XI. Rawitsch.

[60] Es sind mir neuerdings die lebhaftesten Vorwürfe darüber gemacht worden, daß ich nicht sofort und energisch gegen dieses Urteil angekämpft habe. Aber es wird dabei immer übersehen, wie ich schon mehrfach erwähnte, daß die meisten Menschen sich, ebensowenig wie ich selber, mit der Strafprozeßordnung vertraut machen und daher ihre Rechte und Pflichten vor Gericht nicht kennen. Außerdem sind seit der Zeit des Urteils siebzehn Jahre hingegangen, und ganz andere Anschauungen, sowohl im Kreise der Richter wie auch der anderen Rechtsbeflissenen, haben seitdem Platz gegriffen.

Heute würde ich mich in so einer Lage natürlich ganz anders zu benehmen wissen.

Außerdem war es dem Insassen einer Strafanstalt damals fast ganz unmöglich, von den ihm zustehenden Rechten Gebrauch zu machen, da er zu dem kleinsten Schritt, den er in solchen Angelegenheiten unternehmen wollte, sich erst die Erlaubnis der Direktion einholen mußte. Diese aber suchte unter allen möglichen Vorwänden eine Führung des Prozesses zu erschweren.

Dieser zweite Eintritt in die Strafanstalt traf mich noch viel härter als der erste.

Meine ganze Existenz, die ich mir bis dahin unter vielen Mühen und Ringen geschaffen, war vernichtet. Die Hoffnung, noch einmal die Freiheit wiederzusehen, hatte ich nicht.[61]

Eine Verbindung mit der Außenwelt, mit meiner Familie, suchte ich nicht. Was sollte ich denn noch? ... Ja ich wünschte selbst jede Spur, die auf mich führen und meinen Aufenthaltsort verraten konnte, zu verwischen, um den Meinen nicht neuen Kummer zu bereiten.

Ich stand jetzt ganz für mich allein.

Es bedurfte einiger Zeit, bis ich mich so weit gefaßt hatte, daß ich mich in meine neue Umgebung schicken konnte. Ich wäre auch vielleicht dem bösen Geist, der in der Anstalt herrschte, erlegen und versumpft, wenn mir nicht doch auch hier wieder so manches als Gegengewicht gegen die Schäden gedient hätte, die für einen auf längere Zeit Inhaftierten unvermeidlich sind.

Der Unternehmer, der damals den Betrieb in der Fabrik hatte, erkannte in mir bald den tüchtigen Maschinisten und überwies mir die in seinem Betriebe angestellten Leute zur Bedienung resp. Beaufsichtigung.

Danach wurde zunächst meine Stellung zu meinen Mitgefangenen eine ganz andere, wie das sonst der Fall zu sein pflegt.

Es ist in solchem Betriebe der Maschinist die Seele der ganzen Arbeit. An seinem Platze kommen alle Fehler, die von den Vorarbeitern gemacht werden, an das Tageslicht, und es hängt von seiner Aufmerksamkeit der Wert der in der Fabrik erzeugten Ware ab.

Er darf, wenn er dem Inhaber des Betriebes nicht selbst Schaden zufügen oder zufügen lassen will, fehlerhafte Sachen nicht weitergeben. Daher wird er von vielen gefürchtet,[62] die ein Interesse daran haben, daß die hergestellte Arbeit mit ihren Mängeln nicht einer zu strengen Kontrolle unterzogen wird.

Es kommt nun dazu, daß in solchem Hause neben dem Zeitverlust und der nochmaligen Arbeitsleistung auch bald die Disziplinarstrafe eintritt. Da ist es denn sehr begreiflich, daß große Ruhe und viel Takt dazu gehören, weder nach oben noch nach unten anzustoßen.

Mir ist das im allgemeinen gelungen. Und wenn meine Mitgefangenen auch in mir den strengen Kontrolleur sahen, der Fehlerhaftes entschieden zurückwies, so sind doch niemals Disziplinarstrafen gegen sie auf meine Veranlassung verhängt worden.

Ja sie hatten bald die Überzeugung gewonnen, daß, wenn ich ihnen irgendwie helfen konnte, es auch von meiner Seite aus in bereitwilligster Weise geschah.

Diese Reserve meinen Mitgefangenen gegenüber brachte aber auch das Angenehme für mich mit, daß mich die Beamten, mit denen ich zu tun hatte, mit einer gewissen Rücksicht behandelten. Sie sahen eben ein, daß, wenn ich auch strenge auf saubere Arbeit hielt, ich doch nie parteiisch handelte oder mich gar zu Verleumdungen oder Verdächtigungen herabließ. Ja ich genoß wiederholt das Vertrauen, daß man in strittigen Fällen auf mein Wort hörte.

Minder günstig gestaltete sich mein Verhältnis zu dem Anstaltsgeistlichen. Dieser hielt mich, da ich bei meinem Eintritt in die Anstalt in einer Unterredung mit ihm mich frei und ruhig äußerte, für einen Sozialdemokraten. Das hatte für mich nun weniger Bedeutung.[63]

Als er aber auch seine spezielle Domäne, die Seelsorge, berührte, wurde es doch etwas peinlich.

Er stellte sich zu mir auf den Standpunkt eines Konfirmandenlehrers, der den Schülern Religionsunterricht gibt, übersah aber dabei leider, daß ich ihm an Jahren überlegen war und mir auch durch Nachdenken über religiöse Fragen bereits ein selbständiges Urteil gebildet hatte.

Wie ich nun das herkömmliche Beweismaterial, das wohl einem gläubigen Kinde, aber einem gereiften Manne nicht genügen kann, in seiner ganzen Haltlosigkeit klarlegte, faßte er die Sache falsch auf und kam zu der Überzeugung, ich sei ein Gottesleugner.

Wenn ich auch innerlich darüber lächelte, so war es mir doch peinlich, bei dem sonst sehr gebildeten Manne eine solche Beschränktheit zu finden.

Ich bemerkte wohl, daß, obwohl wir fünf Jahre lang in angenehmer Weise miteinander verkehrten und der Geistliche mir stets mit sichtlichem Wohlwollen und Zutrauen entgegenkam, doch die Schranken, die unsere erste Unterredung zwischen uns aufgerichtet hatte, durchaus nicht fallen wollten. Es hat mir das wirklich leid getan, und der Pastor war sichtlich überrascht und erfreut, als ich ihm bei seinem Abschiede noch einen besonderen Besuch machte. Er erklärte mir aus freien Stücken, andere, die ihm freundlicher gegenüber gestanden, hätten einen derartigen Besuch bei ihm nicht gemacht. Von mir hätte er es am wenigsten erwartet. Ich hatte also die Religionsangelegenheiten nur sachlich aufgefaßt, während er es fünf Jahre nicht hatte übers Herz bringen können, die Sache von der Person zu trennen.[64]

Besser gestaltete sich mein Verhältnis zum Anstaltslehrer. Für die Ergänzung seiner Kirchenchöre fehlte es ihm stets an tüchtigen Kräften. Da die Bewohnerschaft des Hauses hauptsächlich der Provinz Posen entstammte, in welcher der Kirchengesang noch verhältnismäßig wenig gepflegt wird, so waren ausgebildete Kräfte sehr selten.

Mein Eintritt in den Chor war ihm deshalb sehr erwünscht. Ein Übelstand war noch, daß für den katholischen und evangelischen Chor die Mitglieder nur getrennt üben konnten. Da ich nun beim Einüben der katholischen Messen und Kirchengesänge ihm sehr behilflich sein konnte, so gestaltete sich unser persönliches Verhältnis bald sehr freundlich.

Er hatte mich sogar einige Male veranlaßt, beim Gottesdienst selbst in der katholischen Messe mitzuwirken, weil es ihm da an Kräften für den zweiten Baß mangelte. Dadurch kam ich auch dem katholischen Geistlichen näher. Wenn er den Übungen der Gesangsstunden beiwohnte, hatte er für mich allemal ein freundliches Wort.

Weiter fühlte ich mich mehr als Christ wie als Glied einer bestimmten Konfession. Und diese meine Gesinnung brachte mich auch mit den Juden, die in der Anstalt waren, in Fühlung.

So wäre ich innerlich vielleicht ganz zufrieden gewesen, wenn mir irgendwelche Beziehungen zu meiner Familie, überhaupt zur Außenwelt geblieben wären und wenn ich über das Unrecht hätte hinwegkommen können, das mir durch den Gerichtshof bei meiner Verurteilung geschehen war.

Quelle:
Voigt, Wilhelm: Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde: mein Lebensbild. Leipzig; Berlin 1909, S. 60-65.
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Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde
Wie ich der Hauptmann von Köpenick wurde
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