A. Vor dem Mahle.

[124] 1. Hat man eine Einladung zu Tisch erhalten, so darf man sie nicht ohne Grund ablehnen, sondern soll sie dankend annehmen. Ist man später verhindert, der Einladung zu folgen, so entschuldige man sich höflich bei Zeiten und gebe den Grund an, warum man nicht erscheinen kann, füge aber nicht bei, daß man sich die Ehre für ein anderes Mal ausbitte, denn dadurch würde man sich der Gefahr aussetzen, beschämt zu werden.

2. Hat man eine Einladung angenommen und es kommt noch eine solche von einem Höheren, so darf man die Annahme der ersten nur ganz ausnahmsweise zurücknehmen, etwa dann, wenn sie von einem guten Freund oder Bekannten ausgegangen ist, von dem man überzeugt sein kann, daß er eine Absage nicht übel nimmt. Ein guter Freund wird dies um so weniger thun, wenn er weiß, daß man die zweite Einladung nicht abschlagen kann, ohne den Anstand zu verletzen oder sich in seinem Fortkommen usw. zu schaden.

3. Hat man eine Einladung einmal angenommen, so komme man zur bestimmten Zeit, nicht zu früh[124] und nicht zu spät, etwa 5–10 Minuten vor der festgesetzten Zeit. Der Herr des Hauses wird uns dann so lange unterhalten, bis das Essen beginnt.

4. Man begrüße den Herrn und die Frau des Hauses achtungsvoll und sage etwa: »Ich nehme mir die Freiheit, von Ihrer gütigen (ehrenvollen, freundlichen) Einladung Gebrauch zu machen, Ihrer gütigen usw. Einladung Folge zu leisten.«

5. Vor dem Erscheinen am fremden Tische wasche man sich sauber, bringe die Haare in Ordnung und erscheine in anständiger, reinlicher Kleidung. Es wird gut sein, wenn man bei Reinigung der Hände nicht vergißt, die Nägel zu schneiden und etwa unter den Nägeln befindlichen Schmutz zu beseitigen. Handschuhe sind unerläßlich. Der Hut wird draußen abgelegt, die Handschuhe erst im Zimmer, beziehungsweise wenn es zu Tische geht, ausgezogen.

6. Man halte sich in anständiger Entfernung vom Tische, bis man den Platz angewiesen bekommt.

7. Bezüglich des Platzes sind drei Fälle möglich: entweder der Platz wird uns vom Hausherrn oder der Hausfrau angewiesen, oder die Plätze sind mit Zetteln versehen, die den Namen der Gäste enthalten, oder endlich man darf sich den Platz selbst wählen. In den ersten zwei Fällen gehorcht man den Anordnungen des Gastgebers, im letzteren Falle dränge man sich nicht vor, sondern wähle den untersten Platz, es sei denn, daß man ersucht wird, einen besseren einzunehmen.[125]

8. Hat man seinen Platz bekommen, so begebe man sich schweigend auf denselben und warte bescheiden, bis der Gastgeber das Zeichen zum Beginne des Mahles gibt.

9. Wird in einer Gesellschaft allgemein gebetet – und in katholischen Häusern soll das der Fall sein – so bete man mit gebührender Stille und Andacht. Ist man eher fertig, als die anderen Gäste, so störe man sie nicht und bleibe ruhig stehen oder sitzen, bis sie fertig sind. In einem Hause, wo nicht gebetet wird, verrichte man sein Tischgebet ohne Menschenfurcht, aber ohne es besonders auffällig zu machen.

10. Man setze sich nicht eher, als bis ältere und vornehmere Personen sich gesetzt haben. Niedersitzen und Aufstehen muß ohne Geräusch (Stuhlrücken, Poltern mit dem Stuhle) geschehen.

11. Man rücke nicht zu nahe an den Tisch, lehne sich auf dem Stuhle weder zu weit vorwärts noch zu weit rückwärts, sondern sitze gerade, vermeide alles Schwanken mit dem Stuhle, stecke die Hände nicht unter das Tischtuch, stütze sich nicht auf die Ellbogen, schlage die Aermel nicht zurück, als wolle man sich zum Angriff fertig machen. Die linke Hand soll ruhig und leicht und nur bis zum Gelenke auf den Tisch gelegt werden, jedoch ohne daß man sich darauf stützt.

12. Man werfe nicht neugierige Blicke auf die Speisen, um zu sehen, was aufgetragen wird, und fange nicht eher zu essen an, als bis der Gastgeber das Zeichen dazu gibt und höhere Persönlichkeiten zu essen anfangen.

Quelle:
Vogt, Franz: Anstandsbüchlein für das Volk. Donauwörth [1894] [Nachdruck Donauwörth 21987], S. 124-126.
Lizenz:
Kategorien: