige man sich, ob sie nicht etwa ein Strohfräulein ist. Denn meist ist es sonst zu spät und es ist zu der Witwe dann kein Mann zu finden, der die Rechnungen bezahlt. Dann bezahle man sie, ohne zu fürchten, daß dies als beleidigend zurückgewiesen wird. Nur Mut![66]

Gleich nach dem Vergnügen, eine Strohwitwe kennen zu lernen, erkundige man sich nach ihren Lieblingsblumen und nach ihrem Lieblingskonfekt. Da dies meist die teuersten auf ihrem Gebiet zu sein pflegen, so kann man leicht berechnen, wie viel man täglich spart, wenn man sie sogleich wieder vergißt.

Trifft man in größerer Gesellschaft mit dieser Dame zusammen und bringt sie das Gespräch ganz zufällig auf das Theater, so sage man, das Theater sei total ausverkauft. Es ist dann sicher ein anderer anwesend, welcher sich anheischig macht, mit Hilfe seiner großen Verbindungen noch eine Loge zu bekommen, wie sie die Strohwitwe wünscht. Diese Aufdringlichkeit läßt man sich gefallen, um keine Mißstimmung in den Kreis zu bringen, was allgemein anerkannt wird, auch bei solchen Herren, welche wußten daß überhaupt noch kein Theaterbillet verkauft war.

An Gesprächen über reizende Gegenstände, welche die Strohwitwen in den Schaufenstern namentlich der Juwelierläden gesehen haben, beteilige man sich nicht unter dem ausdrücklichen Bemerken, daß man nichts davon verstehe. Man fange lieber ein Gespräch über neue Erfindungen in der Elektrizität an, von denen man erst recht nichts versteht.

Treffen Verwandte der Dame ein, so störe man sie nicht, auch wenn sie nicht mit ihr allein sein wollen, was man nicht zu wissen braucht.

Wird die Strohwitwe, was anzunehmen ist, während der Sommerfrische von einem Geburtstag erreicht, so sei man diskret und wisse nichts davon. Im Fall sage man den indiskreten Wissenden, daß einer Dame ein Geburtstag immer ein peinliches Fest sei, weil er sie nur in seltenen Fällen jünger zu machen pflege.

Ist man bereits verheiratet, so trete man unerschrocken an die Dame heran, falls sie von einer[67] Tochter umgeben ist. Ich wähle mit Vorbehalt dieses falsche Wort, weil eine Strohwitwe, die eine Tochter zur Seite hat, ungemein umgaben ist. Ist man aber unverheiratet, ohne Praxis im Ausweichen zu haben, und nicht verliebt, so sei man kein Egoist, sondern überlasse den Platz einem Würdigeren, der vielleicht ohnedies unrettbar der Ehe verfallen ist. Dies erkennt man am leichtesten daran, daß man von ihm mit geringschätzenden Blicken betrachtet wird.

Sind der Strohwitwe eines Tages alle verheirateten Männer sehr gleichgültig, so sind nur zwei Fälle möglich: entweder erwartet sie im Laufe des folgenden Tages ihren lieben Gatten oder einer der jungen Männer hat um die Hand ihrer Tochter gebeten. In keinen der beiden Fälle thue man eine schadenfrohe Äußerung.

Man setze sich in den Feriengegenden nicht zu Damen, welche Strümpfe stricken. Man kann Strümpfe für ungemein nützlich und notwendig halten, ohne sie gerne entstehen zu sehen. Aber man kann sie auch dann und wann gerne entstehen sehen, ohne darin eine Vergnügungssucht befriedigen zu wollen. Man achte also das Strümpfestricken hoch, erblicke darin eine gute alte Sitte, störe aber die Damen nicht, damit man plaudernd durch frivoles Ablenken nicht etwa die Verknuppelung des Strumpfs verschulde. Allerdings wird solche Zurückhaltung von den Strickerinnen mißverstanden werden.

Anders verhalte man sich gegenüber solchen


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1905, Bd. II, S. 66-68.
Lizenz:
Kategorien: