Auf der Straße.

[290] Komm, lieber Leser, folge mir in das Gewühl der Friedrichsstraße! Wir wollen langsam die Menschen an uns vorüberpilgern lassen, Studien machen und lernen, wie wir uns auf der Straße zu benehmen haben. Du bist bereit? Gut, so gehen wir! Aber ich bitte dich, zieh dir die Handschuhe noch hier im Hause, auf der Treppe, im Hausflur an. Nichts sieht nachlässiger aus, als wenn man unfertig auf die Straße tritt, unterwegs zehn Minuten an den Handschuhen nestelt und während dieser Zeit seine Aufmerksamkeit zwischen dem Leben der Straße und den Vorbeikommenden und seinen Händen teilen muß. Du hast sie übergestreift? Nun noch einen Bürstenstrich über den Paletot, einen Blick in den Spiegel. Es ist dies keine Eitelkeit, nein, wir sind unsern Mitmenschen gegenüber verpflichtet, peinlich ordentlich und adrett auf der Straße zu erscheinen.

Also en avant![290]

Siehst du drüben den Herrn mit dem Stock unter den Arm geklemmt? Ist es nicht beinahe lebensgefährlich, hinter ihm drein zu gehen? Ein etwas beschleunigtes Tempo unserseits, ein plötzliches Stehenbleiben von seiner Seite, und des Stockes scharfe Spitze bohrt sich unfehlbar in unsere Brust. Bei unserer Statur hat dies ja wohl nicht allzuviel zu sagen, aber male dir aus, wenn der Hintermann dieses Herrn eine Dame oder ein zartes Kind ist, und die Stockspitze trifft wohl gar das Gesicht, das Auge.

Ebenso rücksichtslos ist sein Begleiter. Siehst du, wie er eben den Stock in weitem Bogen durch die Luft drehend unter den Arm nimmt? Dieses plötzliche Manöver hat einem harmlos Vorbeigehenden den Hut vom Kopfe geschlagen.

Dort drüben kommt ein junger Elegant her. Seine Kleidung verrät sein Bestreben, zu den oberen Zehntausend gezählt zu werden. Aber das geschulterte Stöckchen, die Hände in den Paletottaschen versenkt, verraten, daß er im Grunde nicht weiß, was sich schickt. Sein Freund neben ihm legt beide Hände auf den Rücken – eine gar behagliche Stellung, die man höchstens in seinen vier Wänden einzunehmen berechtigt ist. Wie unpassend laut unterhalten sie sich! Ihr Lachen schallt bis zu uns herüber.

Die Dame, die ihnen eben begegnet, scheint sehr hungrig zu sein; sie kaut auf beiden Backen. Auf der Straße zu essen, ist mehr wie unfein. Es berührt ebenso unästhetisch wie das Spucken, was eine ganze Menge Menschen ohne Scheu zu thun pflegt, ich[291] will nur an die Amerikaner erinnern, brauche aber leider gar nicht so weit zu schweifen, um dir ein Beispiel vorzustellen. Es ist dies aber für einen Herrn, der in der guten Gesellschaft verkehren will, gänzlich unstatthaft. Ist man von einem derartigen Reiz befallen, so benutze man unauffällig das Taschentuch.

Aber wer ist dieser Herr? Gewiß ein großer Musikfreund, der gerade aus der Generalprobe des Liederabends kommt, denn er summt vor sich hin: »Mit meinem Mantel vor dem Sturm beschütz' ich dich!« Eine lobenswerte Absicht bei dem rauhen Wetter! Aber wenn er wüßte, wie das Singen und Pfeifen auf der Straße von der guten Sitte verpönt wird!

Ach, da ist die Straße gesperrt! Wir müssen wohl umkehren. Diese Menschenansammlung! Aber es scheint nichts Ernstes passiert zu sein, alle Gesichter tragen einen vergnügten Ausdruck, es hat vielmehr den Anschein, als ob sich eine Menge Bekannter unvermutet getroffen hätte.

»Circulez, messieurs!« diesen Ruf der Pariser sergeants de ville möchte man auch ihnen zurufen. Dieses Stehenbleiben auf der Straße ist gerade wie das Kettebilden, das Eingehaktgehen einer ganzen Kolonne eine Rücksichtslosigkeit gegen die andern des Weges Kommenden.

Ja, mein Verehrtester, unsere gesellschaftlichen Gesetze fordern nun einmal eine Rücksichtnahme auf andere. Nur wenn wir sie selbst üben, können wir sie von andern verlangen. Das Prinzip der Gegenseitigkeit triumphiert auch hier. Du weichst dem dir Entgegenkommenden nach rechts aus, er thut desgleichen, und ihr[292] kommt ungehindert an einander vorüber. Denkst du aber: »Nun, er mag ausweichen!« und verfolgst deinen Weg, so hätte er ja das Recht, das Gleiche zu denken und zu thun, und der Zusammenstoß wäre unvermeidlich. Zwar kann es dir beim besten Willen passieren, daß du jemanden streifst, berührst, wohl gar anstößt. Du erweisest dich als Gebildeten, wenn du in solchen Fällen den Hut lüstest, und »Pardon!« oder »Verzeihung!« sagst. Der Ungebildete bahnt sich den Weg durch die Menschenmenge mit Ellenbogenstößen, der Wohlerzogene sagt: »Bitte, wollen Sie mich durchlassen!« oder »Entschuldigen Sie!« und gewinnt durch Höflichkeit freie Bahn.

Damen werden sich stets vom Menschengewühl fernhalten, falls sie ohne männlichen Begleiter sind. Siehst du aber, daß eine Dame in einen Menschenauflauf geraten ist und sich nicht allein daraus retten kann, so ist es deine Pflicht, dich ihr zu nähern und mit einem: »Darf ich Ihnen behilflich sein, hier fortzukommen?« »Wollen Sie mir erlauben, Sie aus diesem Gewühl auf die freie Straße zu führen?« deine Dienste anzubieten. Werden sie angenommen, und keine Dame braucht sich zu scheuen, eine solche Gefälligkeit anzunehmen, so geleitest du die Dame ihr vorangehend und bahnbrechend an die nächste freie Stelle und empfiehlst dich ihr, sobald du sie in Sicherheit weißt. Ihr deine weitere gutgemeinte Begleitung aufzudrängen, ist nicht richtig. Der Herr geht überall da voran, wo er die Dame schützt; z.B. geht er ihr die Treppe herauf voran, damit er etwa Entgegenkommenden gegenüber die Dame[293] beschützen kann; er geht vor ihr in das Restaurant, in ein fremdes Haus etc.

Wir haben bereits im Kapitel »Vom Grüßen« erwähnt, daß in Deutschland keine jüngere Dame sich längere Zeit in Begleitung eines ihr nicht verwandten Herrn zeigen wird.

Komm, treten wir rasch zur Seite, es kommen Damen. Das Trottoir verengt sich, da müssen wir höflich ausweichen und sie vorgehen lassen. Ein Herr, der Damen begleitet, tritt in diesem Fall hinterdieselben. Sahst du, wie ungraziös die jüngere der Damen ausschritt, wie häßlich ihre Hand ihr Kleid raffte, wie anmutig dagegen ihre Begleiterin Muff und Schirm sogar in einer Hand hielt, um die andere zum Hochheben des Kleides frei zu haben? Wie auffallend wirkt es doch, wenn Damen stehen bleiben, wie eben hier, wenn sie sich umsehen, sich gar umdrehen! Ist man aus irgend einem Grunde, z.B. man erwartet jemanden, der hinter uns herkommen soll, gezwungen, sich umzudrehen, so trete man an die Häuserseite, gebe die Passage frei oder wende lieber ganz um. Wie häßlich ist es, wenn Damen ihre Hände in die Taschen des Paletots stecken nicht wahr? oder gar mit den Armen schlenkern und den Vorübergehenden unvermutet einen kleinen Schreck einjagen!

Auf die Anmut des Ganges, einen leichten und elastischen Schritt, aufrechte Haltung des Kopfes, ruhiges Herabhängenlassen der Arme wird heute leider wenig Wert gelegt, und doch urteilen wir so oft nach dem ersten Eindruck, den ein Mensch auf uns macht. Wer[294] dies bedenkt, sollte sich bemühen, auch in der Bewegung auf der Straße vorteilhaft aufzutreten.

Die einzige Hilfe für alle, die ihre Glieder nicht in der Gewalt haben, sind körperliche Uebungen aller Art, Turn-, Tanz- und Anstandsunterricht bei einem tüchtigen Lehrer, der mit Erfolg unterrichtet hat.

Was hast du? Du gehst an meine andere Seite? Dir ist eingefallen, daß ich der Aeltere bin? Mach keine Geschichten, mein Lieber! Unter sich Gleichstehenden giebt es keine solche Ehrfurchtsbezeigung. Anders wäre es, wenn du mit einem Herrn gingest, der dir an Jahren oder Würden bedeutend voraus ist. Da mußt du die linke Seite des Betreffenden zu gewinnen suchen. Wendet ihr um, so gehst du hinter ihm vorbei an seine linke Seite. Bei häufigem Auf- und Abwandeln darf man diese Regel nach einigen gelungenen Versuchen außer acht lassen. Besonders bei häufigem Umwenden kann das fortwährende Herumspringen lästig fallen und lächerlich werden. Immerhin richte man sich nach der betreffenden Persönlichkeit. Es giebt Menschen, besonders Vorgesetzte, die von der Wichtigkeit ihrer Person so durchdrungen sind, daß sie derartige Höflichkeitsbeweise unweigerlich beanspruchen. – Geht man mit einer Dame, so gilt dasselbe. Begleitet man zwei Damen, so geht man stets zur Linken der Damen. Zwei Herren, die zwei Damen begleiten, nehmen die Damen in die Mitte. Geht ein Ehepaar mit einer fremden Dame, so nimmt es die fremde Dame in die Mitte. Gehen drei Damen, nehmen wir an Großmutter, Mutter und Kind, so käme die erstere in die[295] Mitte, die Mutter geht zur Rechten, die Tochter zu ihrer linken Seite.

Assessor von Mehren geht mit seiner Frau spazieren. Der Gerichtspräsident begegnet ihnen und schließt sich, zur Linken der Dame gehend, dem Paare an. Was thut der Assessor? Er schwankt, ob er wiederum zur Linken des Präsidenten gehen oder seiner Frau nach dem Grundsatz, daß die Dame, eben weil sie die Dame ist, immer höher steht wie ein noch so hoch gestellter Herr, zur Rechten schreiten soll. Er entscheidet sich richtig für das Letztere. Frau von Mehren aber als gewandte Frau versteht es, bei der nächsten Biegung der Straße, wo die Frage entsteht, ob sie hier oder dort gehen sollen, die Konstellation durch eine einfache Seitenwendung so zu verändern, daß nun ihr Mann ihr zur Linken, der Präsident zu ihrer Rechten geht.

Einer großen, manchmal unbewußten Unart machen sich gar viele Herren dadurch schuldig, daß sie die Damen auffallend fixieren. Dies ist absolut unstatthaft, sogar unter Umständen beleidigend. Ebenso erlauben sich viele Herren zwei-, dreimal an einer Dame vorbeizugehen, jedesmal bei der nächsten Laterne umwendend; sie drehen sich wohl auch mit scharfer Wendung herum, um ihr nachzusehen, wenn sie an ihr vorbei sind. Dies alles sind Ungezogenheiten, die man unterlassen muß, will man in besseren Kreisen verkehren. Diese Art, den Damen zu huldigen, kann sehr oft die Unrichtige treffen, ja Herren haben sich selbst durch solche Ungehörigkeiten Damen gegenüber, die sie nicht kannten, und die sich später als Gattin oder Tochter von Vorgesetzten entpuppten, aus[296] der Gesellschaft verbannt. Will ein Herr durchaus einer Dame nochmals begegnen, so gehe er auf der andern Seite der Straße wieder an ihr vorbei. Mehr zu thun, hieße sie und sich selbst kompromittieren.

Was thut aber nun eine Dame solchem auffälligen Benehmen der Herren gegenüber? Sie ignoriert es vollkommen, sie gönnt ihnen keinen Blick, betrachtet sie als Luft. Werden ihr die Zudringlichkeiten zu arg, so tritt sie in einen Laden und hält sich dort, mit einem kleinen Einkauf beschäftigt, so lange auf, bis sie annehmen kann, daß der lästige Mensch die Geduld verloren hat. Spricht er sie aber gar an, so schweigt sie völlig still. Eine Antwort zu geben, hieße dem Frechen viel zu viel Ehre anthun. Sie wird sich eine vorbeifahrende Droschke herbeiwinken, oder begegnet ihr ein ihr bekannter Herr, so wird sie ihn bitten, sie vor dem Aufdringlichen zu schützen. Jeder Herr unterzieht sich willig einem solchen Ritterdienste und begleitet die Dame alsdann je nach ihrem Wunsch zu ihrem Ziel, der Pferdebahn oder nach Hause. Der Dank der Dame sei in diesem Fall nicht zu überschwänglich, denn es war die Pflicht des Herrn, und er würde diesen Dienst jeder Dame erweisen, die ihn darum anspricht, aber freundlich würde es sein, wenn der Vater, Mann oder Bruder der Betreffenden dem Herrn gelegentlich ein paar dankende Worte sagen würde.

Damen sollten nie abends allein ausgehen. Junge Mädchen dürfen in großen Städten auch am Tage keine größeren Wege allein machen. Sind sie genötigt, einmal ausnahmsweise ohne Begleitung zu gehen, so sollten[297] sie ruhig, ohne ihre Augen viel herumschweifen zu lassen, und ohne vor Schaufenstern stehen zu bleiben, ihren Weg fortsetzen. Wer nicht auffallen will, fällt auch selten auf, und einer Dame, die sich bescheiden bewegt, wird kaum eine Zudringlichkeit passieren.

Es beginnt zu regnen. Du hast doch einen Schirm? Wir wollen gleich ins Café Bauer gehen. Warte nur einen Augenblick, bei Regenwetter giebt es noch allerhand interessante Studien zu machen. Beobachte z.B. diesen Herrn, der die Dame mit seinem Schirm zu beschützen vermeint, in Wahrheit aber stößt er beständig mit dem Schirmstock an ihren Kopf und Hut, und kleine Regenbäche rieseln auf ihre Schultern. Wer einen andern mit unter den Schirm nimmt, muß zu allererst darauf bedacht sein, ihn besser zu schützen wie sich selbst.

Hier die Dame hält ihren Schirm so schräg, daß das abfließende Wasser auf die Vorübergehenden spritzt. Was sehe ich, Fräulein Käthe Rohn ohne Schirm in diesem Unwetter! Komm, da gilt es Ritterpflicht zu üben. (Mit abgezogenem Hut herantretend): »Mein gnädiges Fräulein, erlauben Sie mir, Ihnen meinen Schirm anzubieten? Sie berauben mich durchaus nicht, hier mein Freund wird mich mit unter seinen Schirm nehmen.« – »Vielen Dank, mein Herr, Sie erhalten den Schirm noch heute zurück.« – »Kommen Sie gut nach Hause, gnädiges Fräulein!« (Verbeugung, Lüften des Hutes.) So, da wären wir artig gewesen! Schade übrigens, daß du eben bei mir warst. Wäre ich allein gewesen, so hätte ich die Wahl gehabt, Fräulein Käthe entweder meinen Schirm abzutreten oder sie um Erlaubnis zu[298] bitten, sie mit meinem Schirm begleiten zu dürfen. Na, weißt du, das Letztere wäre doch eigentlich reizend gewesen! Ereifere dich doch nicht so, ich meinte es ja nicht schlimm, ich bin ja auch gern mit dir zusammen! Die Perspektive dieses Ganges unter dem Regendach war nur zu entzückend. Doch hier sind wir zur Stelle, ein wahres Glück bei dieser Sintflut!

Bitte, willst du nicht zuerst eintreten? Bitte, kein gegenseitiges Komplimentieren, mein Lieber! Hält dir jemand die Thür offen, so gehe schnell mit einem dankenden Neigen des Kopfes hindurch, halte den andern nicht auf durch die Bitte, er solle vorgehen. Mit Recht erscheinen uns diese lächerlichen Bekomplimentierungsmanöver als dankbarer Lustspielstoff. Deine Pflicht wiederum aber ist es, Damen sowie Höherstehenden die Thür zu öffnen und sie zuerst eintreten zu lassen.[299]

Quelle:
Wedell, J. von: Wie soll ich mich benehmen? Stuttgart 4[o.J.], S. 290-300.
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