Darf ich mal telefonieren?

[97] Wer keinen Fernsprechanschluß hat und mal telefonieren möchte, geht nach dem Münz-Fernsprecher, wenn er Takt besitzt, zum Flurnachbarn dagegen, wenn er bequem und taktlos ist. –

Ich sitze an meinem Schreibtisch bei einer Arbeit, die eine sehr scharfe geistige Konzentration verlangt. Auf diesem Schreibtisch steht auch der Fernsprecher, was ich in dem Augenblick verwünsche, als meine Frau, die mich bei solchen Arbeiten grundsätzlich nie zu stören pflegt, mit einer Bekannten hereinkommt.

»Entschuldige, daß wir stören, aber Frau Lehmann von nebenan möchte nur mal 'n Augenblick telefonieren. Es ist sehr dringlich.«

Also muß ich aufstehen, meine Arbeit abbrechen, meine mühselig gesammelten Gedanken in Urlaub schicken, Frau Lehmann freundlich begrüßen und sie an den Schreibtisch führen, auf dem meine unfertigen Manuskriptbogen herumliegen.[97]

Und nun wird »'n Augenblick« telefoniert. – Mit der Schneiderin. – Jede Minute kommt mir wie eine Stunde vor, der Frau Lehmann offenbar wie eine Sekunde.

Als nach etwa einer Viertelstunde die gute Frau Lehmann endlich gegangen ist, versucht die teure Gattin, die Überschreitung meines Verbots zu begründen und zu entschuldigen. Man habe da bestimmte Verpflichtungen und müsse Rücksicht nehmen. In einer Ablehnung würde Frau Lehmann bestimmt eine Ungefälligkeit und Taktlosigkeit erblickt haben. Die Folgen wären böse gewesen, meint meine Frau, noch dazu bei einer Frau im gleichen Hause. –

Ich also mußte taktvoll, ja noch viel mehr als das sein, weil jene Frau im höchsten Grade taktlos war. Du lieber Himmel, wo bleibt da die Logik?

Quelle:
Volkland, Alfred: Überall gern gesehen. Mühlhausen i. Thüringen 1941, S. 97-98.
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