Im Theater.

[310] Der Stock des Kapellmeisters klopft ein-, zwei-, dreimal auf das Pult. In herrlichen breiten Accorden fluten die Töne der Ouvertüre durch das andächtig lauschende Haus. Behaglich lehnt sich Ingenieur Herbert in den Fauteuil der Loge zurück und lauscht andachtsvoll den wunderbaren Klängen. Da knarrt die Logenthür, tastend klirrt die mit einem Armband geschmückte Hand gegen eine Stuhllehne, und ein Fauteuil wird vorgeschoben. Unwillig ob der Störung wendet Herbert den Kopf. »Welche Rücksichtslosigkeit liegt in diesem Zuspätkommen!« denkt er. »Wenn die Leute selbst kein Interesse an dieser Schöpfung eines gottbegnadeten Musikers haben, so brauchen sie doch andere nicht zu stören,« und den Unmut abschüttelnd, sucht er sich von neuem in die Tongedanken zu versenken, aber es ist unmöglich. Die Eintretenden, zwei Damen, setzen sich mit vielem Geräusch; das Knistern des Gewandes, das Zurechtrücken des Stuhles tönt mitten in das zarte Adagio hinein. Aber damit nicht genug. Die ältere der[310] Damen flüstert vernehmlich: »Siehst Du drüben H.'s?« »Nein! Gieb mir doch einmal das Glas!« und auf die zurückgeflüsterte Antwort: »Warte bis hernach!« ertönt ein energisches »So gieb doch!«

Herberts Genuß ist zerstört. Wenn auch sonst Ruhe im Hause herrscht, da während der Ouvertüre niemand eingelassen werden darf (unsere beiden Damen verführten die Logenschließerin, wie wir sehen, also zum Ungehorsam), so stört ihn doch das unterdrückte Geflüster, das geräuschvolle Umschlagen der Partitur, die Bewegungen seiner Nachbarinnen.

Als die Ouvertüre verrauscht ist und es hell wird, erkennt Herbert in der Dame, die hinter ihm sitzt, eine Bekannte. Sofort erinnert er sich seiner Höflichkeitspflicht. Er erhebt sich und spricht während einer Verbeugung gegen die Dame: »Guten Abend, gnädige Frau! Wollen Sie nicht meinen Vorderplatz einnehmen?« – »Danke, sehr gern!« erwidert die Dame mit verbindlichem Gruß und tauscht den Sitz. Ihre Begleiterin, die auf einen Augenblick die Loge verlassen hatte, kehrt in diesem Augenblick zurück. Herbert springt freudig erstaunt auf – es ist Käthe.

»Welche Ueberraschung, mein gnädiges Fräulein! Ich erkannte Sie vorhin gar nicht.«

»Guten Abend, Herr Herbert,« sagt Käthe und wird ein wenig rot, als sie den Ausdruck der Freude in Herberts Gesicht gewahrt. Da der andere Vorderplatz besetzt ist, so kommt Herbert neben Käthe zu sitzen.

»Haben Sie die Sängerin S. schon gehört?« leitet er das Gespräch ein. »Nein? O, dann steht Ihnen[311] in der That ein Genuß bevor!« und sich an Käthes Freundin, Frau von Sanden, wendend: »Aber gnädige Frau kennen sie bereits aus Breslau?« – Sein Zorn über die Störung von vorhin hat längst einem Gefühl warmer Freude Platz gemacht, und er bemüht sich die Damen gut zu unterhalten, bis das Aufgehen des Vorhanges der Plauderei ein Ende macht.

Nun hat er Muße, die beiden Damen zu vergleichen. Frau von Sanden läßt das Opernglas nicht von den Augen, auch in der kurzen Pause vorhin nicht, sie mustert eingehend das Publikum. Wie wenig passend ist dies doch für eine Dame! Wenn die Herren sich den Gebrauch des Opernglases gestatten, um nach Bekannten (oder nach einem hübschen Gesicht!) auszuschauen, so läßt sich dies allenfalls verteidigen, aber bei einer Dame wirkt dies immer herausfordernd. Er freut sich, daß Käthe es nicht thut. Sie sitzt voller Anteil und Interesse da und giebt sich ganz dem herrlichen Tonwerk hin. »So ist's recht!« denkt er unwillkürlich, »kein Zersplittern des Interesses durch den Gedanken: Wie sehe ich aus? Wer sitzt mir gegenüber? Wer mag das sein?«

Im Zwischenakt bietet er den Damen seine Begleitung zum Büffet an. Die Damen wollen aber nichts genießen, haben Bekannte in einer gegenüberliegenden Loge entdeckt und wünschen sie zu begrüßen. So bleibt Herbert allein. Er überlegt, daß die Frau Professor R. in der Nebenloge wohl verlangen könnte, daß er sie in ihrer Loge aufsucht, und die That dem Gedanken folgen lassend, läßt er sich die Logenthür[312] öffnen. Er hat den Hut in der Hand und verbeugt sich vor der alten Dame: »Darf ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen? Ich hörte, daß Sie leidend waren, gnädige Frau!« »Ja, ein wenig, Herr Herbert, Sie wissen, das Alter.«

»Das aber bei Ihnen noch nicht zu Worte kommen darf, meine gnädige Frau!« Und die Lehne des Fauteuil hinter der Frau Professor ergreifend, fragt er: »Wollen Sie mir gestatten, mich einen Augenblick –«

»Bitte,« unterbricht sie ihn mit einer einladenden Handbewegung, »ich freue mich, wenn Sie mir ein wenig Gesellschaft leisten wollen.«

Er weiß, er ist der Dame willkommen; hat sie ihm doch ihr Interesse des öftern bewiesen. Bei einer ihm fremderen Dame würde er die Aufforderung sich zu setzen abgewartet haben. Damen müssen stets vorsichtig mit dieser Einladung sein. Sie müssen zu unterscheiden wissen, ob der Herr sie nur der Form halber begrüßt, oder ob er sich wirklich gern mit ihnen unterhalten möchte. Der Herr, der wider seinen Willen festgehalten wird, wird der betreffenden Dame wenig gewogen sein. Andernfalls kann man durch das Nichtaussprechen einer Aufforderung, die der andere erwartet, ernstlich verletzen und eine Annäherung verscheuchen, von der man vielleicht viel Genuß hätte haben können.

Bei dem ersten Zeichen, daß der Zwischenakt vorbei, verabschiedet sich Herbert mit der Bitte: »Darf ich um eine Empfehlung an Ihren Herrn Gemahl bitten?« und eilt, den benützten Platz seinem rechtmäßigen Besitzer wieder frei zu machen.[313]

Wie er das Foyer passiert, tönen ihm lebhafte Kritiken entgegen: »Wundervoll ist die heutige Oper,« sagt mit überlegener Miene eine junge Blondine, »einfach grandios, diese Exposition der Handlung, diese Seelenmalerei in der Musik!« Und der Herr neben ihr sucht sie zu übertönen mit seinem: »Dürftig ist die Handlung, einfach, unvernünftig einfach, und die S. hat heute ihren schlechten Tag.«

Wie wenig angenehm berühren so selbstbewußte Urteile! Derjenige, der es besser versteht, ärgert sich über die dreiste Kritik. Wer kein eigenes Urteil hat, betet solche Zwischenaktskritik nach. So wirkt sie nicht nur ärgerlich, nein, auch verderblich. Man soll sich jederzeit vor vorschnellem Urteil hüten. Besonders jüngere Leute denn die Weisheit des Alters ist gemäßigter und gerechter fallen mit solcher Kritik unangenehm auf. Wie viel angenehmer berührten ihn Käthes bescheidene Worte: »Ich darf mir eigentlich kein Urteil erlauben, da ich nicht genügend musikalisch bin, aber die S. singt nach meinem Empfinden sehr schön!«

Der vorletzte Akt ist zu Ende. Lauter Beifallssturm durchbraust das Theater. Auch Herbert hat seinen Beifall durch Händeklatschen ausgedrückt. Nun sieht er sich nach Käthe um. Sie hat ebenfalls die Bewegung des Klatschens gemacht, wenn auch weniger laut, mehr markiert als hörbar. Warum soll eine Dame nicht auch ihren Beifall äußern können? Das Beifallklatschen ist der Dank des Publikums an die Künstler. Soll sie nicht danken dürfen? Selbstverständlich beginnt eine Dame nicht damit, wie sie eben[314] alles Auffallende vermeidet. In Gegenwart regierender Fürstlichkeiten darf nicht geklatscht werden, es sei denn, diese gäben selbst das Zeichen dazu.

Die Oper naht dem Ende. In tiefstem Schmerz kniet die Heldin an dem Sterbelager des zum Tode Verwundeten.

Knarrend klappen die Sitze des Parketts auf. Das Publikum drängt zum Aufbruch. Stühle rutschen in den Logen, leises und doch so hörbares Rauschen von Damenkleidern, das Rascheln des Zettels, den flinke Hände zusammenfalten, das Oeffnen der Logenthür und durch die halbgeöffnete Thür das laute Rufen und Suchen nach den Garderobestücken.

O undankbares Theaterpublikum! Lernst du nie Rücksicht für die Künstler, die ihr bestes Können für dich einsetzen, die dein störender Aufbruch in den erhabensten Momenten nicht nur verwirren, nein, tief verletzen muß? Und wie störend berührt erst das verfrühte Aufbrechen denjenigen, der mit voller Seele den Vorgängen auf der Bühne sein Interesse schenkt. Ihm wird der Schluß, die Harmonie des Endes, das Ausklingen des gewaltigen Stückes grausam gestört.

Käthe wie ihre Begleiterin und Herbert harren als Musikfreunde bis zum Schluß aus. Herbert hilft den Damen in den Mantel und bahnt ihnen den Weg durch die menschenerfüllten Korridore und das Treppenhaus.

Er schwankt währenddessen, ob er den Damen seine Begleitung anbieten darf oder nicht. Da er ja aber im Hause von Käthes Mutter verkehrt und ihre Begleiterin kennt, kommt es ihm ganz erlaubt vor, zu[315] fragen: »Gestatten die Damen, daß ich mich auf dem Nachhauseweg anschließe?« Käthe freut sich im Innern sehr und fürchtet nur, daß Frau von Sanden die Bitte abschlagen könnte. Frau von Sanden jedoch sagt freundlich: »Gewiß, gern, Herr Herbert! und Herbert tritt auf die linke Seite der Damen.«

So genießt er den Vorzug, vereint mit Frau von Sanden Käthe bis an ihre Hausthüre zu bringen. Als artiger Mann will er nun auch Frau von Sanden nach Hause geleiten, jedoch diese lehnt seine Begleitung liebenswürdig ab mit den Worten: »Ich benutze jetzt die elektrische Bahn, die mich direkt vor mein Haus bringt.« Herbert hilft ihr noch einsteigen, ein höflicher Gruß von beiden Seiten, und Herbert schlägt, sich eine Cigarre anzündend, den Weg nach seiner Junggesellenwohnung ein. Daß er von dem heutigen Abend voll befriedigt ist, dürfen wir wohl annehmen.

Du wirst nun fragen, liebe Leserin, was soll ich thun, wenn mir ein Herr seine Begleitung anbietet und ich sie nicht annehmen mag?

Bist du allein im Theater, so wird kein Herr von guter Erziehung sich erlauben, dir mit solcher Frage zu nahen. Eine Ausnahme wäre, wenn die zu deiner Abholung bestimmte Persönlichkeit nicht käme. Alsdann ist es die Pflicht eines dir bekannten Herrn zu fragen, ob er dir einen Wagen besorgen oder dich nach Hause bringen dürfe. Passiert es dir jedoch, daß ein Herr dir ohne diesen triftigen Grund sein Geleit anträgt, so dankst du sehr reserviert mit den Worten: »Danke, ich werde abgeholt.«[316]

Zum Schluß möchten wir noch die Warnung aussprechen, junge Mädchen nicht in Stücke voll französischer Zweideutigkeit zu führen. Eltern, welche im übrigen ihre Töchter vorzüglich erziehen, ja ihre Lektüre peinlich überwachen, lassen sie ohne Bedenken in Stücke gehen, die sich für junge Mädchen absolut nicht eignen. Ein junges Mädchen sollte auch nie in Premieren eines unbekannten Stückes geführt werden. Die seine Sitte urteilt sehr streng über solchen allzu liberalen Theaterbesuch.[317]

Quelle:
Wedell, J. von: Wie soll ich mich benehmen? Stuttgart 4[o.J.], S. 310-318.
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