I. Teil.

Im Jahre 1888, in meinem zwanzigsten Lebensjahre, kam ich nach Hamburg. Einige Monate vorher war ich zu Besuch bei einer Tante, die mir behilflich sein wollte, eine passende Stellung zu finden. Eine Annonce in den »Hamburger Nachrichten«, welche angab, daß die Stellungsuchende ein gesundes, kräftiges Mädchen von auswärts (Holstein) sei, sorgte dafür, daß viele, sehr viele Damen vorsprachen. Die meisten davon wollten mich gleich fest engagieren, führte ich doch ein Zeugnis bei mir, welches besagte, daß ich 21/2 Jahre in einer Lehrerfamilie zu deren vollsten Zufriedenheit treu und ehrlich meinen Pflichten nachgekommen war; hauptsächlich die 21/2 Jahre schienen zu imponieren. Aber meine Tante war weit davon entfernt, mich gleich der ersten besten auszuhändigen, wie sie sagte. Es wurde einer jeden Dame gesagt, wir wollten uns besinnen und würden dann im Laufe des Nachmittags vorkommen. Drei Damen, welche uns sehr gut gefallen hatten, wurden auf die engere Wahl gestellt. Zur ersten begaben wir uns nicht direkt, sondern holten Auskunft bei einem Krämer, welcher in nächster Nähe wohnte. Derselbe kannte die Herrschaft sehr gut, konnte oder richtiger wollte keine Auskunft geben. Meine Tante sagte, es wäre wohl nicht viel Gutes dran, darauf zuckte er die Achseln mit bedeutungsvollem Blick. Also mit dieser Herrschaft war es nichts, wir gingen zu Nr. 2. Es war ein großes, schönes Haus, von einem prächtigen Garten umgeben. Wir wurden von einem sauber gekleideten Mädchen empfangen. Sie fragte nach unserm Begehr; wir sagten unser Anliegen. »Ach so,« meinte sie gedehnt, »dann kommen Sie nur gleich mit hinauf, Sie werden erwartet.« Mir pochte das[3] Herz fürchterlich, wie wir die teppichbelegten Treppen hinaufstiegen. In diesem feinen Hause sollte ich Dienstleistungen tun? Ich, die vom Dorfe kam? Denn meine Tante hatte mir schon vorher gesagt, wenn wir uns einig würden, ich hier mein Glück versuchen sollte, weil es die Dienstboten in einem großen, feinen Hause meistens gut hätten, wenigstens erträglich. Im Zimmer, in welches wir hineingeführt wurden, befanden sich drei Personen, ein alter Herr, welcher ausgestreckt auf dem Sofa lag, eine alte, sehr korpulente Dame und eine junge Dame von ungefähr 30 Jahren, eben dieselbe, welche bei meiner Tante vorgesprochen hatte. Sie alle musterten mich mit kritischen Blicken, der Herr, wie mir schien, mit einem eigentümlichen Lächeln auf den Lippen, so, als wenn er wohl dächte: das dumme Landmädchen soll dir dein Essen kochen? Alles Blut stieg mir zu Kopf, ich fühlte es, ob vor Scham, ob vor Entrüstung, ich weiß es nicht, vielleicht war es beides. Die alte Dame fixierte mich sehr scharf mit ihren großen grauen Augen von unten bis oben. Ihr Blick blieb wohlgefällig auf meinem Gesicht haften und dann meinte sie zu ihrem Gemahl gewandt: »Frische, rote Backen hat sie, nicht wahr?« »Rot genug sind sie,« erwiderte der lakonisch. Er hatte recht, rot genug waren sie und besonders in diesem Augenblick. Es wurde hauptsächlich mit meiner Tante über mich verhandelt, und die verstand es, mich so darzustellen, daß ich ein brauchbares, williges, ja sogar geschicktes Mädchen sei, welchem natürlich noch Hamburger Manieren und dergleichen beigebracht werden müßten. Genug, wir wurden uns einig; den 1. Mai sollte ich antreten als Köchin, sollte 55 Taler Lohn pro Jahr erhalten und einer sehr guten Weihnachten.

Für meine Begriffe war es sehr viel, hatte ich doch auf meiner andern Stelle nur 25 Taler bekommen, aber Familienanschluß gehabt und war wirklich wie ein Kind des Hauses behandelt worden. Den Wert dieser Behandlung lernte ich aber erst später, eben hier in Hamburg kennen. Wie ich mit meiner Tante wieder[4] auf der Straße war, atmete ich erleichtert auf, äußerte aber zu ihr meinen Zweifel über mein Können, hauptsächlich im Kochen. Aber sie sprach mir Mut zu und sagte mir, daß es sich viel schlimmer anhöre, wie es in Wirklichkeit sei, wenn man nur Lust und Liebe hätte und den festen Willen, etwas zu lernen. Na, den hatte ich, und nahm mir vor, alles daran zu setzen, um eine tüchtige Hamburger Köchin zu werden. So reiste ich dann wieder ab in meine holsteinische Heimat und berichtete nun alles meiner lieben Mutter. Auch die schien sich über meine Kühnheit zu wundern, mich gleich in einem feinen herrschaftlichen Haushalt als Köchin zu verdingen; aber ihr gegenüber ließ ich nichts von meinem Zweifel merken, im Gegenteil, ich sagte, daß es garnicht so schlimm sei, wenn man nur wolle, könne man alles, und ich sei nicht bange. So wurden denn die Vorbereitungen getroffen. Ganz besonders freute ich mich auf das Tragen von hellen Kleidern. Ich ahnte nicht, daß sie mir einst so verhaßt werden sollten.

Der 1. Mai rückte heran und mit ihm der Tag, wo ich mich einstellen mußte. Der Abschied von meiner Mutter war kurz und innig. »Bleib' gut und brav,« das waren die Worte, die sie mir mit auf den Weg gab. Ein Nachmittagszug brachte mich nach Hamburg. Bei meiner Tante und meiner Schwester, welche hier auch in Stellung war, stattete ich noch einen Besuch ab. Letztere begleitete mich abends um 9 Uhr bis vor die Pforte meiner neuen Dienstherrschaft, auch sie gab mir noch allerlei gute Ratschläge und Belehrungen. Wieder wurde mir geöffnet von dem saubergekleideten, nett aussehenden Mädchen. »Guten Abend,« sagte sie freundlich, noch ehe ich gegrüßt hatte, »Sie sind wohl unsere neue Köchin, nicht wahr?« Ich bejahte beklommen. Sie nahm mich diesmal die Treppe hinunter und führte mich in ein geräumiges Zimmer mit zwei Betten. »Dieses hier ist unser Zimmer,« sagte sie, und ich heiße Margret und bin in diesem Hause als Kleinmädchen, und Sie heißen Doris, nicht wahr?« Die Damen hatten es ihr schon erzählt. Nachdem ich Hut und[5] Mantel abgelegt, führte Margret mich eine Treppe hinauf bis zum Parterre, wo sich das Eßzimmer befand. Hier war die Herrschaft, um das Kommen der neuen Köchin abzuwarten. Ich wurde sehr freundlich empfangen, und die alte Dame wünschte, daß wir gut miteinander fertig würden und recht lange zusammenblieben; jetzt sollte ich nur bald zu Bett gehen, morgen früh würde sie weiteres mit mir besprechen. Unten angekommen hatte Margret einen kleinen Imbiß für mich besorgt. Ich aß etwas, doch ohne sonderlichen Appetit. Ich dachte an morgen, an die neue ungewohnte Umgebung und Arbeit. Auch der Schlaf wollte nicht kommen, mir war ängstlich ums Herz; doch die Natur forderte ihr Recht, endlich war auch ich denn eingeschlafen. Des andern Morgens wurden wir durch ein lautes anhaltendes Klingeln geweckt. Margret sprang auf, eilte an die Tür und machte diese sehr laut zwei bis dreimal auf und zu. Sie bedeutete mir, daß dies in Zukunft zu meinen Obliegenheiten gehöre und ich es jeden Morgen, nachdem es geklingelt hätte, wiederholen müßte, damit der Herr höre, daß wir erwacht seien. Die Uhr war erst 51/2, also hier hieß es, früh aus den Federn. Das fiel mir nicht schwer, war ich das Frühaufstehen doch von Haus aus gewohnt; aber zu komisch wollte es mich dünken, daß ich nur heißes Wasser zu machen hatte, und keinen Kaffee zubereiten brauchte. Das tat der Herr selbst. Mir sollte noch viel mehr spaßig oder auch nicht spaßig vorkommen. Punkt 71/2 Uhr fuhr der Herr mit der Pferdebahn in sein Geschäft. Jetzt, sagte mir Margret, wäre der Zeitpunkt gekommen, um an unsre häusliche Arbeit zu gehen. Solange der Herr noch im Hause war, mußte absolute Ruhe herrschen. Margret ging nach oben, da ihr Arbeitsfeld sich dort befand; ich hätte die untern Räume in Ordnung zu halten, wie sie sagte, müßte aber erst warten, bis die Dame des Hauses alles mit mir besprochen hätte. Ich hatte nicht lange zu warten, ein wuchtiger, knarrender Schritt kam die Treppe herunter, und gleich darauf stand meine Herrin mir gegenüber. Nachdem wir unsern Morgengruß[6] gewechselt hatten, sagte sie mir zunächst, daß sie und der Herr es gewohnt seien, ihre Mädchen mit »Du« anzureden. Ich war damit einverstanden, denn im ländlichen Holstein war das Duzen üblich. Dann zeigte sie mir den Vorratskeller, die Speisekammer, auch alle andern Räume, welche ich zu reinigen hatte. Speisekammer und Keller waren vollgepfropft von schönen Eßwaren. Da standen Kisten mit Pflaumen, Backobst, Traubenrosinen, Prünellen und vieles dergleichen mehr, ganze Börter voll Eier, große Häfen Eingemachtes aller Art. Der Keller lag voll Wein an der einen Seite entlang, an der andern Seite waren die Börter leer. Frau Möller erklärte mir, daß diese für Obst bestimmt seien, welches in den großen Körben, die aufeinander gestapelt dastanden, in den Keller geschafft und auf diese Börter gepackt wurde, um es leichter sortieren zu können. »Denn Obst haben wir sehr viel,« sagte sie, »magst du auch Obst?« Und ob ich Obst mochte! Ich schwelgte schon im Vorgenuß, obgleich mir ja nicht gesagt wurde, daß ich davon bekam. Das nahm ich ohne weiteres an. Nun wurde mir mit großer Genauigkeit vom Kochen erzählt, wie ich dieses und jenes zu handhaben hätte. »Jeder einzelne Topf,« sagte sie, »ist für etwas Bestimmtes da,« ebensoviel verschiedene Siebe waren da. Dann wurde mir gesagt, was am heutigen Tage gekocht werden sollte. »Für uns,« sagte sie (sie meinte sich und ihre Tochter), »ist noch genug von gestern vorhanden; aber für den Herrn muß etwas frisch gebraten werden,« ich möchte nur beim Schlachter eine Kalbszunge bestellen, die äße der Herr so gerne, zur Bereitung derselben käme sie wieder runter, jetzt möchte ich nur an meine Hausarbeit gehen.

Mit dem Reinemachen war ich schon besser vertraut als mit dem Kochen. Um 11 Uhr wurde gefrühstückt, und um 4 Uhr, aber präzise, wurde gegessen. Beim Frühstück erzählte Margret mir manches Interessante von der Herrschaft. Unser Frühstück bestand aus Bratkartoffeln und Schwarzbrot mit Butter, Margret bat mich, wenn es anginge, möchte ich doch immer dafür sorgen,[7] daß einige Kartoffeln übrig blieben vom Tage zuvor zum Braten; denn sonst hätten wir ja nur Brot und unsern Tee. Ich sagte ihr, daß es doch selbstverständlich wäre, wenn sie sie gern essen möchte, ich immer welche braten würde. Sie wollte mir etwas erwidern, aber Frau Möller betrat in diesem Augenblick die Küche, und aus war es mit unsrer Unterhaltung. Nachdem wir fertig gegessen, ging Margret wieder nach oben. Frau Möller und ich bereiteten mit großer Umständlichkeit das Mittagsmahl. Dabei sagte sie mir allerlei, was sie und der Herr gern hätten und was nicht. Wir sollten uns immer so leise wie möglich verhalten, vor allen Dingen nicht singen, nie mit den Lieferanten mehr sprechen, als absolut nötig sei, und dergleichen mehr. Also nicht singen sollte ich hier, das würde mir sehr schwer fallen; denn ich sang so gern, und meine Arbeit, hatte ich immer gemeint, ging dann noch einmal so flink von statten. Na, ich habe mich daran gewöhnen müssen; denn einmal hatte ich mir erlaubt, ganz leise ein Liedchen vor mir hin zu singen, noch dazu in einer Zeit, wo der Herr zu Hause war. Ich ahnte ja nicht, daß es oben zu hören war. Da kam Margret herunter und mußte mir vom Herrn sagen, singen könnte ich ja; aber er hätte schon mehrere Male Bötel gehört und wäre deswegen sehr verwöhnt; aber wenn ich durchaus einmal singen wollte, möchte ich mich ganz hinten in den Park verfügen; »da, wo die große Pappel steht, kann sie soviel singen, wie sie Lust hat, hat er gesagt.« Die Zurechtweisung habe ich mir gemerkt; aber ich habe viel darüber nachdenken müssen und dachte an das Wort, das mein guter Vater so oft sagte: »Wo man singt, da laß dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.« Warum mochten sie wohl durchaus kein Singen im Hause dulden? Selbst die Tochter des Hauses habe ich niemals singen oder laut lachen hören. Es war wohl nicht fein. Ach, was fragten wir, Margret und ich, danach, wir mochten so gern einmal recht vergnügt sein. Es sollte noch besser kommen.

Es war wohl einige Monate später, an einem Sonntag.[8] Ein verheirateter Sohn nebst Frau, drei Kindern und Kinderfräulein waren sehr häufig am Sonntag bei uns zum Essen, so auch an diesem Sonntag. Das Kinderfräulein und die Kinder gingen um 7 Uhr nach Hause. Der junge Herr, wie wir den Sohn nannten, blieb mit seiner Frau dann noch zum Abendessen. An diesem Sonntag waren wir mit allem fertig; es war bald 10 Uhr. Wir gingen in unser Zimmer und unterhielten uns ein wenig über dies und jenes. Schließlich stimmten wir ganz leise auch noch ein Lied an; denn oben würden sie es ja nicht hören können, es war ja Besuch. Um 10 Uhr gingen sie immer fort und haben dann ja wohl das Singen auf dem Vorplatz doch hören können. Genug, in ein paar Sätzen kam jemand die Treppe heruntergestürzt, riß unsre Tür auf, und mit wutentbranntem Gesicht, in der Rechten einen Spazierstock schwingend, stürzte der junge Herr in unser Zimmer.

Er schrie uns an: »Was ist hier los? Wer ist hier? Sie allein können solchen Spektakel nicht gemacht haben,« und dabei schlug er immer mit dem Stock auf unsern Tisch. Schnaubend durchstöberte er unsre Garderobe, unsern Kleiderschrank, die Fenstervorhänge riß er auseinander, die Spreitdecken von unsern Betten, und dabei schrie er immer: »Was ist hier los? Was geht hier vor?« Schließlich sagte Margret: »Wir haben ein wenig gesungen.« »Was,« polterte er los, »Sie haben gesungen, wissen Sie nicht, daß Sie nicht singen dürfen?« Dabei stand er mit geballter Faust vor ihr. Unsre Blicke trafen sich und wir konnten uns eines Lächelns nicht erwehren. Das sah er und: »Warum lachen Sie?« rief er nun ein übers andre Mal, dann zur einen, und dann wieder zur andern gewandt, bis ich dann sagte: »Wir lachen ja garnicht.« Mit allerlei schmeichelhaften Ausdrücken für uns verließ er wieder unser Gemach. Da haben Margret und ich aber erst gelacht, das andre war ja nur ein Lächeln. Er hatte inzwischen das Haus verlassen, zuvor aber noch seinen Eltern zugerufen, daß es eine böse Zucht da unten sei. Unser Lachen war bald verschwunden. Wir fragten[9] uns, was hatten wir verbrochen, um uns eine solche Behandlung gefallen zu lassen? Am andern Morgen, wie Frau Möller zum Ausgehen herunterkam, fragte ich sie, was es denn eigentlich gestern abend mit dem jungen Herrn gewesen wäre? »Was denn,« sagte sie mit ihrem tiefen Organ und in ihrer langsamen Sprechart, »Ihr wart ja auch ungehorsam, Ihr habt gesungen und sollt es nicht!« Dabei sah sie mich an, mit großen entsetzten Augen. Das tat sie immer, wenn sie uns was sagte, was gerade nicht sehr freundlicher Art war. »Ich habe gedacht, der junge Herr wäre plötzlich irrsinnig geworden,« mit diesen Worten machte ich meinem Ärger Luft. O, die Augen wurden noch größer und entsetzter, wie ich so was sagen könnte. Na ja, erwiderte ich, ich hätte noch nie gesehen und gehört, daß ein vernünftiger Mensch sich so betrage.

Frau Möller und ich kamen sonst ganz gut zusammen aus. Sie lernte mich im Kochen an, das meiste allerdings viel zu umständlich. Sie schien ja auch mit mir zufrieden zu sein; denn sie hatte mir schon gesagt, daß ich vom November an 5 Taler Zulage haben sollte. Das freute mich sehr, ich dankte ihr dafür. Dennoch unterblieben nicht kleine Reibereien, mitunter wurden's auch große; unsre Ansichten gingen eben zu sehr auseinander. Sie nannte uns verschwenderisch, und wir glaubten, ein Recht zu haben, sie geizig zu nennen. Wir haben nicht zu hungern brauchen; aber sehr häufig hätten wir gern noch etwas gegessen und hatten nichts, trotz der aufgespeicherten Eßwaren in Kammer und Keller und trotz der vier Millionen, die, wie uns von glaubwürdiger Seite erzählt war, unsre Herrschaft ihr eigen nannte. Sonntags gab es immer einen großen Ochsenbraten, und davon aßen die Herrschaften nur am Sonntag und wir Mädchen die ganze Woche; denn das für »den Herrn« Bestellte beim Schlachter, Wildhändler oder Fischhändler war immer so reichlich, daß sie alle drei daran genug hatten. Sie hatten auch immer die schönsten Gemüse und Kompotts, wovon wir nur das Zuschauen hatten. Der Braten kam Sonntags rauf und blieb im großen Saal unter einer großen Glocke stehen, die ganze Woche, wenn es nicht allzu warm wurde. Dann kam[10] er hinunter in die Speisekammer hinter Schloß und Riegel. Er hätte gern in unserm Eßschrank stehen können. Wir hätten uns nicht mehr als nötig davon genommen; denn wir mochten ihn nicht mehr vor Augen sehen, wie man zu sagen pflegt.

Margret hatte mich nun gleich aufmerksam gemacht, daß wir nie zu unsern paar Fleischscheiben Sauce bekämen, ich möchte doch für uns immer ein bißchen zurückbehalten, sonst hätten wir ja nur das trockne Fleisch und trockne Kartoffeln. In den ersten Wochen war es mir nicht möglich, dieses zu tun; denn Frau Möller blieb in der Küche, bis alles fertig und aufgetragen war. Alles, aber auch alles, kam nach oben, bis auf ein paar Kartoffeln, die gleich für uns unten bleiben konnten. Es waren ihr auch immer zuviel, welche ich schälte. Wie ich ihr denn mal sagte, daß wir uns zum Frühstück gerne welche brieten, meinte sie: »Ja, aber da gehört ja immer viel Fett zu.« Sie ließ es lieber verderben, als daß sie uns es gönnte. Von den Bratenknochen gabs die ganze Woche Suppe. Jeden Tag kam sie dann mit ein paar Knöchelchen runter und bestimmte, was für eine schmackhafte Suppe ich daraus kochen sollte. Erbsen, Reis und Bohnen wechselten miteinander ab. Von diesen Sorten gab sie pro Person einen gestrichenen Eßlöffel voll raus. Es kann sich jeder vorstellen, daß die Suppen nicht allzu lecker wurden. Es war immer ein Fest für uns, wenn es mal ausnahmsweise eine Frucht- oder Milchsuppe gab. Eines Tages machte Margret mich aufmerksam auf eine Schüssel voll Sauerampfer, welche vor fast acht Tagen gekocht worden war und auch im großen Saal aufbewahrt wurde. Der Saal wurde nicht benutzt, denn große Gesellschaften gab's nicht im Hause. Dieser Sauerampfer war verschimmelt und schon so schlimm, daß der Schimmel fingerlang und wie weiße Haare aussah. »Paß auf,« sagte Margret, »den kriegen wir heute.« Und richtig. Wir saßen wieder bei unserm frugalen Frühstück, als Frau Möller mit der Schüssel in der Hand zu uns in die Küche trat. Der Sauerampfer war fein gesäubert. Sie setzte ihn auf den Tisch und sagte[11] zu mir gewandt: »Diesen schönen Sauerampfer könnt ihr zu Mittag essen, das ist ein gesundes Gemüse und schmeckt sehr gut.« »Ja,« erwiderte ich, »ich esse ihn sonst auch sehr gerne; aber diesen esse ich nicht, weil er ja schon ganz verschimmelt war.« Ich bin nun mal so, ich kann nicht zu allem Ja und Amen sagen, ich muß auch mal meine Meinung sagen. Das hatte sie ja nicht erwartet. Glutrot im Gesicht, sah sie mich an. Endlich fand sie auch die Sprache wieder. Was ich im großen Saal verloren hätte, und wie ich ihr so antworten könne, ich wäre doch wohl von Hause nichts Besseres gewöhnt. O ja, erwiderte ich ihr drauf, ich wäre in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen; aber gutes und auch auskömmliches Essen hätte ich stets erhalten. Den Sauerampfer brachte ich noch in ihrer Gegenwart in den Ascheimer. Sie hielt sich an diesem Tage nicht lange unten auf. Das Kochen wurde mir nun auch schon mehr alleine überlassen, und so wurde es mir denn möglich, reichlich Bratensauce zu machen und für uns etwas zurückzubehalten. Margret meinte, ich sollte sie verstecken, es gäbe ja sonst doch wieder Krach. Aber ich war nicht für Heimlichkeiten, ich wollte mich lieber verteidigen. Es ging einige Wochen gut, sie hatte unsre Bratensauce nicht entdeckt, obgleich sie häufig in unsern Eßschrank sah. Da aber eines Tages kam sie, mit der Saucenschüssel in der Hand, auf mich zu und sagte, wie mir schien, angenehm überrascht: »Von dieser Kraftsauce kannst du heute eine Suppe bereiten.« »Ach nein, Frau Möller, bat ich freundlich, ›lassen Sie uns diese Sauce, wir mögen nicht immer das trockne Fleisch und die trocknen Kartoffeln.‹« Ein langer, böser Blick traf mich; aber ich hielt ihm stand. Ich war mir nichts Schlechtes bewußt. Zögernd schob sie sich mit der Schüssel wieder ab und stellte sie wieder an ihren Platz. Sie hat sich daran gewöhnt. Freilich manchesmal hat sie später, wenn sie in unsern Schrank sah, gesagt: »Ach so, das ist ja eure Sauce,« wie mir schien sehr bedauernd, daß es nicht ihre sei.

Einmal gab es saure Suppe. Es war Margrets Lieblingsessen,[12] und sie freute sich schon sehr darauf. Man muß sich nun nicht denken, wie es sonst üblich ist, auf einen Schinkenknochen mit etwas Fleisch daran gekocht, nein, verschiedene Gemüse wurden in Wasser gekocht, Birnen für sich und nachher hinzugetan. Wir hatten ja alles reichlich im Garten. Für »den Herrn« gab es natürlich was extra Gebratenes. Wir sollten uns an der Suppe satt essen. Das kann man auch sehr gut, wenn man genug davon bekommt. Ich hatte dieses Gericht noch nicht gekocht, und nun hatte sie ja Gelegenheit, bis zum Schluß des Kochens unten zu bleiben. Sie füllte für uns je einen nicht allzu vollen Teller auf. Jeder hatte zwei kleine Birnen und drei Hamburger Klöße (ohne Ei und ohne Fett) von Haselnußgröße. Alles andre kam in einer großen Terrine nach oben. Uns mundete die Suppe sehr, es war doch einmal etwas andres; aber satt waren wir nicht geworden. Von oben kam die meiste Suppe wieder herunter. Margret mußte mir sagen, ich sollte sie nur in unsern Eßschrank stellen, es reiche gerade noch für alle für morgen. Die Versuchung war groß. Wer kann es uns verdenken, wir waren nicht satt, und es war genug da. Wir beschlossen einfach, noch davon zu nehmen und füllten uns jeder einen halben Teller voll mit drei Klößchen auf und ließen es uns gut schmecken. Am andern Tage ging es nun wieder los. Frau Möllers erster Gang war nach unserm Eßschrank, um ihre Suppe zu besichtigen. Margret war auch in der Küche beschäftigt, sie gab mir schon einen Knuff, wie sie an mir vorüberging. Ich beobachtete bei meiner Arbeit Frau Möller. Ihr Gesicht wurde immer länger, ihre Augen immer größer. Sie ging mit der Terrine an ein Fenster, sah von der einen Seite hinein, sah von der andern Seite hinein, ging an ein andres Fenster und wiederholte hier dieselbe Prozedur. Schließlich sah sie mich groß an und fragte: »Ist einer bei der Suppe gewesen?« »Ja, ich,« sagte ich. »Du?« »Ja, ich habe für Margret und mich einen halben Teller und für jeden drei Klöße herausgenommen, weil wir noch hungrig waren.« »Das[13] ist frech von dir,« sagte sie. »So,« sagte ich, »also das nennen Sie frech, wenn Ihre Mädchen sich satt essen möchten, und ich nenne es eine Schande, daß reiche Leute ihre Mädchen hungern lassen; es wäre wert, gedruckt zu werden.« Und gleich darauf fragte ich in etwas verändertem Tone: »Kann ich heute abend ausgehen?« »Ja,« kam es gepreßt heraus, »du willst wohl gleich zu deinem Bruder und willst dem alles erzählen?« »Gewiß,« erwiderte ich, »das will ich auch.« Mein Bruder war Lehrer und schrieb häufig Artikel für eine Zeitung, die von der Herrschaft gelesen wurde. Diese Artikel schienen Frau Möller Respekt einzuflößen, denn sie hatte schon wiederholt zu mir gesagt: »Dein Bruder scheint klug zu sein.« »Ja,« sagte ich, »das wird er wohl, vor allem ist er gut und sehr gerecht.« Vor diesem gerechten Bruder war sie also in Angst, er könnte da so einen Artikel loslassen. Na, sie konnte ruhig sein, mit solchen Sachen gab mein Bruder sich nicht ab. Mir hat es oft leid getan, daß man der alten Dame so derb antworten mußte. Auch Margret hatte viele ähnliche Auftritte mit ihr. Aber leise Andeutungen verstand sie nicht oder wollte sie nicht verstehen. Margret war ein flinkes, sauberes und sehr arbeitsames Mädchen und tat ihre Pflicht. Auch ich hatte alles drangesetzt, um zur Zufriedenheit meiner Herrschaft zu leben. Trotzdem will ich nicht bestreiten, daß wir nicht vielleicht dieses oder jenes haben aus Versehen einmal falsch gemacht, oder auch einmal was vergessen. Dann haben wir auch unsre Schelte ohne Gegenrede hingenommen. Aber Mensch muß Mensch bleiben und sich zu jeder Zeit, wenn ihm Unrecht geschieht, verteidigen können. Leider wird dieses Recht einem Dienstboten gänzlich abgesprochen. Hier heißt es schweigen und immer ja sagen, oder man ist frech. Später habe ich mehrere Male versucht, mich in Güte mit ihr auseinanderzusetzen; aber ich erreichte dadurch nichts. Sie redete einen dumm, und man mußte schweigen, wenn man nicht immer neue unangenehme Auftritte haben wollte; aber immer ist der Mensch nicht zum Schweigen aufgelegt.[14]

Im Garten war in diesem Jahre sehr viel Obst gewachsen, auch Johannisbeer- und Stachelbeersträucher hingen voller Früchte. Es wurde ab und zu ein Korb voll zu Verwandten geschickt, auch die Fruchtschale der Herrschaft wurde gefüllt. Aber die meisten Stachelbeeren blieben solange am Strauch, bis sie verdorben herunterfielen. Nicht ein einziges Mal hat sie uns welche gegeben. Ich frug Frau Möller einmal in dieser Zeit, ob Margret und ich die Stachelbeeren abpflücken sollten und dann der Straßenjugend geben, die würde sich königlich freuen, oder ob sie es selbst tun wolle, es müßte doch eine große Freude für sie sein, all die lieben Kinder zu beglücken. Aber da kam ich schön an. »Wo denkst du hin,« sagte sie zu mir, »die frechen Straßenkinder würden es ja garnicht zu würdigen wissen. Nein, das wollen wir lassen.« Und so blieben die Beeren am Strauch, bis sie herunterfielen und verfaulten. Margret und ich verschafften uns einige Male welche durch List. Wir baten unsern alten Gärtner, der immer das nötige Gemüse brachte, wenn Frau Möller unten beschäftigt war, er möchte doch einmal Petersilie, Salat oder dergleichen mit Willen vergessen, damit wir auch einmal Gelegenheit hätten, in den Garten zu gehen, um uns Stachelbeeren zu pflücken. Dies konnten wir ihm natürlich nur dann sagen, wenn Frau Möller sich einmal eine Minute verspätete, herunterzukommen, es ging bei uns alles genau nach der Uhr. »Ja Kinnings,« sagte er, »ich würde euch gern welche mitbringen, aber die Madam mag das nicht haben, und ich muß mich fügen; denn wenn ich rausflieg, bekomme ich alter Mann nirgends Stellung wieder.« Wir sahen das ja ein. Aber er hat doch ein paarmal dafür gesorgt, daß wir in den Garten kamen, und dann haben wir schnell ein paar Stachelbeeren gepflückt und uns geteilt. Die haben uns großartig geschmeckt; denn verbotene Früchte schmecken ja bekanntlich am besten. Auch sehr viele Äpfel und Birnen gab's in diesem Herbst, und Herrn Möllers Garten war ganz besonders gesegnet. Der alte Gärtner, von der[15] Herrschaft »Korl« genannt, brachte viele, viele Körbe voll in den Keller, und Frau Möller packte dann ganze Vormittage das Obst auf die Börter. Die weniger schlechten wurden mir zum Kochen gegeben, nur von den ganz schlechten gab sie uns ein paar zum essen. Die waren aber gewöhnlich ungenießbar, entweder unreif oder gänzlich vom Wurm zerfressen. Nicht eine gute Frucht haben wir von Frau Möller bekommen. Aber der Herr war anders. Er hat uns wenigstens einige Male gutes Obst und schöne Weintrauben in die Küche gebracht. Dann sagte er auf Plattdeutsch zu uns: »Dat stekt man weg för Ju, aber min Fru brukt dat nich to sehn.« Wir waren ihm sehr dankbar dafür und ließen es uns abends nach unsrer Arbeit gut schmecken. Herr Möller erlaubte uns auch einmal, an einem Sonntagmorgen seinen Park zu besehen, er war groß und wunderschön, ich hätte am liebsten den ganzen Tag darin gelustwandelt.

Margret war ein halbes Jahr vor mir zu Möllers gekommen und wußte schon allerlei im voraus zu berichten. Eines Tages wurden Margret und ich beauftragt, nach dem Frühstück eine Besorgung zu machen. Margret sollte zur Stadt und Brot holen und ich sollte zu unserm ziemlich entfernt wohnenden Schlachter. An solchen Tagen, wußte Margret, mußte der Gärtner verdorbenes Obst aus dem Keller schaffen. Frau Möller genierte sich dann doch wohl vor uns oder sie fürchtete, wir könnten es noch erwähnen, warum uns denn nichts von diesem Obst gegönnt sei. Der alte Gärtner hat uns gelegentlich erzählt, daß er an solchen Tagen ganze Karren verdorbenes Obst nach dem Düngerhaufen fahren mußte. In diesem Hause habe ich so recht kennen gelernt, was doch der Geiz für eine schreckliche Leidenschaft ist. Diese Frau konnte alles eher verderben sehen, als andern davon geben.

Es wurde Winter und nun belehrte sie mich, wie man Kohlen sparen könne auf eine einfache Art. Ich sollte eben keine mehr brennen, als irgend nötig wären zum Essenkochen. »Und die Tür hältst du immer gut zu, und es wird hier den ganzen Abend[16] mollig warm bei Euch bleiben,« sagte sie zu mir. Also sollten wir im Winter ja nicht mehr Kohlen gebrauchen, als im Sommer, das war der Schluß der Rede. Erst ging es ja auch noch; aber es wurde immer kälter. Wir hatten eine sehr große Küche, mit Fliesen ausgelegt, und es fror uns abends jämmerlich bei unsrer Näharbeit und bei unserm Strickstrumpf. Häkeln und Sticken durften wir nämlich nicht, das wäre Luxus und nur für reiche Leute bestimmt, hat sie mir einmal gesagt, als ich eine kleine Spitze für eine Schürze häkelte. Ich beschloß nun, das Feuer etwas länger anzulassen, damit es für uns nicht gar zu ungemütlich sei. Am andern Morgen mußte ich dann gleich beichten, warum ich denn noch Kohlen aufgeschüttet hätte. Sie hatte es also gehört. Ich sagte ihr, daß uns gefroren hätte und ich es mir deswegen erlaubt hätte. Da hat sie mir eine ganze Predigt gehalten, daß es nur Verwöhnung wäre, eine so warme Küche oder Stube haben zu müssen. Es wäre garnicht gesund und bei ihnen oben würde auch nur einmal am Tage geheizt. Ich erwiderte ihr dann, daß sie doch wohl nicht ihre Stube, wo der große Kachelofen den ganzen Tag warm hielte, Fenster und Türen mit dicken Portieren verhängt und der Fußboden mit Teppichen belegt sei, mit unsrer Küche oder Stube vergleichen könnte. Aber es half mir nichts, sie wußte noch soviel dagegen zu sagen, daß ich schließlich schwieg. »Denn,« schloß sie ihre Rede, »was ihr erspart, das habt ihr eurer Herrschaft verdient und dazu ist ein jedes Mädchen verpflichtet, möglichst viel zu sparen.« Wie Margret dann zum Frühstück runter kam, habe ich es ihr erzählt. »Das wäre schön,« meinte sie, »also sollten wir bei unsrer Herrschaft durch Frieren und Hungern wohl noch was zuverdienen, daraus wird nichts; wir wollen einen warmen Ort haben, wo wir abends sitzen können. Weißt du was! Wir heizen unser Zimmer, das liegt am andern Ende des Hauses, das wird sie nicht hören.« Einige Tage ging es gut; aber dann hatte sie es doch gehört und stellte mich darüber zur Rede. Sie war sogar ganz erbost, wie ich das tun könnte,[17] es würde ja soviel Feurung kosten, da könnte man ja garnicht gegen an. Ich beruhigte sie, daß ich im Zimmer nur ein paar Schaufeln gebrauchte, dann wäre es warm. Sie wollte aber durchaus nichts davon wissen. Es wäre Verschwendung.

Im guten war also wieder nichts zu machen. Da sagte ich ihr, ich würde es dem Herrn einmal vorstellen, der würde gewiß nicht verlangen, daß wir frieren sollten. Das half. Sie lenkte ein. Sie wollte uns dann erlauben, daß wir jeden Mittwoch und Sonntag unser Zimmer ein wenig heizten. »Dann müßt ihr Fenster und Türen gut zuhalten,« meinte sie, »dann bleibt es für die ganze Woche warm.« Ob sie wohl etwas so Widersinniges selbst glaubte? Es war doch nicht anzunehmen. Ich versprach ihr, es so zu machen; aber es war doch nicht gut ausführbar. Erstens muß in einem Schlafraum überhaupt jeden Tag gut gelüftet werden und besonders, wenn er sich im Keller befindet, wie es hier der Fall war. Zweitens sorgte der Herr dafür, daß das Fenster schon um 71/2 Uhr geöffnet war. Um diese Zeit fuhr er ins Geschäft. Vorher ging er jeden Morgen in den Garten zu seinen Hühnern, und da kam er an unserm Fenster vorbei. Hatten wir nun einmal im Winter (im Sommer war es immer schon geschehen) unser Fenster noch nicht geöffnet, so trommelte er so lange mit seinem Schirm oder Stock an die Scheiben, bis eine von uns kam und das Fenster öffnete. »Luft, frische Luft,« waren dann gewöhnlich seine Begleitworte. »Ja,« sagte Margret dann wohl in ihrer drastischen Weise (hinter seinem Rücken natürlich), »frische Luft wollen wir schon kriegen, sorge nur lieber für warme Luft.« Manchesmal haben wir oben auf dem großen Küchenherd gesessen. Auf jeder Seite von der Gasflamme, die über dem Herd war, stellten wir unsre Stühle, und so war es dann eher erträglich. Mitunter haben wir uns über dies komische Bild großartig amüsiert und haben bis zu Tränen gelacht. Es gab aber auch Zeiten, wo uns sehr ärgerlich zu Mute war, daß man bei einem Millionär so etwas erleben mußte. Dann wären[18] wir lieber heute als morgen gegangen; aber wir waren gebunden. Es war abgemacht, wie es ja früher Sitte war, auf halbjährliches Bleiben. Wollten wir mit Ablauf dieser Zeit den Dienst verlassen, mußten wir schon ein Vierteljahr vorher kündigen. Das stand fest bei uns, wenn das Jahr um war, wollten wir beide fort. Wir mußten also schon am 1. Februar kündigen, um am 1. Mai gehen zu können. Es tat mir in andrer Hinsicht wieder leid; denn wir waren nicht mit Arbeit überhäuft. Es ging alles geregelt und wir hatten fast jeden Abend ein paar Stunden für uns, um unser Zeug in Ordnung zu halten. Das ist sehr viel wert. Aber wir mußten im Winter doch zu sehr frieren dabei. Mitunter heizten wir dann auch mal ohne Erlaubnis unser Zimmer. Dabei mußten wir natürlich sehr vorsichtig zu Werke gehen. Schaufeln durften wir nicht, uns blieb nichts andres übrig, als die Kohlen mit den Fingern in den Ofen zu befördern. Wenn unsre Hände dann so recht schwarz waren, nannten wir uns wohl scherzweise Herrn Möllers Kohlenarbeiter.

Viel Kummer machte Frau Möller immer unser freier Abend in der Woche. Laut Abmachung mußte sie uns einen Abend jede Woche nach der Arbeit ausgehen lassen und jeden dritten Sonntag nach dem Essen. Nun konnte sie immer nicht begreifen, wo wir denn immer hin wollten. Ich habe ihr dann mal alle meine Verwandten aufgezählt, wo ich abwechselnd mal hinginge. Nachdem sagte sie mir nicht mehr soviel; aber die arme Margret mußte viele Fragen beantworten, bevor sie Erlaubnis bekam. Sie sagte oft: »Wie bin ich doch dumm gewesen, zu erzählen, daß ich nicht mehr Verwandte hier habe als nur eine Schwester, und daß diese sogar auch noch in Stellung ist. Das gibt mir Lehrgeld, einer andern Herrschaft werde ich nicht so genau meine Verwandtschaftsverhältnisse erzählen, sondern gleich einige Onkel und Tanten, Schwestern und Kousinen, ja auch ein paar Brüder und Vettern hinzufügen, damit dies Fragen aufhört.« »Wo gehst du denn hin?« Diese Frage richtete sie beständig an Margret, die antwortete dann:[19] »Nun, zu meiner Schwester.« »Aber Margret,« sagte Frau Möller dann, »du kannst doch nicht zu deiner Schwester gehen, das mag deren Herrschaft garnicht haben.« Wir sollten nämlich keinen Besuch haben. Nun nahm sie an, andre Herrschaften erlaubten es auch nicht. Es gibt aber auch vernünftig denkende Herrschaften, die nichts dagegen haben, wenn ihre Mädchen ab und zu mal Besuch von ihren Angehörigen haben. Frau Möller hat uns mehrmals den Rat gegeben, doch nicht immer auszugehen, es koste doch soviel Stiefelsohlen und Hacken, und unsre Kleider ruinierten wir auch dabei; wir könnten uns doch an unserm Zeug im Schrank freuen, wenn alles hübsch ordentlich und sauber bleibe. Wir haben es ja auch versucht. Margret stellte sich dann vor den geöffneten Schrank, schlug die Hände vor Freude zusammen mit einer furchtbar komischen Gebärde und nahm jedes Kleidungsstück in die Hand und bewunderte es unter fortwährendem Hersagen von Lobsprüchen. Wie z.B.: »Ach mein schönes Kleid, wie freue ich mich, daß ich es habe, daß es hier so schön trocken im Schrank hängen kann, der Saum ist noch so rein und heil. Ich will mich immer dazu freuen. Ich will es auch garnicht tragen, damit es nicht verdirbt!« Auch die Stiefel wurden hergeholt. Sie streichelte zärtlich die heilen Sohlen und die geraden Hacken mit den Worten: »Wie bin ich doch glücklich, daß ich euch habe.« Auch ich wußte natürlich mein Wort dazuzureden und so haben wir dann unser Leid hinweggelacht, aber in gedämpftem Ton, denn lautes Lachen war ja verboten. Aber es genügte uns doch nicht, wir gingen doch lieber mal aus, wenn unser Zeug auch etwas darunter litt. Wer kann es uns verdenken, daß wir mit unsern 20 Jahren und unserm frohen Mut gern mal ausgehen mochten. Es waren ja nur einige Stunden von 71/2 bis 10 Uhr. Und ganz präzise mußten wir sein, nicht eine Minute später. Dann empfing uns der Herr mit Schelte und drohte, das nächste Mal die Tür zu schließen, dann könnten wir sehen, wo wir blieben. Oder er sagte auf Plattdeutsch: »Paß op, kümst noch mal to spät, lat dick i von'n Schutzmann halen.«[20] Die Polizeiwache war uns nämlich gerade gegenüber, und er machte uns gern damit bange. Er scherzte überhaupt oft, aber dann nur auf Plattdeutsch. Er sprach aber auch plattdeutsch, wenn er sehr böse war. So ärgerte er sich immer über unsre Milchleute, wenn die sich nur eine Sekunde länger in der Küche aufhielten, wie nötig war. Drei verschiedene junge Leute kamen bei uns, morgens kam Otto, mittags Heinrich und abends Peter. Jeder brachte ein kleines Quantum. Sie waren nämlich alle drei bei einem Herrn angestellt. Otto kam früh, wenn der Herr noch nicht fort war und einige Male hat er ihn ganz gehörig auf'n Schwung gebracht. Er hieß Otto Hieber, und Margret, die ja immer von Übermut geplagt war, begrüßte ihn dann: »Guten Morgen, mein lieber Hieber.« Trotzdem er uns schon oft gesagt, er könne diese Art von Begrüßung nicht leiden, tat Margret es gerade, und so kamen sie oft in Wortwechsel. Dadurch kam dann die Verzögerung, d.h. mehr wie eine Minute ist es nie gewesen. Der Herr stand in der ersten Etage mit der Uhr in der Hand (so erzählten uns die Geschäftsleute). Er wußte also ganz genau, wieviel Sekunden zur raschen Abfertigung gehörten. Überschritt es diese, so war etwas nicht in Ordnung, und bei solcher Gelegenheit hat er dann diesen armen Otto draußen einige Male abgefaßt. Die Küchentür war ziemlich weit in den Garten hinein und der Weg ging um ein großes Bosquett herum, so daß der Herr in der Zeit bequem die Pforte von der Haustür aus erreichen konnte, und hier an der Pforte kriegte er seine Strafpredigt. »Wat hest so lang in de Kök dahn? Du hest nix mit de Mäd'ns to snacken, versteist du mi? Passeert datt noch mal, bring ick di mit'n Stock rut.« So und ähnlich lautete sie. Von der Küche aus führten nämlich auch zwei Fenster nach der Straße, so daß wir alles hören konnten. Sehen ließen wir uns nicht. Wir standen hinter den Gardinen, und wütende Blicke sandte er nach unsern Fenstern. Über solche Aufzüge haben wir uns immer köstlich amüsiert. Heinrich war überhaupt ruhig, der kam zu einer Zeit, wenn[21] die Damen beim Frühstück saßen in einem nach hinten belegenen Zimmer, und der Herr war nicht anwesend. Mit dem anzubinden, hatte für uns keinen Reiz. Aber abends, wenn Peter kam, waren wir immer beide in der Küche mit dem Abwaschen beschäftigt. Peter, von Margret immer »mien söten Peter« genannt, war ein großer Witzbold. Wie nun sein Kollege Otto morgens die Zurechtweisung vom Herrn erhalten hatte, kommt »mien söten Peter« abends in einer eigentümlichen Verfassung bei uns an. An allen Gliedern bebend, ohne uns zu grüßen, ist er mit einem großen Schritt schon am Schrank, wo der Topf für die Milch schon immer bereit stand. Als er die Milch ausgegossen hat, mit einem ebenso großen Schritt wieder zur Tür hinaus, sich immer ängstlich nach allen Seiten umsehend. Sprachlos schauten wir dem »söten Peter« nach. An der Pforte angelangt, sandte er einen noch viel ängstlicheren Blick nach oben, zu den Fenstern der Herrschaft, und mit einer komischen Schnelligkeit die Pforte hinter sich zuziehend, atmete er erleichtert auf, die eine Hand aufs Herz legend. »Was ist nur mit unserm ›söten Peter‹?« sagte Margret. Na, wir kannten ihn ja gut genug, er markierte die Angst vor dem Herrn. So ging es einige Tage fort. Margret frug ihn: »Mien söten Peter«, was fehlt Ihnen eigentlich? Sagen Sie doch wenigstens guten Tag.« Er aber sandte nur einen furchtbar ängstlichen Blick nach oben und raus war er. Margret sann nun auf etwas anderes, um Peter zum Sprechen zu bringen. Am nächsten Tage stellte sie sich hinter die Tür, und sowie Peters Kopf zum Vorschein kam, nahm sie ihm seine Mütze ab und ging damit hinter den großen Küchentisch. Das Gesicht, was Peter darauf machte, bin ich kaum imstande zu beschreiben; aber komisch war es, furchtbar komisch. Die leere Milchkanne zwischen den gefalteten, hocherhobenen Händen, sagte er mit angsterfüllter, flehender Stimme: »Greten, mien Mütz.« »Erst hübsch guten Tag sagen,« bestand Margret. Aber: »Greten, mien Mütz,« war alles, was er sagte. Bis Margret sie ihm dann wieder hinwarf.[22] Lange durfte so ein Spaß nicht ausgedehnt werden; denn der Herr stand ja mit der Uhr in der Hand am Fenster. Am nächsten Tage hatte Peter seine Mütze krampfhaft unterm Arm und sagte immer: »Guten Tag, guten Tag«, und verschwand mit zitternden Gliedern. Es hat uns viel Spaß gemacht. So bei kleinem wurde unser Peter wieder normal und hat uns unter anderm denn auch erzählt, daß der Herr am Fenster gestanden und den Kopf geschüttelt in der Zeit, wie er die Angst markierte. Daß auch der das bemerkt hatte, hat uns noch vielmehr Spaß gemacht. Er hat aber nie etwas zu uns darüber gesagt.

Nach einiger Zeit hatte Margret auf einem Spaziergang mit ihrer Schwester einen jungen Mann kennen gelernt, der sich sehr für das lustige, niedliche Mädchen interessierte. Da er sie den Abend bis vor die Pforte begleitet hatte, wußte er, wo sie war. Eines Abends hatte er einen hübschen Blumenstrauß vor unser Fenster gelegt, wie sie erst später von ihm erfuhr. Solange oben Licht gewesen (bis 10 Uhr) hätte er sich nicht in den Garten gewagt und dann habe die Pforte fürchterlich geknarrt. Nun war aber das Schlafzimmer der Fräulein Möller in der zweiten Etage nach vorn belegen und wird sie ja wahrscheinlich, durch das Knarren der Pforte aufmerksam geworden, den jungen Mann gesehen haben. Nachdem haben Margret und ich mehrere Male in der Nacht flüsternde Männerstimmen und schlürfende Schritte hinter unserm Fenster gehört, die nach dem Garten hin verhallten. Wir waren ängstlich und hatten schon beraten, ob wir es auch lieber der Herrschaft sagen wollten; denn was konnte es sein? Aber bevor wir unser Vorhaben ausgeführt hatten, wurden wir auf die Spur gebracht von einem Schutzmann. Der kam an die Tür und wünschte den Herrn zu sprechen. Margret frug ihn, ob sie es nicht bestellen könnte, der Herr würde erst in einer halben Stunde nach Hause kommen. »Ja,« sagte der Schutzmann, »sagen Sie nur dem Herrn, daß wir nichts Verdächtiges entdeckt hätten.« »Aber,« fügte er gleich hinzu, »ich muß doch wohl[23] wiederkommen; denn ich muß doch selbst mit dem Herrn sprechen.« Margret erzählte es mir und gleich dem Fräulein, die ihr dann antwortete, es wäre vor einiger Zeit abends nach 10 Uhr ein anständig gekleideter junger Mann durch den Garten gegangen und man könnte doch gar nicht wissen, was der im Schilde führte, er würde ja wahrscheinlich bei passender Gelegenheit einbrechen und stehlen wollen, und um dieses zu verhüten, hätte der Herr zwei Schutzleute jede Nacht im Garten postieren lassen. Nach der abgelaufenen halben Stunde kam der Herr nach Hause, und auch der Schutzmann stellte sich wieder ein. Sie verhandelten auf dem Flur, und Margret hörte unterm Treppenvorsprung alles mit an. Der Schutzmann wurde mit klingender Münze und dem Bescheid, bis auf weiteres noch immer nachts im Garten aufzupassen, entlassen. Margret hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun, als ihrem Blumenspender eine Karte zu schreiben, er möchte um alles in der Welt nur keine Blumen abends in den Park bringen, da er in Gefahr käme, »verschüttet« zu werden. Die Schutzmänner hörten wir noch einigemal des Nachts; aber wir fürchteten uns nicht mehr, im Gegenteil, wir fühlten uns sehr geborgen. Eines Morgens, der Herr hatte schon sein lautes, anhaltendes Klingeln besorgt und ich das noch lautere Auf- und Zumachen der Tür, wir waren noch mit dem Ankleiden beschäftigt, als wir wieder die murmelnden Männerstimmen hörten. Ich blies schnell die Lampe wieder aus (es war im Spätherbst, wo es um 51/2 Uhr noch dunkel ist) machte das Fenster auf und frug in barschem Ton: »Wer da?« »Konstabler,« bekam ich zur Antwort. »Was wollen Sie denn hier?« sagte ich. »Sie stören uns immer im Schlaf und machen uns gruselig mit ihren murmelnden Stimmen und schlürfenden Tritten.« »Ja, Fräulein, wir sind von Herrn Möller beordert, im Garten aufzupassen; denn es ist hier ein verdächtiger junger Mann gesehen worden.« »Ach so, na bemühen Sie sich nur nicht weiter, Sie finden doch nichts, es war ja einer von unsern Verehrern, und der ist längst gewarnt.« »Siehste, August,«[24] meinte der eine Schutzmann zum andern, »ick habe dat ja gleich gesagt,« und lachend zogen sie ab. Wie Margret an diesem Morgen das Kaffeewasser hinaufbrachte, ging der Herr mit auf dem Rücken verschränkten Armen ungeduldig im Zimmer auf und ab. Das war immer ein Zeichen, daß er noch was zu sagen hatte. Als Margret das heiße Wasser in den Kessel gegossen hatte, stellte er sich vor sie hin und sagte: »Wat hebbt Ji denn all so frö för'n Unnerholung hatt?« Margret in ihrer kecken Art, sagte ihm, daß es Konstabler gewesen seien, die Doris mal ordentlich auf'n Schwung gebracht hätte, da sie uns immer in unsrer Ruhe störten. Er hat dann geknurrt: »verflixten Deerns«, und seine Wandrung fortgesetzt. Wir haben von da an keine Konstabler wieder in unserm Garten gehört; aber die Konstabler drohten uns noch oft mit dem Finger, wenn wir uns am Fenster blicken ließen. Die ganze Geschichte hat uns viel Spaß gemacht.


Das Weihnachtsfest verlief sehr gut für uns. Die Herrschaften waren viel bei ihren verheirateten Kindern, und so konnten Margret und ich mal nach Herzenslust singen. Zumal wir mit unserm Weihnachten sehr zufrieden waren; denn wir waren noch nicht so verwöhnt wie heute die Mädchen. Wir bekamen abends auch Fisch, wenn auch keinen Karpfen, zu essen und sogar eine Flasche Mosel dazu. So ein großartiges Essen waren wir in diesem Hause ja garnicht gewohnt. Es ging natürlich vom Herrn aus. Das wußten wir gleich. »Die Madam,« sagte Margret, »hätte sich ja lieber den kleinen Finger abgebissen, als uns eine Flasche Wein gegeben.« Bald nach Weihnachten mußten wir nun ja an unsre Kündigung denken; denn kündigen wollten wir beide, das stand fest. Wir hatten keine Lust, im Sommer wurmstichiges Obst und verschimmeltes Gemüse zu essen und im Winter auf den Ofen zu kriechen, nur um nicht zu erfrieren. Mir wurde das Kündigen sehr schwer gemacht dadurch, daß Frau Möller mir mehrmals sagte, daß sie dächte, wir blieben noch recht lange[25] zusammen, da ich mich so gut in ihre Kochmanieren hineingearbeitet hätte. Ich hatte dann nicht den Mut, ihr das Gegenteil zu sagen. Am 1. Februar mußte es aber geschehen. Margret und ich saßen beim Frühstück, als Frau Möller zum Rausgeben herunter kam. Kurz entschlossen brachten wir unser Vorhaben vor. Daß sie einen Kopf so rot wie Feuer kriegen und uns mit furchtbar großen Augen anstieren würde, wußten wir im voraus. Sie blieb sogar einige Minuten sprachlos. Diese Zeit benutzte Margret, um zu verschwinden. »Ja,« meinte sie dann endlich, »Margret wollte ich doch auch kündigen; denn die ist in letzter Zeit sehr frech geworden; aber ich wollte dich behalten. Warum willst du denn fort? Besinn' dich bis morgen eines Bessern und bleibe, hörst du?« Am andern Tage war meine Gesinnung aber noch dieselbe. Ich wollte fort, und dabei blieb's. Von der Zeit an gab's wieder allerlei unangenehme Aufzüge. Nie erlaubte sie uns, daß wir uns einen Augenblick am Tage freimachten, um uns einer Herrschaft vorzustellen. Dazu hätten wir unsern freien Abend, sagte sie. Ich sagte ihr dann, daß es aber nicht immer abends so spät mehr paßte, und daß in acht Tagen ja auch die Stellung, die man in Aussicht hätte, meistens schon besetzt sei. Das wäre nicht ihre Sache, gab sie mir kurz zur Antwort und fügte noch hinzu: »Schickt mir nur ja keine Dame auf die Tür zum Zeugnisholen. Ich kann nur von euch sagen, daß ihr frech seid und weiter nichts.« »Sie scheinen das achte Gebot nicht zu kennen,« entgegnete ich ihr, »das da heißt: ›Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten!‹ und falsch wäre es, wenn sie nur das von uns sagen würde. Ich rate Ihnen, das nicht zu tun. Übrigens haben Sie selbst uns immer in die Lage versetzt, ›frech‹ werden zu müssen, wie eben auch jetzt. Sie haben uns zu scharfer Entgegnung gereizt.« »Solches mir zu sagen, geht über die Hutschnur,« meinte sie. »Wie so manches andre noch mehr hier im Hause,« vollendete ich den Satz. An diesem Tage hielt sie sich nicht lange auf in der Küche. Komischerweise brauchten[26] Margret und ich beide kein Zeugnis. Margret kam zu Herrschaften, die mit den Herrschaften ihrer Schwester bekannt waren und die mieteten sie auf deren Auskunft. Ich wurde von unserm Krämer bei einer Herrschaft empfohlen, die mich auf dessen Aussage hin nahm. Daß meine zukünftige Herrschaft mir sehr zusprach, konnte ich nicht sagen; aber ich mußte schon zufrieden sein, ohne Schererei mit Frau Möller Stellung erhalten zu haben. Nach längerer Zeit frug Frau Möller, ob wir schon Stellung hätten. Wir sagten ja. Aber sie wollte nun auch gern wissen, wo? Wir sagten ihr auch das. Obgleich, wenn wir »frech« sein wollten, wir ihr eine ganz andre Antwort gegeben hätten; denn sie hatte ja nichts dazu getan. Es schien sie auch sehr zu wundern, daß wir ohne ihr Zutun gemietet waren. Einige Tage später frug der Herr mich: »Na, du kömmst nach Frau Sparr?« »Ja,« antwortete ich. »Na, mien Deern, denn kümst du na 'n schönen Satan hen, dat kann ick di seggen, de kenn ick.« Es war gerade nicht angenehm für mich, solches zu hören. Ich stellte den Krämer noch darüber zur Rede, der machte mir wieder Mut. Am meisten tat mir bei diesem Wechsel leid, daß ich mich von Margret trennen mußte. Wir hatten Freundschaft geschlossen und waren uns innig zugetan. Ihr frisches, muntres Wesen half uns über manches Unangenehme weg. Unser »söter Peter« war auch garnicht mit unserm Weggehen einverstanden. Am letzten Tage haben wir uns noch sehr über ihn amüsiert. Unter Schluchzen und Weinen nahm er Abschied von uns und drückte immer wieder sein rotes Taschentuch an seine Augen und versicherte uns, er würde sterben vor Sehnsucht. Das konnte er so lebenstreu machen, als wenn er es wirklich so meinte. Wir kannten ihn besser. Er war ein Komiker durch und durch. An der Pforte zog er nochmals sein Taschentuch, drückte es an die Augen und ließ es dann hoch erhoben wie ein Banner in den Lüften wehen, so lange wir ihn sehen konnten. Wir haben gelacht, bis uns die Backen weh taten. O, schöne Jugendzeit! Man sollte sie keinem jungen Leben verkümmern! Der erste Tag im[27] Monat Mai sollte uns zu unsrer neuen Herrschaft bringen. Grünmann und Brotmann waren bestellt zur bestimmten Zeit, um unsre Sachen zu befördern; denn Margret und ich wollten nicht nacheinander, sondern miteinander das »stille« Haus verlassen.

Quelle:
Viersbeck, Doris: Erlebnisse eines Hamburger Dienstmädchens. München 1910, S. 3-28.
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