13. Das müssen Sie sich abgewöhnen!

[75] Wenn man Überlegungen in der Richtung anstellt, wie man sich zu benehmen und zu verhalten hat, um überall gern gesehen zu werden, dann ist es mit dem Hinweis, wie man's machen soll, allein nicht getan. Mindestens ebenso wichtig ist, zu wissen, was man zu unterlassen hat, um sich seine Chancen in Beruf und Gesellschaft nicht selbst zu zerschlagen.

Ein Mensch, der sich dem ernsten und schwierigen Studium der Selbsterkenntnis hingibt, wird wahrscheinlich das am letzten erkennen, was die andern zuerst sehen. Das sind seine Gewohnheiten und Angewohnheiten. Denn Gewohnheit ist etwas, das einem als Selbstverständlichkeit erscheint, was man ohne Nachdenken tut. Man weiß also meist gar nichts davon. –

Auf einer kleinen Station besteige ich den Personenzug, um meine hier unterbrochene Reise fortzusetzen. Nur ein Herr sitzt in dem Abteil, das ich besteige. Er sitzt mir schräg gegenüber am Fenster. Ich hole mein Buch heraus, um zu lesen. Aber es geht nicht, geht mit dem besten Willen nicht, denn der Herr am Fenster stört mich fortgesetzt. Gewiß, er sitzt an sich ganz ruhig, sagt kein Wort und sieht sich die vorübergleitende Landschaft interessiert und andächtig an. Ob er dabei wirklich an die Felder, Wiesen und Wälder da draußen denkt oder vielleicht an ganz andre Dinge, kann ich natürlich nicht ergründen. Das ist mir übrigens auch furchtbar gleichgültig. Was mir aber keineswegs gleichgültig ist, sondern mich so langsam in Fahrt bringt, ist, daß der Herr am Fenster ununterbrochen schnuffelt. Ich bin überzeugt davon, daß er ein Taschentuch bei sich hat, will auch zu seinen Gunsten annehmen, daß es sauber ist. Aber warum braucht er nicht sein Taschentuch, jener Herr am Fenster? –

Ich beende schließlich diese meine Betrachtungen und mache einen neuen Versuch, zu lesen. Aber es will nicht gehn. Ich bemühe mich, diese häßlichen Geräusche aus meinem Gehörgang auszuschalten. Auch das will nicht gelingen.[75] Nun zähle ich weder zu den nervösen noch zu den leicht erregbaren Menschen, aber dieses unästhetische, monotone Geräusch halte ich nicht mehr länger aus.

Also breche ich das Schweigen: »Ich bitte um Verzeihung, Sie sind wohl sehr erkältet?«

Erstaunt, ja verdutzt sieht mich der Herr vom Fenster aus an.

»Ich erkältet? – Wie kommen Sie denn darauf?«

»Nun, weil Sie andauernd schnuffeln, ich meine, in der Nase hochziehen,« erwidere ich sehr bescheiden.

Das Erstaunen des Herrn am Fenster steigert sich.

»Wie bitte? – Ich soll schnuffeln? Nun machen Sie aber bitte n' Punkt! – Ich bin absolut nicht erkältet und denke auch gar nicht daran, zu schnuffeln.«

Wie das Gespräch endete? – Nun, der Herr am Fenster blieb bei seiner ehernen Behauptung, während der ganzen Zeit nicht einmal geräuschvoll gewesen zu sein und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß er wissentlich nicht die Unwahrheit gesagt hat.

Das aber ist das, was uns an dem kleinen Erlebnis in diesem Zusammenhang interessiert. Wir wollen davon die Nutzanwendung ableiten, daß wir wohl alle manche unschöne Angewohnheiten haben, die wir selbst nicht wahrnehmen, weil sie uns eben in Fleisch und Blut übergegangen sind und uns überhaupt nicht mehr zum Bewußtsein kommen.

Daß wir damit aber den andern desto mehr auf die Nerven fallen, das müssen wir uns doch einprägen.

Schon in der Körperhaltung des Menschen zeigen sich manche Angewohnheiten, die auf andre unsympathisch wirken. Wir haben im Abschnitt so bereits darauf hingewiesen, daß der Mensch bei bestimmten Anlässen nur dann eine gute Figur machen wird, wenn er immer, also auch zu Haus, seiner Haltung große Aufmerksamkeit schenkt und sich nie gehn läßt. Wenn dann aber Menschen, die ihre, Haltung sonst vernachlässigen, mal einen besonders guten Eindruck machen wollen, dann reißen sie sich gewaltsam zusammen und wirken entweder gekünstelt oder lächerlich, meist beides.[76]

Wer beispielsweise im allgemeinen mit lässig gesenktem Kopf und krummem Rücken herumläuft und sich dann plötzlich des Eindrucks wegen gewaltig anstrengt, sieht aus, als habe er ein Lineal verschluckt, weil er ja sonst – wie hämische Menschen spotten – wie ein verbogenes Pausenzeichen herumläuft. Man wird über ihn nur lächeln.

Unsicher und verlegen erscheinen Menschen, die sich in Gesellschaft andrer leicht beengt fühlen. Man merkt ihnen an, daß sie mit ihren Gliedmaßen nichts anzufangen wissen, daß sie ihnen überall im Wege zu sein scheinen. Da kommt es denn oft zu gekünstelten Bewegungen, die auch nicht gerade vorteilhaft wirken.


13. Das müssen Sie sich abgewöhnen!

In diesem Zusammenhang sei auch auf die Aufdringlichkeit hingewiesen, die so manchen Zeitgenossen unleidlich erscheinen läßt. Da hat ein reichlich lebhafter Herr einem andern eine »höchst wichtige« Mitteilung zu machen oder einen »großartigen« Witz zu erzählen. Aus Angst davor, daß der andre nicht aufmerksam genug zuhören möchte, erfaßt er dessen obersten Jackenknopf und beginnt unbewußt, ihn langsam zu drehen. Wenn er ihn dann in der Hand hat, ist damit das neckische Spiel zwar zu Ende, aber der Schreck ist groß.

Eine unschöne Angewohnheit ist es auch, den andern während der Unterhaltung auf die Schulter zu klopfen oder sich selbst beim Erzählen eines Witzes auf die Oberschenkel zu klatschen.

Auch der Blick eines Menschen kann unangenehme Erscheinungen aufweisen. Es gibt Zeitgenossen, die während der Unterhaltung die Augen zusammenkneifen. Sie glauben dadurch interessant, »durchgeistigt« zu wirken und fühlen nicht, daß diese dumme Angewohnheit nur zum Lächeln reizt.

Ein nicht übertriebenes Lachen ist ebenso wie das verständnisvolle Lächeln zur richtigen Zeit natürlich und[77] angebracht. Ein Mensch, der aber grinst oder feixt, wird auf die Dauer keine Freunde haben. Höchst verletzend ist das sogenannte fatale Lächeln, das sich der schleunigst abgewöhnen sollte, der sich darin ge fällt und gar noch interessant wähnt.

Besonders häßlich sind Gesichtszuckungen. Auch hier handelt es sich in den weitaus meisten Fällen um lächerliche Angewohnheiten und nicht um Erscheinungen nervösen oder sonst krankhaften Ursprungs. Mit Energie und Selbstzucht wird es bald gelingen, dieser Schrullen Herr zu werden.

Den Mund beim Essen, Sprechen und Lachen weit aufreißen, wirkt häßlich und unästhetisch. Der Mund soll stets eine ruhige, leicht verschlossene Stellung zeigen. Auch das geringschätzige und höhnische Zucken um die Mundwinkel ist eine unfeine Angewohnheit.

Nun noch ein Wort zu der Befangenheit. Man kann sie nicht ohne weiteres unter die Kategorie der schlechten Angewohnheiten bringen, denn sie ist oft auf andre Ursachen zurückzuführen.

Ein schüchterner Mensch kommt gar zu leicht ins Hintertreffen, sei es im Beruf, sei es bei einer geselligen Veranstaltung. Oft wird er das Ziel versteckter Witze. Das fühlt er natürlich und dieses Bewußtsein verschlimmert seine Schwäche nur. Die Schüchternheit mit all ihren Begleiterscheinungen gründet sich auf das Gefühl einer tatsächlichen oder eingebildeten Minderwertigkeit. Sie tritt meist nur bei einer Veränderung der äußeren Umstände auf. In dem gleichen Maße, wie sich der Schüchterne in die neue Umgebung einlebt, kehrt die frühere Sicherheit zurück. Allerdings nicht immer, und darin liegt zweifellos eine Tragik. Die Befangenheit kann sich in der Seele eines Menschen so einnisten, daß ihr Träger der Verzweiflung nahekommt, zumal er die Kraft, sich dagegen zu wehren, mehr und mehr schwinden sieht. – Dem schüchternen Menschen sei aber zum Trost gesagt, daß eine Heilung fast in jedem Falle möglich ist. In ernsten Fällen, wo es notwendig ist, die Grundursache zu beseitigen, die in den Abweichungen von der physischen oder psychischen Norm liegt, wird die Heilung zwar langsam, dafür aber sicher erfolgen,[78] vorausgesetzt, daß der Patient einen eisenfesten Willen zum Gesundwerden und volles Vertrauen zu der Heilmethode hat.

Dem Schüchternen nahe verwandt ist der linkische Mensch, der infolge seiner unausgeglichenen Bewegungen leicht zum Lachen reizt. Die Unbeholfenheit schaut ihm meistens schon aus den Augen und das Pech scheint er in Erbpacht genommen zu haben. Er besteht eigentlich nur aus Ungeschicklichkeit und Verlegenheit, er stolpert über Zwirnsfäden und klappt wie ein Taschenmesser zusammen, wenn ihn jemand allzu forsch anredet. Seine Bewegungen offenbaren entweder eine ungelenk zackige oder eine auffallend weiche Linie, manchmal sogar ein dämmeriges Zwielicht. Er hat viele gute Seiten, so ist er beispielsweise meist sehr gefällig und hilfsbereit. Aber wenn er einer Dame den Sahnegießer reicht, besteht immer die ernste Gefahr, daß dabei ein Unglück passiert. Der linkische Mensch fühlt, daß er oft nicht für voll oder nicht ernst genommen wird. Darunter leidet er.

Man soll über diese lieben Menschen nicht spotten, sondern immer über die kleinen Schwächen hinwegsehen. So, wie der Stotterer, dessen Schwäche dann am wenigsten in Erscheinung tritt, wenn man ihm geduldig und freundlich zuhört, wird auch der linkische Mensch seine Sonderheiten ablegen, wenn man so tut, als merke man von seinen Schwächen nichts.

Vor allen Dingen muß er sich natürlich selbst helfen, indem er energisch und methodisch sein Selbstbewußtsein stärkt.

Der Vollständigkeit halber wollen wir – wenn auch mit etwas Unbehagen – noch kurz auf einige kleine Angewohnheitssünden eingehen, die einen unästhetischen Eindruck machen und alle Sympathie oft schnell verscherzen können.

Da sei das Nägelkauen erwähnt, das nicht nur widerlich aussieht, sondern auch die vordersten Fingerglieder verunstaltet, die Funktion der Gefühlsnerven schwächt und zu bösartigen Entzündungen der Fingerspitzen wie zu Erkrankungen des Magens führen kann. Es handelt sich hier um ein ziemlich weit verbreitetes, oft sehr geheim gehaltenes Laster. Man findet es besonders bei Kindern,[79] leider aber auch oft bei Erwachsenen. Ein Abgewöhnungsmittel besteht darin, daß man die Fingerspitzen nach dem Waschen mit Quassiatinktur einpinselt.

»Mensch, mach' die Klappe zu! Es zieht!« – ruft man in vulgärer Weise dem zu, der fortwährend den Mund offen hält. Allerdings ist das ein Anblick, der nicht entzücken kann, denn er verleiht dem Gesicht einen einfältigen und blöden Eindruck. –

Hier handelt es sich nicht immer um eine häßliche Angewohnheit. Wenn eine körperliche Behinderung der Nasenatmung vorliegt, die übrigens bedenkliche Folgen haben kann, wie Zerstreutheit, Gedächtnisschwäche usw., muß ärztliche Behandlung einsetzen.

Es gibt Menschen, die sich in Gesellschaft andrer, vor allem während der Unterhaltung, dauernd irgendwie beschäftigen müssen. Entweder spielen sie unausgesetzt mit dem Aschenbecher, während die Hausfrau Angst schwitzt, daß die Asche auf den Tisch fällt oder sie reiben sich die Nase, kratzen am Kinn oder gar auf dem Kopfe. Andre wieder klappern mit Vorliebe mit ihrem Trauring am Bierglase oder Tellerrand. Auch das sind weniger Zeichen von Nervosität, als vielmehr häßliche Angewohnheiten, mit denen man sich nur unbeliebt macht.

Auch das Räuspern kann nach Überwindung eines Luftröhrenkatarrhs zu einer dauernden häßlichen Angewohnheit werden, mit der man seinen Mitmenschen auf die Nerven fallen wird. Selbstbeherrschung ist auch hier das einzige Mittel, sich davon zu befreien.

Und nun noch ein Wort über das Gähnen, das wir allerdings keinesfalls zu den schlechten Angewohnheiten zählen möchten. Wer das Bedürfnis zu gähnen hat, leidet unter einem Mangel an Sauerstoff. Diesen braucht er, um sich konzentrieren zu können. Wie oft kann man beobachten, wie Menschen während einer Unterhaltung so energisch bemüht sind, ihr Gähnen zu unterdrücken! Daß das Gähnen, vor allem bei offenem Munde, ein unästhetischer Anblick ist, sieht fest. Die gesellschaftliche Vorschrift, das Gähnen zwangsweise zu unterdrücken, hat dazu geführt, daß wir uns das Gähnen fast ganz abgewöhnt haben. Der fortschrittliche Arzt aber sagt: »Gähne dich gesund!« Wir[80] können uns da ein Vorbild an den Tieren nehmen, die viel öfter und tiefer gähnen als wir Menschen.

Darum unser Rat: Wenn Sie in Gesellschaft das Bedürfnis haben, zu gähnen, stehen Sie, wenn irgend möglich, auf, gehn Sie an ein offenes Fenster, versuchen Sie, recht kräftig zu gähnen und machen Sie dabei noch einige Tiefatemübungen. Sie werden erstaunt sein, wie Ihnen das bekommt. Sofort sind Sie wieder besonders aufnahmefähig, frisch und ein guter Gesellschafter.

Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 75-81.
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