Reserveleutnant

[96] erwacht, also in einer staatlichen und gesellschaftlichen Stellung, welche selbst den berühmtesten Kriegshelden des Altertums nicht an der Wiege vorgesungen worden ist.

Leistet der Vater auf einem anderen Gebiete, z.B. der Kunst, der Wissenschaft, der Industrie, der Litteratur, des Handels ebenso Bedeutendes, als der Sohn in seiner Eigenschaft als Reserveleutnant auf dem Gebiet der Kriegswissenschaft und der Landesverteidigung, so vergesse er doch niemals den Titel seines Sohnes und behandle ihn mit demjenigen Respekt, welchen ein Vater als Civilist seinem Sohn als einem höheren Militär schuldet.

Ist der Reserveleutnant ein leutseliger Mann,[96] wie dies selbst Wilhelm der Erste, Bismarck und Moltke gewesen sind, so wird er nicht verlangen, daß seine Familie, von den Eltern abwärts, Front vor ihm mache und sie, während er mit ihr spricht, stramm stehe, aber diese Ausnahme kann doch nur so lange stattfinden, als die Familie die Milde nicht mißbraucht, indem sie nicht vergißt, daß es eine Würde und eine Höhe giebt, welche die Vertraulichkeit entfernen.

Hat man als Reserveleutnant militärische Kenntnisse gesammelt, so verliere man niemals den Augenblick aus den Augen, wo es Zeit ist, aus der Mitte der Familie den Rückzug anzutreten, falls hier sich eine gewisse Vertraulichkeit geltend machte, zu der sich namentlich die Mutter leicht hinreißen läßt.

Weiß man, was ja denkbar wäre, trotz des Reservetitels nicht mit Waffen umzugehen, so traue man nicht zu sehr den Civilisten, indem man sie wegen Ansehens und anderer Beleidigungen, die nur mit Blut abgewaschen werden können, auf Degen oder Pistolen fordert. Manchmal wird die Herausforderung angenommen, worauf man nicht gerechnet hatte. Dann ist man in einer wenig beneidenswerten Lage.

Ist man Weinreisender und hat man gute Weine zu verkaufen, so wird man gern gesehen sein und Aufträge bekommen, auch wenn man nicht Reserveleutnant ist. Hat man aber schlechte Weine, so wird man nicht hereingelassen, auch wenn man zehnmal Reserveleutnant ist.

Versteht man nichts von Kunst und Litteratur, so bilde man sich nicht ein, man verstehe etwas davon, weil man Reserveleutnant ist, und leite seine Urteile Künstlern und Schriftstellern gegenüber nicht etwa mit den Worten ein: Ich sage Ihnen dienstlich. Man würde sicher für verrückt gehalten werden, und das ist doch nicht erfreulich.[97]

Ähnlich verhalte sich der Reserveleutnant in Gesprächen mit Generalstabsoffizieren, wenn militärische Fragen erörtert werden. Dagegen wird der Reserveleutnant in Damengesellschaft unbeschränkt glänzen, und es wird alles, was ihm zu sagen einfällt, als dienstlich gelten, ohne daß er dies ausdrücklich erklärt.

Trifft man einen Reserveleutnant, der sich etwas auf seinen Stand einbildet, so mache man darüber keine unliebsame Bemerkung, bevor man sich gefragt hat, ob man sich nicht selbst auf den Stand, dem man angehört, oder auf seine Stellung etwas einbilde, da dies doch meist der Fall zu sein pflegt.

Für die ganze Familie zu einem Festtag, der durch nichts zu trüben ist, gestaltet sich der Tag, an welchem die


Quelle:
Stettenheim, Julius: Der moderne Knigge. Berlin 1902, Bd. III, S. 96-98.
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