XIV. Kein Erbarmen!

[77] Hier beginnt eigentlich schon der Tag von Köpenick!


Der mecklenburgische Staat hat von mir die Staatssteuer für die Zeit bis zum 30. September 1906 erhoben. Ich glaubte deshalb den Schutz und die Nutznießung seiner Einrichtungen für diese Zeit auch für mich in Anspruch nehmen zu dürfen.

Deshalb fühlte ich mich durch die Ausweisung schwer verletzt.

Vorläufig aber wollte ich noch einmal versuchen, ob nicht für mich an einem anderen Orte sich ein neuer Wirkungskreis erschließen würde.

Da machte ich denn zunächst eine Reise nach Prag. Von meinen alten Freunden fand ich niemand mehr vor, aber der Betrieb, in dem ich seinerzeit gearbeitet hatte, existierte noch, und die Verhandlung, die ich wegen Wiedereinstellung anknüpfte, führte anscheinend zu einem guten Resultate – wenn nur das eine nicht gewesen wäre, daß ich mich unmöglich in Prag anmelden konnte.

Ich fuhr zunächst nach Breslau, von dort nach Berlin, aber auch hier ohne Erfolg. Als ich wieder von Berlin nach Hause, d.h. nach Tilsit fahren wollte, fiel mir ein, mich doch einmal nach dem Verbleib meiner älteren Schwester zu erkundigen. Ich begab mich also auf das Einwohnermeldeamt.[78] Dort wurde mir die erfreuliche Mitteilung, daß meine Schwester in Rixdorf wohne und an einen Buchbinder verheiratet sei.

Ich flog mehr als ich ging die Treppen hinunter und eilte, so schnell ich konnte, nach Rixdorf hinaus.

Hier fand ich nach fünfundzwanzig Jahren meine Schwester wieder! Natürlich hatten wir uns viel zu erzählen! Ich vermied es jedoch, sie über die wunden Punkte in meinem Leben aufzuklären. Wozu auch?! Sie hatte ihr bescheidenes Auskommen, konnte mir aber gewiß nicht helfend beispringen. Nachdem ich einige Tage bei ihr geweilt, besuchte ich meine Heimat. Mit Mühe erfragte ich den Aufenthalt meiner Stiefmutter. Es war ja jetzt 17 Jahre her, daß wir nichts mehr voneinander gesehen und gehört hatten. Hier fand ich Tränen. Mein Vater war vor 10 Jahren und mein Stiefbruder vor 17 Jahren, kurz nach meinem Besuche, gestorben. Notdürftig schleppte sich die Frau durchs Leben, von dem früheren Wohlstande unserer Familie war ihr nichts geblieben als die Erinnerung.

Bei einem Besuche meiner Verwandten wurde mir mitgeteilt, daß auch die Polizeibehörde in Tilsit sich's hatte angelegen sein lassen, kurz vor meiner Entlassung aus der Anstalt Rawitsch mein Bestreben, mir einen Paß zu verschaffen, unter die Leute zu bringen.

Da so auch auf Arbeit in Tilsit nicht zu rechnen war, beschloß ich zunächst, noch einmal Potsdam aufzusuchen. Und weil ich mein Geld nicht ganz aufbrauchen wollte, entschloß ich mich zu der verhältnismäßig niedrigsten und schwersten Arbeit: ich habe damals in Potsdam Kohlen abgetragen.[79]

Ich glaube, auch dadurch habe ich bewiesen, daß ich keineswegs zu den arbeitsscheuen Leuten gehöre. Leider waren meine körperlichen Kräfte den Anstrengungen nicht gewachsen. Mein Rücken war vollständig wund gedrückt, eine rohe, blutige Masse, so daß mir meine Kleidungsstücke darauf klebenblieben. Ich mußte die Beschäftigung einstellen. An einem Sonnabendabend fuhr ich wieder zurück nach Berlin, und es glückte mir gleich am Sonntagmorgen, in einer Schuhfabrik in der Nähe des Schlesischen Bahnhofes als Maschinist Stellung zu finden.

Nun hatte ich zwar Arbeit, aber wie sollte es mit der Anmeldung werden? Ich wohnte zunächst in der Nähe meines Arbeitsplatzes in der Herberge zur Heimat. Aber das ließ sich auf die Dauer nicht durchführen. Erstens mußte ich früher aufstehen, um rechtzeitig auf meinen Arbeitsplatz zu kommen, und dann würde es aufgefallen sein, wenn ich bei meinem Einkommen in der Herberge wohnengeblieben wäre.

Da ich nun wußte, daß Berlin in der Aufnahme von »Entlassenen« sehr vorsichtig ist, so wollte ich sehen, ob ich nicht von Rixdorf aus, indem ich dort Wohnung nahm, rechtzeitig in Berlin zur Arbeitsstätte eintreffen konnte.

Ich fuhr also zu meiner Schwester, um mit ihr Rücksprache darüber zu nehmen. Das Ergebnis war, daß sie mich aufforderte, zu ihr hinauszuziehen. Dieses Anerbieten war mir natürlich sehr angenehm, hatte ich doch in meinen Mußestunden einen richtigen Anschluß, und Schwesterhände sorgen auch in anderer Beziehung besser als fremde. Zudem hatte sie auch keine Kinder bei sich, ihr Mann lebte als Privatier, so daß für alle Teile viel Annehmlichkeiten[80] herauskamen. Ich hatte nur große Furcht, daß die Polizeibehörde in Rixdorf mir auch Schwierigkeiten machen würde. Doch darauf mußte ich es jetzt ankommen lassen. Meine Anmeldung fand in ordnungsmäßiger Weise statt, und zunächst wurde ich weiter nicht behelligt. Etwa nach vierzehn Tagen wurde ich auf das Revierbüro geladen, weil jeder Zuziehende über seine Familie und sonstigen Verhältnisse Auskunft zu geben hat.

Bei dieser Protokollierung meiner Angaben erfuhr ich nun, daß die Berliner Behörde über meine Ausweisung bereits unterrichtet war, und der protokollierende Beamte meinte bedauernd, daß wohl auch in Berlin der gleiche Fall eintreten würde. Ich wies darauf hin, daß ich in einem festen Arbeitsverhältnisse stände, daß ich bei meiner Schwester wohnte, deren Mann unbescholten wäre – alles blieb ohne Einfluß!


Vier Wochen später wurde ich aus Berlin ausgewiesen!


Aber Berlin gab mir für sich und die dreißig im Ausweisungsbefehl angeführten Ortschaften vierzehn Tage Zeit.

Quelle:
Voigt, Wilhelm: Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde: mein Lebensbild. Leipzig; Berlin 1909, S. 77-81.
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