1. Besuche überhaupt.

[96] Besuche sind eine Pflicht des Anstandes und der Bildung. Man stattet sie ab, um Bitten vorzutragen, seinen Dank für etwas auszusprechen, Glück zu wünschen sich anderen vorzustellen und sich ihrer Wohlgewogenheit zu versichern. Man unterscheidet Pflichtbesuche und Freundschaftsbesuche. Die ersteren werden gewöhnlich Personen höheren Ranges, die letzteren meistens Personen gleichen Standes und Ranges gemacht. Die Besuche sind unter Umständen sehr wichtig: ein unterlassener Besuch oder die Nichterwiderung eines empfangenen Besuches kann uns nicht nur in den Ruf eines unhöflichen Menschen bringen, sondern uns sogar in unserer gesellschaftlichen Stellung und in unserem Fortkommen schädigen. Ebenso kann das Benehmen bei einem Besuch unter Umständen von ausschlaggebender Bedeutung für uns werden. Wegen dieser Wichtigkeit der Besuche gibt es auch für sie gewisse Regeln, welche ein für allemal genau beobachtet werden müssen.

Schicklich, beziehungsweise notwendig sind die Besuche:[96]

a) Als Antrittsbesuche bei der Ankunft an einem Orte, wo wir ein Amt bekleiden und wirken sollen, zunächst bei den Vorgesetzten, dann bei den Kollegen, sowie bei vornehmeren Persönlichkeiten, mit welchen man gesellschaftliche Beziehungen anknüpfen will, als Besuche bei den Hausgenossen, sobald man eingezogen ist und als Besuche beim Seelsorger, in dessen Pfarrei man gezogen ist. Dient ein Antrittsbesuch nur zu letzterem Zweck, so kann er ebenso gut unterlassen werden, da es dem freien Ermessen des Einzelnen anheim gestellt werden soll, mit wem er in gesellschaftlichen Verkehr treten will; ist der Antrittsbesuch aber ein dienstlicher, d.h. gilt er einem Vorgesetzten, so ist er unerläßlich, wenn man sich nicht in seinem Fortkommen schaden will.

b) Als Abschiedsbesuche, wenn man seinen bisherigen Wirkungskreis verläßt und an einen anderen Ort übersiedelt. Notwendig sind die Abschiedsbesuche wiederum bei Vorgesetzten, schicklich bei allen denen, bei welchen man Antrittsbesuche gemacht hat.

c) Als Gegenbesuch, d.h. als Erwiderung von empfangenen Besuchen. Der Gegenbesuch braucht nicht immer stattzufinden. So ist es gestattet, daß Aeltere gegenüber Jüngeren, Vornehmere gegenüber niedriger Gestellten, Damen gegenüber Herren den Gegenbesuch unterlassen. Ferner ist er nicht notwendig bei intimen und ganz guten Bekannten. Auch Vorgesetzte erwidern einen[97] Besuch nicht immer und brauchen das auch nicht zu thun; thun sie es dennoch, so ist es ein Zeichen ihrer Herzensgüte und Seelengröße. Hat man übrigens im Sinne, einen Besuch zu erwidern, so muß dies bald geschehen, wenn man nicht durch zu langes Hinausschieben den, der uns besucht hat, beleidigen und der Pflicht, je wieder zu uns zu kommen, entheben will.

d) Als Dankbesuche für eine erhaltene Einladung, z.B. zu einem Mittagessen oder für eine uns von einem Vorgesetzten oder Freunde erwiesene Gefälligkeit, ebenso, wenn uns irgend jemand einen Dienst geleistet hat. In diesem Falle muß man ihn besuchen, auch wenn er uns ganz fremd ist, natürlich nur, wenn er am gleichen Orte wohnt. Verpflichtet er uns ein zweites Mal, so müssen wir ihn zum zweiten Male besuchen und so fort. Die Verpflichtung eines Gegenbesuches für den Betreffenden fällt hier weg, da unser Besuch als Dank gilt; ihn nicht zu machen, wäre Undankbarkeit. Solche Besuche sind mindestens innerhalb acht Tagen abzustatten.

e) Als Glückwünsch- und Beileidsbesuche bei Freunden und guten Bekannten, um ihnen zu einem freudigen Ereignis (Erhalten einer Anerkennung, Beförderung auf einen höheren Posten usw.) zu gratulieren oder bei einem traurigen Ereignis unser Beileid zu bezeigen.

f) Als Besuche zum Namenstag eines Vorgesetzten[98] oder Freundes. Derartige Besuche werden am besten am Vorabende des Namenstages oder am Namenstag selbst gemacht.

g) Als Neujahrtagsbesuche bei Vorgesetzten und guten Freunden. Am besten werden diese gemacht am Vorabend von Neujahr oder am Neujahrstag selbst; für Besuche bei Fernerstehenden gilt der ganze Monat Januar. Gut ist es, wenn man sich vorher erkundigt, ob Neujahrsbesuche überhaupt angenehm sind.

h) Als Krankenbesuche bei Freunden und Bekannten, um sie zu trösten und aufzumuntern. Diese sind verpflichtet, uns einen solchen Besuch alsbald nach ihrer Genesung zu erwidern.

i) Brave Studenten, in der Ferne weilende Lehrlinge besuchen, wenn sie in die Ferien oder in Urlaub nach Hause kommen, ihre Seelsorger, um denselben ihre Verehrung und Dankbarkeit zu bezeigen und mit ihnen von ihren Fortschritten im Lernen zu sprechen.

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 96-99.
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