III. Teil.

[76] Wieder begleitete mich der Segenswunsch meiner lieben Mutter! Möge er sich doch erfüllen! Einen ehrlichen Willen brachte ich dazu mit. Nach 8 Tagen konnte ich meiner Mutter einen zufriedenen Bericht erstatten; es ging mir hier recht gut. Herr und Frau Nielson waren ein vergnügtes, echtes Hamburger Ehepaar, das auch gerne seine ganze Umgebung lustig und heiter sah. Arbeit war natürlich genug vorhanden, das kann ja auch gar nicht anders sein, wo drei kleine Kinder und ein ziemlich geräumiges Haus vorhanden sind. Aber hier bewährte sich das Wort: Lust und Liebe zu einem Dinge macht alle Müh' und Arbeit geringe. Wir hatten hier eine menschenwürdige Behandlung, gutes Essen und Trinken und wie die Dame merkte, daß ich auch ohne ihr Zureden meine Pflicht tat, ließ sie mir in vielen Sachen freie Hand, und durch dies entgegenkommende Vertrauen fühlte ich mich frei und froh; es spornte mich an zu immer größerem Fleiß und größerer Anhänglichkeit an den Haushalt. Die Kinder, welche zuerst schüchtern[76] und von ferne standen, wurden bald meine Vertrauten. Der älteste, Paul, war etwas ernst veranlagt, hatte auch viel mit der Schule zu kämpfen; das Lernen fiel ihm nicht allzu leicht, und er hat mir dann immer so sehr leid getan, wenn er ängstlich mit der nicht allzu gut ausfallenden Zensur nach Hause kam. Das zweite Kind war ein kleines niedliches Mädchen von fünf Jahren. Gertrud hieß sie, wurde aber immer Trudel genannt, und nun erst das Nesthäkchen, ein allerliebster Bube von zwei Jahren mit hellblonden Locken und großen braunen Augen, Alli war sein Kosename. Nie habe ich später ein so hübsches Kind wieder gesehen. Er war ein kleiner zutraulicher Bengel; wie wir uns nun schon recht gut miteinander bekannt gemacht hatten, unterließ er es nie, mich jeden Morgen, wenn er fertig angezogen war, in der Küche zu begrüßen, frug aber immer erst an, ob er wohl angenehm wäre. Er stand dann oben an der Treppe, sich mit beiden Händchen krampfhaft festhaltend und rief: »Dodo, Dodo, Alli nunter gomm darf?« Bekam er dann eine bejahende Antwort mit dem Bemerken: »Aber Alli muß sich hübsch festhalten, sonst fällt Alli die Treppe hinunter,« kam er, so schnell es seine kleinen Beinchen erlaubten, die Treppe herunter; dabei sagte er dann fortwährend: »Alli fes hatten, Alli fes hatten (Alli fest halten).« Dann mußte ich natürlich seinen feinen Kittel, seine saubere Schürze und blankgeputzten Stiefel bewundern. Wenn das geschehen war, sagte er: »Nu Alli Dodo helfen.« Dann hatte ich schon irgend kleine Gegenstände für ihn, die er an ihren Platz befördern mußte. Dabei fühlte sich der kleine Kerl dann so wichtig, daß es spaßig war, ihm zuzusehen. Endlich meinte er dann: »Alli Mami – hin, Mami – weint – Alli – weg,« und mit seinem: »Alli fes hatten« stieg er dann wieder die Treppen hinauf. Alle 14 Tage hatte ich Kinderzeugwäsche, die andere kam zum Bleicher. An solchem Tag oder wenn der Schornsteinfeger da gewesen war, habe ich dann wohl manchmal gesagt. »Heute hat Dodo keine Zeit, heute muß Alli oben bleiben.« Später[77] brauchte ich nur zu sagen: »Morgen kann Alli runter kommen,« dann ergänzte er schon: »Heute Dodo wasch, warze Mann da is, Alli nicht nunter gomm!« Drollig waren seine Einfälle und sein Geplauder; ich habe mich sehr häufig gewundert, daß das junge Mädchen es langweilig fand bei Kindern; ich mochte mich so gerne mit ihnen beschäftigen. Gingen Herr und Frau Nielson aus, was recht häufig vorkam, dann baten sie mich stets, doch nach oben zu gehen, wenn es meine Zeit erlaube, die Kinder möchten so gern in meiner Gesellschaft sein. Ich tat es recht gerne, dann haben wir uns immer »großartig amüsiert«, wie Paul sich ausdrückte, zuletzt gab's dann noch ein »Büxentheater«, auch Pauls Erfindung. Wenn also die Zeit des Zubettgehens gekommen war, und die Kinder in ihren weißen Nachthöschen steckten, die bloßen Füße mit weichen Schuhen bekleidet, begann das Theater. Es wurde marschiert, stillgestanden, Kehrt gemacht, und schließlich tanzten sie, einzeln und zusammen, dabei machten sie so possierliche Bewegungen, daß selbst das junge Mädchen mitlachen mußte, das sich sonst ziemlich gelangweilt benahm. Und glücklich und zufrieden gingen sie in ihre weichen Bettchen. Hatten sie Geburtstag, überraschte ich sie stets mit einer ganz kleinen Aufmerksamkeit zu zehn Pfennig, legte es des Morgens in ihren Trinkbecher, und die Freude war immer groß, ein Kinderherz ist ja so leicht erfreut. Auch die Eltern waren vernünftig und faßten es wohlwollend und in dem Sinne, wie es gegeben wurde, auf. Die Kleinen ließen sich's aber auch nicht nehmen, an meinem Geburtstag mich mit einem Geschenk zu überraschen. Sie kamen dann alle drei mit einem Paket im Arm zu mir in die Küche, brachten allerliebst ihren Glückwunsch dar und warteten, bis ich die Sachen, die sie mir gebracht, genügend gelobt hatte, und wie strahlten dann ihre Augen in dem Bewußtsein, ein gutes Werk vollbracht zu haben. Ich versprach ihnen dann immer zu ihrem Geburtstag einen schönen, süßen Nachtisch auf den Tisch zu bringen, dann trotteten sie wieder ab. Und erst am Ostermorgen war es eine helle[78] Freude in meiner Küche; ich besorgte mir dann eine Tüte kleiner Ostereier, und versteckte diese, fein säuberlich in Papier gewickelt, hinter Tisch und Schrank, hinter Stuhl und Kasten; es machte ihnen, so wie mir, sehr viel Spaß. Frau Nielson hat mir gesagt, daß den Kindern das Eiersuchen in der Küche, obgleich es nur kleine einfache waren, ebenso sehr erfreute, als das Suchen nach den großen, viel hübscheren Eiern, und Paul hat einmal altklug gemeint: »Mama, solche Köchin wie die Dora haben wir noch garnicht gehabt, die soll immer bei uns bleiben, sie macht immer viel Spaß mit uns.«

Wenn Frau Nielson sich nun wohl auch keine Köchin zum »Spaßmachen« hielt, so schien sie doch auch mit meinem Bleiben einverstanden. Auch ich war gern in diesem Hause, man fühlte hier nicht so sehr den Standesunterschied, weil Herr und Frau Nielson immer freundlich zu uns waren, und ganz besonders stand ich mit Frau Nielson auf vertrautem Fuße. Ich kannte bald ihre ganzen Familienverhältnisse und wußte, wer gern gesehen und wer weniger beliebt war. Eine besondere Abneigung legte sie für eine Schwägerin, die Schwester ihres Mannes, an den Tag, obgleich diese mir sehr sympathische Dame ihr stets mit gleicher Freundlichkeit begegnete. Dagegen genoß eine Dame aus Freundeskreisen ihre volle Gunst. Erst viel später konnte ich mir diese verschiedenen Gesinnungen erklären. Die Schwägerin, eine ebenso hübsche und graziöse Erscheinung wie Frau Nielson, war ihr im Wege im Verkehr mit der Herrenwelt, dessen ausgesprochener Liebling sie war. Sie mochte wohl einsehen, daß sie in der hübschen, immer heiteren Schwägerin eine Rivalin fand. Ganz anders mit der korpulenten, auch im Verkehr schwerfälligen Freundin, von dieser hatte sie nichts zu fürchten und deren Gemahl war der eifrigste Bewunderer ihrer Vorzüge. Daß ihr die Schmeicheleien dieses immer süßlich lächelnden Herrn so sehr gefielen, konnte ich nicht[79] begreifen, zumal Herr Nielson ein sehr aufmerksamer, liebenswürdiger Gatte war.

Ich lebte hier ordentlich auf. Frau Nielson schien mit meinen Leistungen in jeder Beziehung zufrieden zu sein und kargte auch nicht mit Anerkennung und Vertrauen, mich spornte es zu immer größerem Fleiß an, und mit wirklicher Lust und Liebe tat ich meine Arbeit. Hier durfte ich auch mal ein Liedchen anstimmen, und wie Frau Nielson merkte, daß ich mich für Gesang und Musik interessierte, hat sie mir manches hübsche Lied mit ihrer klangvollen Stimme vorgesungen und -gespielt. Auch der Herr war musikalisch, überhaupt sehr lebenslustig und fidel, und so sang denn mitunter das ganze Haus. Auch fand ich Gelegenheit, mal ein gutes Buch zu lesen, oder Frau Nielson machte mich aufmerksam auf einen lehrreichen oder auch spaßigen Artikel in der Zeitung, und so gab es Stoff zur Unterhaltung, welche sich doch nicht immer nur um Reinmachen und Kochen drehte. Auch durfte ich mir erlauben, über ihre Toilette ein Wort zu äußern. Sie liebte es, daß ich mich für jedes neuangefertigte Kleid interessierte. Meine Kritik konnte aber immer nur lobend ausfallen; denn sie verstand es, sich elegant und schik zu kleiden. Auch uns Mädchen wünschte sie »hübsch« angezogen. Alle Kleider und Schürzen schenkte sie uns; wir bekamen eine sehr gute Weihnachtsbescherung, und alles was sie schenkte, war vom Besten. »Damit Sie Nutzen und Freude daran haben,« pflegte sie zu sagen.

Im Sommer durften wir unsere freie Zeit auch im Garten zubringen, sogar im Vorgarten, damit wir die Tür beobachten konnten. »Die Laube ist ja wohl ziemlich dicht,« meinte der Herr, »denn sonst würden sich ja gar zu leicht Liebhaber anfinden für unsere feschen Mädels, und wir hätten das Nachsehen« und dabei lachte er dann selbst am meisten über seinen Witz. So ganz Unrecht hatte er nicht, vonwegen dem »Liebhaber«. Ein solcher hatte sich bald eingefunden; es war ein älterer Herr im Zylinder, der uns jeden Abend durch Lüften seiner »hohen« Kopfbedeckung begrüßte.[80] Dann eines Abends blieb er an der Pforte stehen und bat uns, doch mal etwas näher zu kommen, er hätte uns was zu sagen. Erst weigerten wir uns noch, aber na, der jugendliche Übermut gewann die Oberhand, und wir waren ja zu zweien, uns konnte nichts passieren. Er begrüßte uns sehr ehrerbietig; die Kratzfüße und Bücklinge hätten genügt, eine Exzellenz zu empfangen. »So,« meinte er, »nun kann man sich doch mal ein wenig näher kennen lernen« (die Anrede war ja gerade nicht exzellenzfähig). Vor allen Dingen wünschte er zu wissen, ob unsere Herrschaft denn auch wirklich verreist wäre; anzunehmen wäre es ja, da wir doch jeden Abend im Garten wären. »Gewiß ist die Herrschaft verreist,« war unsere Antwort, obgleich das Gegenteil der Fall war; es waren sogar einige Damen zum Abendessen geladen, das hinten auf der Veranda eingenommen wurde. Unser Gentleman erzählte uns, daß er am Nachmittage eine Vergnügungstour nach Blankenese gemacht hätte, vom Regen überrascht sei und sein erst eben vorher frisch aufgebügelter Zylinder wieder verdorben wäre. »Mir blieb nichts anderes übrig,« erzählte er weiter, »als ihn bei meiner Rückkehr nach Hamburg abermals aufbügeln zu lassen.« Während dieser Unterhaltung war des Nachbars großer Bernhardiner herangekommen und bellte nun den Erzähler fortwährend an. Der hatte schon einige Male mit seinen gelben Glacees nach ihm geschlagen, aber desto anhaltender kläffte der Hund; es mochte ihm nicht geheuer vorkommen. Unser »Liebhaber« fand es auch ohnedies schon recht ungemütlich an der Pforte und bat um die Erlaubnis, mit uns ins Haus gehen zu dürfen, er wolle uns Gesellschaft leisten und jeden Abend würde er seinen Besuch wiederholen, auch Blumen und Backwerk wollte er uns mitbringen, so viel wir wünschten. Hm, feine Aussichten! Ich gab ihm denn zur Antwort, daß es ja eigentlich nicht erlaubt sei, fremde Herren ins Haus zu lassen; aber mit so einem »ehrwürdigen« Herrn, wie er sei, könnte man wohl eine Ausnahme machen. Aber er müsse erst diesen kläffenden Hund wegbringen; die Leute[81] würden ja durch diesen schon aufmerksam. Das sah er ja auch ein. Er entfernte sich mit dem Hund, der hinter ihm her knurrte, als wenn er ihm nicht viel Gutes zutraue. Wir benutzten diese Zeit, um unsere Eingangstür zu verschließen und die Fenstervorhänge runter zu lassen. Dann begaben wir uns schleunigst nach oben, bewaffneten uns mit gefüllten Wasserkannen und erwarteten hinter den Gardinen das Wiederkommen des sauberen Herrn. Es dauerte länger, als wir gedacht hatten. Aber da! Schnellen Schritts mit einer mächtigen, gefüllten Konditortüte trat er in unsern Garten. O weh, die Tür war verschlossen. Er klopfte, erst zaghaft, dann lauter, er bat, wir möchten doch öffnen, er, unser Beschützer, sei da. Kosenamen ersten Ranges gab er uns, aber nichts erweichte uns. Schließlich forderte er, wir müßten unser Versprechen einlösen. Da, platsch! platsch! kam es wolkenbruchähnlich auf seinen frisch gebügelten Zylinder, unsere Wasserkannen waren leer, und schnell wie der Blitz waren wir vom Balkon verschwunden. Wie ein begossener Pudel, im wahren Sinne des Worts, schlich er von dannen, wütende Blicke flogen nach oben, kicherndes Lachen hallte nach unten. Wir hofften sehr, er würde vor Schreck die »süße Tüte« fallen gelassen haben, aber nichts verriet seine Anwesenheit, nur eine große Wasserpfütze erinnerte an unser Abenteuer. Herrn und Frau Nielson durften wir gern unsern Spaß anvertrauen, auch sie freuten sich, daß wir ihm so heimgeleuchtet.

Wir durften auch den Besuch unserer Verwandten stets annehmen. Meine Schwestern hatten Herr und Frau Nielson persönlich kennen gelernt und waren ihnen freundlich gesinnt, das entnahm ich bald den Äußerungen Frau Nielsons, und ganz besonders schienen sie sich für die jüngere zu interessieren; denn wenn wir irgend einen Besuch des Abends gehabt hatten, frug Frau Nielson mich morgens darauf: »War Ihre Schwester Guste hier?« »Ist das eine fidele Seele,« oder »der sprüht die Lebensfreude aus den Augen.« Solche und ähnliche Bemerkungen[82] hörte ich immer. Es ging aber auch heiter her, wenn sie anwesend war; sie wußte immer etwas Lustiges zu erzählen, und lachen konnte sie so herzhaft heiter, man mußte mitlachen. Einmal, es war an einem Sonntagabend, unsere Herrschaft hatte einige Gäste zum Abendessen, kam meine Schwester Guste ganz besonders aufgeräumt bei uns an. Allerlei drollige Geschichten hatte sie schon zum Besten gegeben. »So,« sagte sie dann, »nun deckt man euern Tisch für die Herrschaft, und dann hab ich auch ganz was Schönes für euch mitgebracht.« Wie wir mit dem Decken fertig waren, mußten wir unsere Augen zumachen, denn wir sollten das Mitgebrachte erst mal riechen, ob wir eine so feine Nase hätten, um dann zu erraten, was es sei. Wir dummen Gänse tun, wie sie wünscht. Ein Irgendetwas hielt sie uns unter die Nase mit den Worten: »Müßt ordentlich aufriechen, sonst erratet ihr's ja nicht.« Wir taten wie uns geheißen, und ich sah dann ein ganz klein winziges Schächtelchen in ihre Tasche verschwinden; aber erraten konnten wir nicht, was darin sei. »Ach, besinnt euch nur, es wird euch schon einleuchten,« meinte sie. Hatschi! meinerseits, Hatschi! Hatschi! von meiner Kollegin. »Habt ihr euch aber erkältet!« Hatschi! Hatschi! ein unbändiges Kribbeln in der Nase, das verschmitzt lachende Gesicht unserer Auguste und das fortwährende Niesen ließen uns bald das Richtige erraten. Sie hatte uns mit Niespulver traktiert und gerade heute, wo Besuch da war! Es konnte jeden Augenblick geklingelt werden, um die Teller zu wechseln, und lachen mußten wir, ob wir wollten oder nicht; denn bei jedem Hatschi wollte Guste sich vor Vergnügen ausschütten. Da klingelt's! Wie mochte es verlaufen, mir war doch etwas beklommen zu Mute. Ich mußte die Herrschaften bedienen; denn meine Kollegin war noch zu neu und unerfahren im Servieren. Hatschi! hatschi! ging's die Treppe rauf, Augustes Lachen tönte mir nach. Mit einem Hatschi! trat ich ins Eßzimmer, Tränen traten mir in die Augen. Das Pulver wirkte großartig; bei jedem zweiten Teller, den ich fortnahm[83] mußte ich niesen. Einer der Herren hatte es mir schon mal nachgemacht, jetzt auch Herr Nielson. Die ganze Gesellschaft wurde aufmerksam; ich wollte mich entschuldigen, aber ich kam nicht fertig damit. Hatschi! Hatschi war das meiste, was ich hervorbrachte. Alle Gäste brachen in Lachen aus. »Ist die Guste wohl da?« frug Herr Nielson, mit Nicken des Kopfes und einem Hatschi antwortete ich. »Ach so, dann kann ich mir ja denken, was die ausgeheckt hat.« »Ein kreuzfideles Mädchen, die Guste, erläuterte er seinen Gästen, und sein schallendes Haha! konnten wir unten vernehmen. Beim Abschiednehmen versicherte uns Auguste, sich lange nicht so gut wie heute abend amüsiert zu haben. Wir glaubten es ihr, denn gelacht ward sehr viel, und lachen war ihr Element, selbst uns Geprellten hatte es sehr viel Spaß gemacht.

Ich war nun schon einige Jahre in diesem Hause. Frau Nielson ließ mir mehr und mehr freie Hand, ich konnte mir meine Arbeit einrichten, wie es mir paßte und auch beliebte. Sie sah wohl ein, daß sie nicht dabei zu kurz kam. Sie ging denn auch mehr denn je ihrem Vergnügen nach. Seit einiger Zeit nahm sie Gesangunterricht, sie lief Schlittschuh und übte zu Theateraufführungen; alles dieses nahm so ziemlich ihre Zeit in Anspruch. Da wurde ich krank, die Influenza packte mich dermaßen, daß ich wohl fühlte, ich dürfte eigentlich nicht das Bett verlassen, aber die Hausstandssorgen ließen mir keine Ruhe, auch hatte Frau Nielson gerade diese Zeit sehr viel vor. Ein Ball ihres Vereins sollte bald abgehalten werden, und deswegen waren fast jeden Tag Proben für die Aufführung, worin Frau Nielson die Hauptrolle, die der Liebhaberin, zuerteilt war. Fremde Hilfe hatten wir nur bei großen Gesellschaften gehabt, also auch momentan keine Aushilfe an der Hand, die mich hätte vertreten können. Das Kleinmädchen, im Kochen gänzlich unerfahren, hatte mit ihrer Arbeit genug zu tun. Es blieb mir nichts übrig, als meine Obliegenheiten selbst zu besorgen, so schwer mir es fiel. Meine kranken Glieder waren kraftlos, der Kopf schmerzte, und fieberndes[84] Blut jagte durch meine Adern. Frau Nielson sah wohl, daß ich sehr krank sei, meinte aber, es ließe sich ja nichts dabei machen, ich solle nur alle Arbeit liegen lassen, wenn ich nur Essen besorgen wolle, sie hätte jetzt leider keine Zeit mir zu helfen, die Krankheit gebe sich auch in einigen Tagen wieder, sie fände, ich sehe jetzt schon etwas besser aus, und man müsse sich nicht so leicht geben usw. Ich hörte aus ihren Reden, daß sie nicht gewillt war, sich nach Aushilfe umzusehen und tat mein möglichstes, um den Haus stand, den ich lieb gewonnen, in Ordnung zu halten. Zwei Wochen lang fühlte ich mich sehr elend, morgens beim Anziehen hatte ich ohnmachtähnliche Anfälle, Schweiß brach aus allen Poren, nur ganz allmählich konnte ich mich so weit aufraffen, um mühselig meine Arbeit zu verrichten. Dann wurde es langsam etwas besser, aber in den Beinen behielt ich eine große Schwäche und Schwere. Nach einiger Zeit bemerkte ich zu meinem Schrecken, daß ich des Abends ganz dick geschwollene Kniee hatte, die schließlich auch morgens nicht mehr dünne geworden waren. Ich konnte die Treppe nicht rauf noch runter kommen, und Frau Nielson, der ich meine Not geklagt, meinte, es wäre etwas Schwäche von der Krankheit und würde sich, ebenso wie diese in kurzer Zeit verlieren. Es trat aber nicht so bald, wie ich hoffte, Besserung ein, im Gegenteil, es stellten sich auch heftige Schmerzen ein. Meine Geschwister rieten mir, doch einige Wochen Urlaub zu nehmen und wenn es nötig wäre, meine Stellung aufzugeben, um zur Erholung zu meiner Mutter zu gehen. Wohl hätte ich es gerne getan und wußte und fühlte auch, Ruhe tat mir gut, aber ich mochte es meiner Herrschaft oder vielmehr meiner Dame nicht antun; denn es hätte eine große Umwälzung im Hausstand verursacht. Frau Nielson hätte möglicherweise selbst kochen müssen und gerade jetzt, wo die Vergnügungszeit vor der Tür stand! Nein! ich schwieg, es würde sich hoffentlich auch so wieder geben. Mein Bruder und seine liebe Frau, welche immer sehr besorgt waren um das Wohl und Wehe anderer, nahmen die[85] Sache ernster. Da weder von mir noch von Seite meiner Dienstherrschaft etwas zu meiner Erleichterung geschah, hatte meine Schwägerin an Frau Nielson einen Brief geschrieben, worin sie bat, mich zum Arzt zu schicken und mir für grobe, schwere Arbeit Hilfe zu geben, da ich sonst wahrscheinlich in kurzer Zeit wegen Krankheit meine Stellung aufgeben müsse. Mit diesem Brief kam Frau Nielson, sichtlich beschämt, zu mir in die Küche. Daß es mit meinen Beinen noch so schlimm stände, hätte sie garnicht gedacht, natürlich solle ich zum Arzt und mich ganz nach dessen Verordnung verhalten. Der Arzt sagte mir, daß die Adern an den Beinen sämtlich entzündet seien, wodurch die Schmerzen entständen, und wenn ich mir nicht ernstlich Ruhe nehmen würde, Krampfadern entstehen würden. Zwei Tage sollte ich liegen und durch fortwährende Umschläge mit kaltem Wasser die Entzündung behandeln, am dritten Tag wollte der Arzt mir dann Binden anlegen. Das war leichter verordnet als auszuführen. Der Waschtag fiel gerade und zum Überfluß hatte sich der Schornsteinfeger angemeldet. Eine Frau zum Waschen und Reinmachen war nicht aufzustöbern, wie Frau Nielson mir sagte, oder sie hatte sich auch nicht sonderlich darum gekümmert. Genug, ich mußte die Arbeit, wie immer, selbst besorgen. Der Arzt machte ein böses Gesicht und sagte mir auf den Kopf, daß ich nicht gelegen und keine Umschläge in Anwendung gebracht hätte. Binden könne er bei solcher Entzündung nicht anlegen, und wenn ich nun nicht seinen Verordnungen nachkommen würde, wäre es am besten, er schicke mich ins Krankenhaus. Mit diesem Bescheid kam ich nach Hause, das zog. Noch am selben Tag hatte Frau Nielson eine Aushilfe engagiert. Es war eine liebe, gute Frau, die ich in der kurzen Zeit unseres Beisammenseins achten und lieben lernte. So wurde mir die peinliche Zeit meines Nichtstuns durch ihre Anwesenheit erträglicher. Mein Leiden hat sich ja gebessert, aber leider war es nicht ganz beseitigt, bei anstrengender Arbeit, ganz besonders beim Waschen, Plätten und langem Stehen am Herd machte es sich unangenehm bemerkbar.[86]

Herr und Frau Nielson machten in diesem Winter sehr viel Vergnügungen mit, kaum daß sie einige Abende in der Woche zu Hause waren, und so fanden denn auch die lieben Kinder recht oft Gelegenheit, unter meiner Regie ihr beliebtes »Theater« aufzuführen; je kleiner, je niedlicher führten sie auf. – Ich hatte wegen meiner kaum überstandenen Krankheit wenig mitgemacht, nur gegen den Frühling wurde ich zu einem kleinen Tanzkränzchen eingeladen, und ich hatte wohl Lust hinzugehen. Als ich Frau Nielson um Erlaubnis dazu bat, wurde sie mir gewährt. Sie bemerkte aber gleichzeitig dabei: »Denken sie an Ihre kranken Beine.« Sonderbar, den ganzen Winter, bei all meiner Arbeit – große Gesellschaften und Feste waren im Hause abgehalten worden – war niemals meine Krankheit auch nur erwähnt worden. Der Frühling war gekommen. Schöne Sonnentage pflegen Laune und Gemüt des Menschen in heitere Stimmung zu versetzen. Anders bei Frau Nielson; die sonst immer lustige war gereizt und unzufrieden. Der Winter mit gar zu vieler Abwechslung ist ihr auf die Nerven gegangen, dachte ich. Der Herr mochte derselben Ansicht sein und beschloß, seine liebe Frau auf Reisen zu schicken, und zwar ohne die Kinder, damit sie wirkliche Ruhe hätte. Ganz alleine aber wollte sie nicht reisen und so wurde denn die schon erwähnte gute Freundin gebeten, mitzukommen. Und so geschah es, im Monat Juni dampften sie ab nach dem schönen Harz. In einem Brief an ihren Mann hatte sie für mich einige Zeilen beigefügt, ich möchte ihr so allerlei besorgen, was da schlecht zu haben war, und es ihr schicken; u.a. schrieb sie, daß es da ja herrlich zu leben wär; aber sie glaubte nicht, daß ihre Stimmung sich bessere, sie fühle sich bedrückt und denke viel an zu Haus, obgleich sie ihren Mann und ihre Kinder in meiner Pflege gut aufgehoben wüßte. Zum Schluß teilte sie mir noch mit, daß ich von jetzt ab 5 Thaler Lohn mehr haben solle und sie hoffe, daß wir noch recht lange zusammen blieben. In meinem Dankschreiben erwähnte ich noch manches Drollige[87] von ihren Kindern, damit sie sich freue, sie hatte doch auch mir eine Freude bereitet, und schloß mich der Hoffnung auf ein langes Zusammenbleiben an.

Wir hatten das Jahr 1892; nicht nur der Hamburger, wohl manch anderer Mensch wird sich dieser schrecklich traurigen Zeit erinnern. Frau Nielson war noch nicht allzu lange von ihrer Erholungsreise zurück, als der Herr eines Mittags mit der Nachricht nach Hause kam, die Cholera sei hier ausgebrochen. Es wurden umfangreiche Vorrichtungen getroffen, die geeignet waren, vor Ansteckung zu schützen und ganz besonders mußte mit dem Wasser vorsichtig umgegangen werden. In unserem Hause wurde kein Tropfen ungekocht verbraucht, den ganzen Tag hatte ich Töpfe auf dem Feuer, um so viel wie möglich in Vorrat zu kochen. Es gehörte nicht wenig dazu, denn nicht nur Wasch- und Trinkwasser, sondern auch Wasser zum Reinmachen mußte gekocht werden. Doch diese Mühen und Arbeiten waren gering gegen die innere Aufregung. Die Zeitungen berichteten traurige Szenen, die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle wuchs von Tag zu Tag. In ziemlicher Nähe von uns war auf einem freien Platz eine Baracke für die Erkrankten errichtet, und es fuhren fortwährend Droschken mit Cholerakranken vorbei. Dann die Angst um die lieben Angehörigen, es könnte einer von dieser schrecklichen Seuche erfaßt werden, und auch noch die Sorge um sich selbst, man könnte von Unwohlsein befallen werden und man würde dann erbarmungslos als choleraverdächtig zwischen diese Kranken gebettet werden (denn man konnte täglich solche Vorkommnisse lesen) versetzte einen in einen aufgeregten, fiebernden Zustand. Geschäftsleute wurden am Fenster abgefertigt, damit man nicht in nähere Berührung mit ihnen kam. Ausgehen durften wir natürlich nicht, man hatte auch keinen Mut dazu. Nur einmal hatten meine Schwester und ich uns verabredet, um einmal bei unserem Bruder vorzusprechen, aber welcher Schreck durchfuhr uns, als uns an der Tür gesagt wurde, er sei[88] leicht an Cholera erkrankt, es wäre wohl besser, wir kämen nicht näher mit ihm in Berührung. Nein, das durften wir nicht, denn das hatten wir unserer Herrschaft versprochen, uns von jedem, wenn auch nur leicht Erkrankten fernzuhalten. Schweren Herzens gingen wir nach Hause. Gottlob bekamen wir am nächsten Tag günstige Nachricht, die Krankheit hatte nachgelassen. Einige Tage später kam unser Herr des Mittags per Droschke nach Hause, auch ihn hatte die Krankheit gepackt, wenn auch nur gelinde. Die größte Vorsicht war auch hier geboten, er wurde, ebenso wie mein Bruder, in Betten gepackt und mußte schwitzen. Das Mittel bewährte sich gut, es trat bald Besserung ein. Aber welch bange Besorgnisse man hegte, können nur die ermessen, welche selbst Krankheit in dieser schrecklichen Zeit in ihrer Familie hatten. Erleichtert atmete jeder auf, wie es hieß, die Epidemie ließe nach; aber Hamburg hat noch lange, lange unter dem Druck gestanden, den diese Seuche verursachte. Mögen solche Zeiten nie wiederkehren!

In diesem Jahr hatte mich der Weihnachtsmann sehr reichlich beschenkt. Ich fand alles auf meinem Platz, Kleiderstoffe, Wäsche, Schürzen und noch vieles mehr und alles gute Sachen. Ein Kasten mit hübschen Taschentüchern fehlte auch nicht; ich hatte sie schon angesehn und mich gefreut über deren Feinheit; aber Frau Nielson kam nochmals auf die Taschentücher zurück, ob ich sie denn schon auseinandergenommen hätte. Ich fand es sonderbar, denn mich interessierte das feine Tuchkleid weit mehr; aber, um nicht gleichgültig oder gar undankbar zu erscheinen, willfahrte ich ihrem Wunsche. Wer kann sich meine Freude vorstellen, als ich unter den Taschentüchern ein Etui vorfand mit einer hübschen Uhr nebst Kette! Ich war sprachlos. Meine Frage: »Soll ich die haben?« muß sehr komisch gewirkt haben; denn sie neckten mich noch lange damit. Frau Nielson flüsterte mir zu: »Sie wissen, eine arbeitsreiche Zeit steht Ihnen bevor, und damit Sie nicht verzagen, bereite ich Ihnen die Freude. Aber ich will[89] nicht hoffen, daß Sie mich bald verlassen; schon zweimal schenkte ich Köchinnen eine Uhr, und beide haben bald nachher den Dienst verlassen.« Ich beruhigte sie, daß es bei mir nicht eintreten werde, wenn nicht besondere Umstände dazu veranlaßten.

Mitte Januar wurden Herr und Frau Nielson durch die Geburt eines Söhnleins beglückt; am Vormittag hielt er seinen Einzug. Am Tage vorher war eine Frau Lembke eingetroffen, die die Pflege von Mutter und Kind übernehmen sollte; sie war in der Familie wohl bekannt. Paul hatte mich des Morgens, ehe er in die Schule ging, gefragt, ob Frau Lembke heute wieder fortginge, oder ob sie noch länger bliebe. Ich gab ihm keine genaue Auskunft. Als er nun am Mittage nach Hause kam, trat er erst zu mir in die Küche und erkundigte sich, was es Schönes zu essen gebe. Als ich ihm darüber Bescheid gegeben hatte, fragte ich: »Paul, nun rate einmal, was heute bei uns angekommen ist?« »Hm,« gab er zur Antwort, »ein Kind! denn wo die Lembke ist, da kommen immer Kinder!« Die Antwort hatte ich nicht erwartet. »Junge,« sagte ich, »bist du aber klug! Aber du bist doch wohl neugierig, ob es ein Bruder oder ein Schwesterlein ist.« »Nein!« gab er prompt zurück, »die sehn ja doch alle gleich aus.« Allzu freundlich schien er dem kleinen Erdenbürger nicht gesinnt. Herr und Frau Nielson haben sich köstlich amüsiert über den weisen Ausspruch ihres Ältesten. Ach, das gab Arbeit und Unruhe, vieles fand ich überflüssig, aber weil es gewünscht wurde, habe ich mich gefügt. Es ist eben was anderes, wenn so ein reicher Kaufmannssohn das Licht der Welt erblickt, als wenn ein armer Schlucker auf die Erde kommt.

Sogar unser Haus erwies sich als zu klein, obgleich acht Zimmer vorhanden waren. Das Haus hatte nach hinten ein schrägabfallendes Dach, das sollte ausgebaut werden und würde zwei Zimmer ergeben. Brr, mir graute, denn Bauhandwerker machen immer viel Schmutz, und da alles durch den Keller transportiert werden sollte, kam es mir wohl zu, es wieder fortzuschaffen, hoffte aber[90] sehr, jetzt etwas mehr Hilfe vom Kleinmädchen zu haben; denn es war auch eine Kinderfrau ins Haus gekommen, und zwar dieselbe, die mich in meiner Krankheit vertreten hatte. Wir waren uns sehr zugetan, und sie hätte mir gerne in dieser unruhvollen Zeit etwas abgenommen; aber sie wurde oben zu sehr in Anspruch genommen. Aber manches Späßchen kann ich aus dieser arbeitsreichen Zeit berichten, uns hat es wenigstens Spaß gemacht. Unter all den andern Bauarbeitern war auch der unvermeidliche Maurerarbeitsmann, er mochte wohl 28–30 Jahre alt sein, so ein echter, plattdeutscher Hamburger. »Goden Morgn, Fröln«, begrüßte er mich jeden Morgen. Er schien sich für alles, was bei uns ein- und ausging sehr zu interessieren. Brachte die Post uns was, sagte er natürlich: »Na, hett de Schatz schreben?« Meistens sagte ich ja, der Einfachheit halber. Einmal sagte ich denn: »Schatz hab ich garnicht.« »Wat, Se hemm keen Schatz? dat kün'n S'wohl een'n vertelln, de noch keen Kneub an de Büx hett, awers doch man nich mi, son smucke Deern un keen'n Schatz, gifft ja garnich.« Ein ander Mal, ich hatte einen Brief von meinem Bruder erhalten, frug er mich ganz unvermittelt: »Seggens mol, Fröln, Ehr Liebster is wolln grotes Tier, watt? denn de Handschriff ob den'n Breef säg bannig studeert ut.« Eines Tages, es war ein sehr warmer Frühlingstag, klopfte er bei mir in der Küche an: »Och, Fröln, hem'n 'S woll'n Drubben gekoktes Wooder?« »Gewiß, wölln Se kooles oder heedes Wooder hem?« »Och, kooles, wenn't angahn kann, Se möten nähmlich weten, ik heff ganz schändlich de Cholero hatt, und nu he'k beus Manschetten för ungekoktes Wooder.« Wir hatten zwei weiße Emaille-Eimer, worin immer unser abgekochtes Wasser war. Einem davon gab ich seinen Platz in der Nähe der Tür, damit die Arbeiter sich nach Belieben mit Trinkwasser versehen konnten; denn ich war doch auch häufig oben beschäftigt. Dieses sagte ich unserem »Jan Maat«, wie wir ihn immer nannten; der aber schüttelte mit dem Kopf und sagte: »Ne, Fröln, na[91] Ehr Heiligtum gah ik nich rin, denn düsse widde, blank blitzende Kök is ja dat reine Heiligtum, und Se – Se sünd de Engel darin.« – Die Kinderfrau hatte natürlich täglich Kinderwäsche, die hinten im Garten getrocknet wurde. Eines Tages wehten die Frühlingswinde ziemlich stark. »Jan Maat« klopfte an mein »Heiligtum«: »Och, Fröln, (mit dem Daumen über die Schulter zeigend) dor buten sünd de »Sewjetten« för den'n Jüngsten losgahn, makn' 'S ehr man weller fas, sünst geiht de Wind dormit af.« – An einem Sonnabend meinte er zu mir: »Seggens mol, Fröln, kenn'n Se Lindenau?« »Ne,« sagte ich, »dat kenn' ik nich.« »Aber Se kenn'n doch dat Leed: In Lindenau, dor is de Himmel blau?« »Gewiß, dat kenn ik,« sagte ich. »Jaa, dit Lindenau is min Stammlokal, kam'n Se morg'n man beten hin, denn wüllt wie mol links um de Eck danzen; dor kaamt veel Suppendragoners. – Wat, de kenn'n S' nich, so nennt wie all de ol lütten Kökschen, und de Lüttmaids heet wie Bessens, denn de fegt und püschelt ja denn ganzen Dag son bitt'n rüm.« Bei aller Derbheit blieb er doch immer anständig und gemütlich.

Als wir die Bauperiode hinter uns hatten, gab's wieder was anderes, die drei ältesten Kinder erkrankten an Keuchhusten. Frau Nielson begab sich mit dem Kleinsten zu ihrem Vater, damit der kleine Kerl verschont bliebe. Ich kochte Linderungsmittel aller Art, aber der abscheuliche Husten ließ wenig nach, er quälte die armen Kinder fürchterlich. Auch Frau Nielson kam bald mit dem Kleinen wieder nach Hause, er hatte den Keim wohl schon in sich getragen, und hustete fast noch schlimmer als seine Geschwister.

Hauptsächlich wollte ich hier erwähnen, mit welch aufopfernder Sorgfalt und Liebe die Kinderfrau ihre Schützlinge behütete. Tag und Nacht war sie auf ihrem Posten. Frau Nielson konnte ruhig ihren Vergnügungen nachgehn und tat dies ausgiebig. Einen Abend in der Woche ging Frau Nielson immer in einen Kartenklub und Herr Nielson zum Kegeln. Sie ging[92] schon vor dem Abendessen fort und kam gewöhnlich um 11–1/212 Uhr wieder; der Herr dagegen kam ungefähr um 9 Uhr zum Abendessen und ging dann erst fort. Eines Abends war er erst später zum Essen gekommen, und er war eben fort, da kam Frau Nielson schon nach Hause. Ich hatte im Eßzimmer noch nicht abgedeckt, und es brannte infolgedessen noch Gas. Ihre schlechte Laune hatte ihr ich gleich an der Tür angemerkt, sie hatte ja wahrscheinlich Unangenehmes im Klub erlebt, darum kam sie auch wohl so früh. Unwirsch frug sie dann, warum denn das Gas noch brenne. Ich sagte ihr, der Herr wäre heute Abend sehr spät zum Essen gekommen und ich hätte noch nicht abgedeckt. Sie schien mir nicht zu glauben. Dies beleidigte mich sehr, aber ich schwieg, denn ich mußte ja zugeben, daß der Schein gegen mich war. Sie ging nach oben, da hörte ich sie mit der Kinderfrau auch recht unfreundlich sprechen. Wie konnte sie nur? Eine so pflichtgetreue Frau, die ihr Liebstes hütete, ihre Kinder! Ich war sehr ärgerlich. Sie kam nochmals zu mir ins Eßzimmer und sagte mir deutlich genug, daß sie nicht an meine Worte glaube; denn der Herr wär, noch nie so spät gekommen. Ein Wort holte das andere, und schließlich kündigte ich. Das schien sie nicht erwartet zu haben. Es war Ende August; zum 1. September konnte ich nicht mehr fort, mußte also bis zum 1. Oktober bleiben. Wir hatten also beiderseits Zeit genug, Ersatz zu finden. Die Kinderfrau war untröstlich, daß die Sache so geendet. Auch mir tat es sehr leid, mich von ihr trennen zu müssen. Sie redete mir zu, meine Kündigung bei Frau Nielson rückgängig zu machen, sie wüßte bestimmt, es würde mit Freuden angenommen. Dazu konnte ich mich aber nicht entschließen. Und doch, am dritten Tag nach der Kündigung hatte sie mich durch Bitten und Tränen soweit gebracht. Ich bekam aber von Frau Nielson den Bescheid, daß ich damit leider zu spät käme, sie hätte gestern schon eine andere Köchin gemietet. Es war eine große Niederlage für mich. Zu der Kinderfrau hat sie gemeint: »Ich weiß, wie schwer ihr das[93] gefallen ist, und werde es ihr hoch anrechnen.« Dies Hochanrechnen glaubte ich nun in der wirklich liebenswürdigen Behandlung erblicken zu können, bis ich durch das Kleinmädchen eines Besseren belehrt wurde. Zu der hatte Frau Nielson geäußert, daß sie jetzt doppelt freundlich gegen mich sei, damit es mir so recht leid täte, daß ich fortginge. Durch eine Geschäftsfrau wurde ich bei einer Herrschaft in derselben Straße empfohlen. Dies schien Frau Nielson gar nicht zu passen. Seitdem nahm ihre Freundlichkeit ab; auch die Frau, die mich dort empfohlen, ließ sie es entgelten, indem sie sie abschaffte. Es tat mir furchtbar leid. Es war eine arme Witwe, die sich mit ihren zwei kleinen Kindern redlich ernährte. Dreieinhalb Jahr war ich bei Nielsons gewesen, aber eine solche Gesinnung hätte ich ihr nicht zugetraut. Auch mir glaubte sie noch einen Schabernack antun zu müssen. Noch am letzten Tag hatte ich die Wäsche sortiert, welche nach dem Bleicher sollte; es war immer meine Arbeit, Frau Nielson hatte sich nie um die Wäsche gekümmert. Da mir nun von meiner zukünftigen Dame gesagt war, es wäre gar keine Wäsche im Hause, so hatte ich einige Stücke bei Nielsons mitgegeben; denn wo sollte ich sie behandeln? Ich ging denselben Abend zu meiner neuen Herrschaft, und ich hatte die Wäsche doch auch bei Nielsons Arbeit schmutzig gemacht. Also, es war anderen Tags gegen Abend, da kam das Kleinmädchen von Frau Nielson und brachte mir meine paar Stück Wäsche und sollte dabei bestellen, Frau Nielson hätte keine Lust meine »dreckige« Wäsche waschen zu lassen. Das Mädchen konnte mir noch viel mehr erzählen, was Frau Nielson hinter meinem Rücken noch Mißbilligendes gesagt, doch ich hatte kein Verlangen darnach. Ich war empört und hätte es für unmöglich gehalten, daß eine Dame, wie Frau Nielson, die doch zu den Gebildeten zählen wollte und bis dahin immer die Liebenswürdige gespielt hatte, sich so erniedrigen konnte. Auch meine neue Herrin, Frau Dähn, war höchlichst verwundert und fand es eine »Gemeinheit«.

Quelle:
Viersbeck, Doris: Erlebnisse eines Hamburger Dienstmädchens. München 1910, S. 76-94.
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